Unsere Welt am Abgrund? Die Menschheit lebt, als ob es Gott nicht gäbe. Der Theologe und Philosoph Helmut Müller zieht einen Spannungsbogen von der Weisheit Gottes zur Klugheit des Menschen und zurück. Ausgehend von dem Gedanken, dass Weisheit bereits vor dem Menschen da gewesen sein muss, skizziert er in einer Art Zeitreise etwa die Weisheit Israels, den Weisheitsbegriff verschiedenster Philosophen, Religionen sowie der säkularen Gesellschaft. Dies bis zu dem Punkt, an dem die heutige Welt vor lauter Selbstaufklärung ins Ich zu stürzen droht, weil alles nur noch auf Gefühl basiert. Dem entgegen setzt der Autor die Rückbesinnung auf die Weisheit Gottes, die  Theologie des Leibes sowie einen Neuen Anfang als Lösungsvorschlag, bevor die Welt an der nächsten bereits gezündeten Stufe der Künstlichen Intelligenz (KI) zu zerschellen droht.

Wir laden wieder ein zu einer Reise durch die Zeit. Dieses Mal per Anhalter durch die Geschichte Gottes mit den Menschen. Wie kam es eigentlich von der Weisheit der Welt zur Selbstoffenbarung Gottes und schließlich zur Selbstaufklärung des Menschen? Gott hat auch bei einigen Theologen mittlerweile den Kürzeren gezogen, wenn sie nur noch begriffsgeschichtlich von ihm reden und einige sich sogar dezidiert einer Theologie der Offenbarung verschließen. Die Theologie des Leibes von Johannes Paul II. wirkt dagegen wie ein Meteoriteneinschlag in eine sich auf der Höhe der Zeit wähnende, offenbarungsflüchtige Theologie der Gegenwart. Johannes Pauls Theologie lebt dagegen ganz aus der Mitte der Zeit, in der die Weisheit Gottes nach langer Kulturgeschichte im Schoß einer Menschenfrau förmlich zur sedes sapientiae – zum Sitz der Weisheit geworden ist. Dem zur blassen Begrifflichkeit gewordenen Gott, einer sich dezidiert auf Autonomie berufenden Theologie, wird ihre buchstäbliche Verleiblichung entgegen gehalten.

Vom gläubigen Vertrauen auf Gott zur puren Anstrengung der Vernunft

Seit es Menschen gibt suchen sie nach Orientierung, am Sternenhimmel, in Naturabläufen, bei Gott und Göttern. Die drei großen Offenbarungsreligionen der Menschheit Judentum, Christentum und Islam glauben, dass Gott selber Orientierung geschenkt hat. Mit diesem Glauben an einen sich offenbarenden Gott ist immer auch schon die diese Offenbarung vernehmende Vernunft aufgerufen als hörende und verstehende. Schlussendlich wird sogar ein Gehorsam einfordernder Glaube aufgerufen. Gott wird als sich Offenbarender:

  • vom Judentum in seinem Handeln in der Geschichte (Intemporation) erfahren,
  • im Christentum sogar in dieser Geschichte Gestalt annehmend und Mensch werdend (Inkarnation) geglaubt und schließlich
  • im Islam sich in einer Buchwerdung offenbarend im Koran (Inlibration) wahrgenommen.

Dabei ergeben die miteinander differierenden Auffassungen von Offenbarung ein überaus unterschiedliches Zusammenspiel oder auch eine Auseinandersetzung von Glaube, Vernunft und Gehorsam. Mit entsprechenden Gebets- und Opferriten haben Menschen von Anfang an versucht, den hinter den Schicksalsmächten verborgenen Gott angerufen, durch Flehen und Bitten diesen Mächten Einhalt zu gebieten oder den dahinter agierenden Gott gar durch Opfer zu besänftigen.

Seit Beginn der Neuzeit und dem immer größer werdenden Verstehen von Naturvorgängen, wird Orientierung immer weniger in einer Verbindung mit Gott oder einem gläubigen Hören und Vernehmen gesucht, sondern Orientierungssuche viel mehr auf eine bloße Anstrengung der Vernunft beschränkt. Kant hat dies in einem regelrechten Epochenschnitt auf den Begriff gebracht:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

In Kants Nachfolge ist mit dem „Anderen“ auch Gott gemeint gewesen. Dietrich Bonhoeffer charakterisierte mit dem Ausspruch etsi deus non dareturals ob es Gott nicht gäbe – diese Epoche des Denkens. Damit ist ein hypothetisches Prüfen, rationales Entwerfen und autonomes voluntaristisches Bestimmen gemeint, ohne Rückgriff auf einen Gott.

Ausgangspunkt: „Ehe die Menschen lernten, Gedanken zu produzieren, kamen die Gedanken zu ihnen“ (C. G. Jung)

Mittlerweile geben die Paläoanthropologen in Zusammenarbeit mit den Evolutionsbiologen neue Kriterien für das Erscheinen des „ersten Adam“ an. Sie können als erstes Datum nur eine Geburt angeben, nicht den Tag seines Geschaffenseins. Eigentlich muss dafür aber an der „ersten Eva“  Maßstab genommen werden: Die Enge des Beckens der „Urfrau“ und die Größe des Kopfes der ersten Kinder führen zum Geburtsschmerz, der ein Novum der ersten Adamiten ist, wer auch immer das paläoanthropologisch gewesen sein mag.

Der unbekannte Autor von Genesis 3 muss ein genauer Beobachter gewesen sein, denn er liegt richtig,  wenn er den Geburtsschmerz der ersten Eva an den Anfang der Menschheitsgeschichte legt: „Viele Mühsal will ich dir bereiten, wenn du Mutter wirst. Mit Schmerzen wirst du Kinder gebären.“ (Gen 3,16). Die Größe unseres Kopfes weist zum anderen darauf hin, dass der erste Adam und die erste Eva zu einer Bewusstseinsweite fähig waren, die alles andere vor ihnen übertroffen hat. Der Mensch war also reif für das, was C. G. Jung  von ihm gesagt haben soll: „Ehe die Menschen lernten, Gedanken zu produzieren, kamen die Gedanken zu ihnen“.

Allerdings hat es nach dem amerikanischen Exobiologen und Bestsellerautor Carl Sagan schon einige hundert Millionen Jahre vor uns ein Reptil gegeben, das erstmals mehr Information in seinem Gehirn als in seinem Genom vorweisen konnte. Damit wird deutlich, dass nicht bloß die unserer Vernunft zugängliche Information gemeint ist, die in unserem Genom und im Gehirn steckt, noch die 95 Prozent unserer unbewussten Hirntätigkeit und auch nicht die übrige – wie C. G. Jung andeutet – 5 Prozent Gedankentätigkeit, die wir selbst produzieren. Nein, gemeint sind „Gedanken“ in Form von Weisheit, die eigentlich nicht unsere ist (!).

Dreifache Weisheit: Werk, Wort und der Weise selbst

Das sieht der emeritierte Berliner Wissenschaftstheoretiker Holm Tetens ähnlich und zwar kosmisch, wenn er sinngemäß sagt: Wenn es nicht schon vor dem Urknall Gedanken (Bewusstsein) gegeben hat und erst danach, können wir jede Hoffnung fahren lassen. Diese Gedanken, die erstmals in den Schriften des alten Testamentes in einem ursprünglichen Zusammenspiel von Glauben und Vernunft als Weisheit (sophia) in unserem Kulturkreis bezeichnet werden, könnte man modern gesprochen das Genom des Universums nennen.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass dazu auch die Lesbarkeit dieses Genoms gehört, wie etwa das Genom in der Biologie die Weisheit der Zelle braucht, um es ablesen und verwirklichen zu können. Das heißt, diese Weisheit ist eine doppelte: Gedanke und seine Verwirklichung, Werk und Wort (Ergon und Logos,), eigentlich eine Dreifache: Der Weise dieser Weisheit muss hinzu gezählt werden. Den nennen alle Gott und bekennen ihn als allwissend und allmächtig. Im Buch der Sprüche (8, 22-31) liest sich das so:

Die Gedanken, die zu Israel kamen

 „Am Anfang hat der Herr mich [die Weisheit] geschaffen, ich war sein erstes Werk vor allen anderen. In grauer Vorzeit hat er mich gemacht, am Anfang, vor Beginn der Welt. Als ich geboren wurde, gab es noch kein Meer und keine Quelle brach aus der Tiefe hervor. Der Grund der Berge war noch nicht gelegt, die Hügel waren noch nicht entstanden. Gott hatte noch nicht die Erde gemacht, vom festen Land und seinen Feldern war noch nicht das Geringste zu sehen. Ich war dabei, als er den Himmel wölbte und den Kreis des Horizonts festlegte über den Tiefen des Ozeans, als er die Wolken hoch oben zusammenzog und die Quellen aus der Tiefe sprudeln ließ, als er dem Meer die Grenze bestimmte, die seine Fluten nicht überschreiten dürfen, als er die Fundamente der Erde abmaß – da war ich als Kind an seiner Seite, ich freute mich an jedem Tag und spielte unter seinen Augen. Ich spielte auf dem weiten Rund der Erde und hatte meine Freude an den Menschen.“

Diese Weisheit wurde Israel zuteil: Die Welt – das Werk (ergon) – in der Israel lebte samt Gebrauchsanweisung (Wort, Logos) derselben und Nennung von Urheber und Autor war der Inhalt dieser Weisheit. So präsentierten sich die „Gedanken, die zu ihnen kamen“ in der Weisheit Israels. Israel glaubte unter allen Völkern der einzige „Hörer“ dieser Weisheit zu sein. Rémi Brague hat diese Gedanken, die zu uns kamen in seinem Buch Weisheit der Welt bis in unsere heutige Zeit in ihrer Wirkungsgeschichte enthüllt und weiterentwickelt für den Raum, in den das Christentum ursprünglich hineingewachsen ist.

I. Haltepunkt: Intemporation – „Höre Israel“ („šma‘ yiśra’el“)

Es ist schwer zu sagen, ab wann sich Israel so als hörend begriffen hat wie es in seinem ursprünglichen Glaubensbekenntnis dem šma‘ yiśra’el, „Höre Israel“ jedem gläubigen Juden abverlangt wird. Es gilt als ältester Ausdruck jüdischen Selbstverständnisses: Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig“ (Dtn 6,4–9). Das alles ist aber schon eine Antwort und eine so begriffene Aufforderung auf ein diesem vorgängigen Handeln seines Gottes Jahwe. Vermutlich steht auf diese Aufforderung zu Hören und das Bekenntnis zu dieser Aufforderung eine ursprüngliche Befreiungserfahrung des Volkes aus erlittener Not. Das heißt, Israel glaubt an ein reales, historisch bestimmbares Ereignis und gibt es auch an: Die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens. Viele Alttestamentler glauben, dass die erste Antwort Israels auf diese befreiende Erfahrung das Meerlied der Schwester Aarons, Mirjam gewesen ist: „Singt Jahwe ein Lied, denn hoch erhaben erwies er sich, Ross und seinen Reiter warf er ins Meer“ (Ex 15,20).

Der Glaube an diesen Eingriff Jahwes aus seiner Ewigkeit in die Zeit, prägt den Glauben Israels und macht Israel zu einem Hörenden auf das Wort Gottes, das sich als Weisung, Orientierung, Ermahnung, Führung, Anspruch, Zuspruch und Verheißung in einer Bundespartnerschaft zwischen Jahwe und Israel erfahren lässt und in einen Dialog von Huld und Treue gebettet ist: „Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich.“ (Psalm 85,11). In diesem Dialog gewährt Jahwe Huld (Gnade), die Antwort des Volkes Israel sollte Treue (Gehorsam) sein, dann kehrt Gerechtigkeit und Friede ein.[1]

II. Haltepunkt: Inkarnation – „Sehen und Hören“

Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg, 4,20), antworteten Petrus und Johannes vor der jüdischen Obrigkeit, die verbergen wollte, dass zum Hören des Heils nun sogar ein Sehen desselben dazu gekommen ist, in der Heilung des Gelähmten vor der schönen Pforte des Tempels (Apg 3): In der Apostelgeschichte heißt es, dass alles Drohen die Apostel vom Reden nicht abhalten konnte und sie sie gehen lassen mussten: „…denn sie sahen keine Möglichkeit, sie zu bestrafen, mit Rücksicht auf das Volk, da alle Gott wegen des Geschehenen [Gesehenen(!)] priesen.“ (Apg 4, 21) Ganz wenigen ist überhaupt klar gewesen, dass hier nicht bloß ein begrenztes historisches Eingreifen Gottes gemeint war, etwa eine Befreiung von der römischen Herrschaft, vergleichbar mit der zentralen Befreiungserfahrung Israels aus der Knechtschaft der Ägypter, sondern – man kann es nicht anders sagen – ein kosmisches Geschehen – Raum und Zeit umfassend – ist wirklich geworden.

Das Wort kann gesehen werden

Im Prolog des Johannesevangeliums ist lapidar festgehalten worden, dass der Logos in der Weise der Sophia, von der im Alten Testament die Rede gewesen ist, im Schoß einer Jungfrau Fleisch geworden ist. Gläubige Christen erinnern sich drei Mal am Tag daran im Angelus, dass das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. Einer von vielen Ehrentiteln Marias lautet sedes sapientiae – Sitz der Weisheit. Seit der Gründung der ersten Universität im christlichen Abendland in Bologna, tragen  viele Universitäten – alma mater – Jungfrau Mutter genannt, dieses Bild in ihrem Universitätssiegel. Leider verschwindet es immer mehr als Emblem an den Universitäten.

Aber in Christus ist die Weisheit in Wort und Werk verkörpert, so wie Paulus im Kolosserbrief schreibt: Christus ist „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.  … alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1, 12–20). Bricht man nun Christus aus dieser Weisheit heraus, wie das jetzt an immer mehr Universitäten, nicht nur im Siegel üblich ist, bleibt nur noch zeitgenössische Klugheit übrig, die sich unseren eigenen Erkenntnisbemühungen verdankt. Bevor es im Raum des christlichen Abendlandes so weit gekommen ist, muss noch eine dritte Form der Gedanken, die zu uns gekommen sind erwähnt werden.

III. Haltepunkt: Inlibration – „Lies!“ („iqra!“)

„Iqra!“ – „Lies! waren die Worte des Engels Gabriel an den Propheten Mohammed. Der Engel nötigte ihn regelrecht, das zu rezitieren, was er ihm befahl. In der christlichen Tradition hatte „derselbe“ Engel die Maria nicht genötigt, sondern gefragt, ob sie bereit sei, dass in ihrem Schoß das ewige Wort Fleisch annehmen dürfe. Ohne sich heftig zu wehren wie Mohammed, sagte sie nach kritischem Überlegen: Ja, mir geschehe wie du gesagt. Die Nötigung im Islam sollte allerdings so verstanden werden, dass der Prophet sich nicht selbst als Autor zitiert, sondern rezitiert, was Gott – nach dem Glauben der Muslime – befiehlt. Auch Muslime glauben, dass es sich nicht um eine Gedankenproduktion von Menschen handelt, sondern dass auch sie der Auffassung C. G. Jungs zustimmen würden, dass die „Gedanken zu ihnen gekommen sind.“

Wörter, die nur gelesen werden können

Nach dieser Nötigung des Engels im Koran, ist dort zur Weisheit zu lesen: „Er gibt die Weisheit, wem er will, und wem da Weisheit gegeben wurde, dem wurde hohes Gut gegeben; doch niemand bedenkt dies außer denjenigen, die Verstand haben.“ (Sure 2, Vers 269) Säkulare Muslime haben offenbar die gleichen Probleme wie säkulare Christen, wenn man dem Osnabrücker Islamwissenschaftler Bülent Uçar glauben mag:

„Die Muslime unserer Zeit sind geneigt, ihre persönlichen Vorstellungen von Gut und Böse als maßgeblich zu sehen. Sie verabsolutieren gerne ihre eigenen Erfahrungen als verbindliche Größen für Wertefragen und Glaubensangelegenheiten wie auch für die konkrete Lebenspraxis.“

Für den gläubigen Muslim ist das Maß seines Verhaltens aber der Koran, die Sunna und der menschliche Verstand. Während Weisheit im Christentum in der wahren Gottes- und Menschennatur Christi verkörpert ist und unserer Menschennatur in Glaube und Vernunft zugänglich ist, misst der aufgeklärte Islam seine Weisheit wie oben angegeben an der kanonischen Übersetzung des Kalifen Osman.

Während der Koran also die Buch gewordene ursprüngliche Quelle muslimisch verstandener Weisheit ist (Inlibration, H. A. Wolfson) , ist die christliche Bibel dagegen Zeugnis der Mensch  gewordenen göttlichen Weisheit. (Fleisch, nicht bloß Geist!)

Endpunkt: Die Produzierung der Gedanken – Von der Weisheit der Welt zu ihrer Einkerkerung im Ich

„Was heißt es, dass wir heute in einem säkularen Zeitalter leben? Was ist geschehen zwischen 1500 – als Gott noch seinen festen Platz im naturwissenschaftlichen Kosmos, im gesellschaftlichen Gefüge und im Alltag der Menschen hatte – und heute, da der Glaube an Gott, jedenfalls in der westlichen Welt, nur noch eine Option unter vielen ist?“

So heißt es im Vorspann zu Charles Taylors Buch Ein säkulares Zeitalter:  Was hat Gott aus der Mitte gedrängt? (Vgl. ebenda 417f). Kommen die Gedanken noch weiter zu uns? Es ist da vieles zu sagen, vielleicht markiert Descartes am eindrücklichsten den Wendepunkt. Er gelobte der Gottesmutter – noch ganz dem Denken der Welt verhaftet, in der die Gedanken zu uns kommen – eine Wallfahrt nach Loretto, wenn sie ihm sein Vorhaben gelingen lasse, eine neue Bahn in der Philosophie zu schaffen. Diese neue Bahn führte dann zu einer kopernikanischen Wende in der Philosophiegeschichte.

IV. Haltepunkt: Cogitation „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“

Die kosmischen, metaphysischen oder theologischen Ansätze – in denen die Philosophie die Magd der Theologie gewesen ist – kippen in die Vernunft, den Willen oder das Gefühl des nach Erkenntnis oder Handeln strebenden Ich-Subjekts. Das hat einerseits einen Erkenntnispessimismus zur Folge: Aus der sicheren Ich-Basis „blickt“ das Ich in eine zweifelhaft gewordene Welt.

Andererseits hat dieses auf Ich denke, ich will und ich fühle sich vergewissernde Ich bin (sum) einen Vernunft- Willens- oder Gefühlsoptimismus zur Folge, banalisiert gesagt: Es ist als „vergingen einem Hören und Sehen“ in Bezug auf die Welt, dafür denkt, will und fühlt man aber richtig:

Damit kippt der platonische Ansatz bei einer übersubjektiven Welt, dem ewig und unveränderlichen, wahrhaft Wirklichen, nicht dem bloßen Scheinbild der Wirklichkeit oder der objektive aristotelische Ansatz bei der Sinneswahrnehmung, komplett in das Subjekt, also in Descartes neue Bahn: Cogito ergo sum – Ich denke also bin ich. Vom Hören und Sehen kommt es zum Denken, Wollen und Fühlen

Der Sturz der Welt ins Ich

Hume und Kant als „Geographen der menschlichen Vernunft“ (KrV B 788) haben den weiteren Weg bestimmt. Im Gefolge dieser Wende treibt Johann Gottlob Fichte das Denken auf die absolute Ichspitze: „Ich will für und durch mich selbst etwas sein und werden“ oder „ich selbst [bin]das letzte […], wo ich jenes Treiben erfasse“ und schließlich „ich bin durchaus mein eignes Geschöpf“, schreibt er.

In der Folge gab es weitere Versenkungen ins „Ich“ von der Vernunft Kants in den Willen Schopenhauers, von da in das Kaleidoskop der Begierde Nietzsches: „Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.“ Hieran knüpft die Lust Foucaults. Die Lektüre des Letzteren hat vermutlich den verstorbenen Freiburger Moraltheologen Eberhard Schockenhoff dazu geführt, seine Kunst zu Lieben kopernikanisch zu wenden: Aus der objektiven Form der Tugend, wie sie die Tradition lehrt, hat er sie herausgelöst und in eine mehr subjektive der Lust hinein gedreht.

Das liebende Aufeinanderzu der Geschlechter im Konzept der Schöpfung hat im Labyrinth der Lust bei Judith Butler letztlich zu einem Gefühl des Unbehagens geführt, so dass aus dem anfänglich kritischen Ansatz Descartes ein unkritischer, auf Gefühlen basierender, bloß deklamatorischer geworden ist, den man nennen könnte: So wie ich mich fühle, bin ich. Das wäre die vorerst letzte Station der Zeitreise beim Absturz ins Ich. Es kommen nämlich keine Gedanken mehr auf uns zu, sondern nur noch Gefühle aus uns heraus.

Norbert Bolz bringt es in seinem neuen Buch auf den Punkt: „Die Wahrheit muss verletzten Gefühlen weichen. Die Welt dreht sich um winzige Minderheiten.“

Das Verblassen Gottes im Denken

Zeitgenössische Philosophien werden immer mehr zu Orientierungsmarkern einer sich nachmetaphysisch bestimmenden Vernunft, oder wer sich an den Humanwissenschaften orientiert, reduziert sich in seiner Hermeneutik allzu oft auf ihren instrumentellen Gebrauch. In einer Linie von Schopenhauer, Nietzsche, Foucault und Butler orientiert man sich nicht einmal mehr an der Vernunft, sondern das Gefühl oder das Begehren wird zum Orientierungsmarker.

Nachmetaphysischer, instrumenteller Gebrauch oder lustvolles Begehren schließen eine Orientierung an der Offenbarung aus: Die Gedanken, die zu uns kamen spielen gar keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle, selbst in manchen Theologien. Die Theologen Georg Essen, Magnus Striet und Saskia Wendel erklären sogar explizit, dass das Design ihrer Theologie sich nicht an der Kategorie der Offenbarung orientiert. Dieses Verblassen Gottes im Denken der Gegenwart hat Peter Sloterdijk sprachgewaltig in seinem Buch „Nach Gott“ auf den Begriff gebracht. Überhaupt seien gar keine Gedanken auf uns zugekommen, wie gewöhnlich hülle er sich in Schweigen.

V. Fünfter Haltepunkt: Neuer Anfang „Amor ergo sum“ – „ich werde geliebt, deshalb bin ich“

Die Reise durch die Geistesgeschichte ist Gott sei Dank beim Absturz ins Ich nicht an ihr Ende gekommen, schon gar nicht hüllt sich Gott in Schweigen. Ab Descartes ist die Weisheit der Welt – Werk und Wort,  ergon und logos, zwar immer mehr auseinander gebrochen, und das Werk kommt nur noch als blasses Schema subjektiven Strebens oder Objekt des Begehrens, je nach Denkansatz, zur Geltung.

Aber Gott hat sich nie in Schweigen gehüllt. Nur der Mensch ist schwerhörig geworden. Es gilt nach wie vor sein Werk zu lesen und auf sein Fleisch gewordenes Wort zu hören. Die Theologie des Leibes fügt wieder beides zusammen. In dieser Theologie gilt: Amor ergo sum. Das ist nicht nur von Gott auf uns zu ausgesagt, sondern unsere Geschlechtsmorphologie weist schon darauf hin: Wir sind als Mann und Frau Aufeinanderzu.

Die Theologie des Leibes: Komplementär und binär

Der Freiburger Theologe Stefan Endriß und der Augsburger Theologe und Publizist Bernhard Meuser haben dieses Lesen und Hören in neueren Veröffentlichungen in beeindruckender Weise beschrieben und verweisen beide auf die Theologie des Leibes von Johannes Paul II.. Diese vereint nach der cartesischen Trennung der Weisheit in Wort und Werk wieder „die Gedanken, die zu uns kamen“ unüberbietbar im „Fleisch (Leib) gewordenen Wort“ und dem Werk sexuell verkörperter Liebe.

Die Gestalt dieses Leibes ist komplementär und binär. Sie ist gekennzeichnet von einer ebensolchen Physiologie des Begehrens. Wenn so geliebt werden würde, wie die Theologie des Leibes lehrt – alle gesellschaftlichen Kontexte und zeitgenössische Kritik beachtend – hätte man ein Vademecum wie hedonē und aretē – Lust und Tugend eine Verbindung eingehen können, die ja von Schockenhoff in seiner Kunst zu lieben geradezu marginalisiert und aufgelöst worden ist. Wie Endriß in seinen Ausführungen schreibt, wird in der Eheschule Johannes Pauls II. gerade das gelehrt, wie hedonē – das Gute, das mir Lust verschafft in die aretē, das Gute, das vollendet ist – wider alle zeitgenössischen Vorurteile – integriert werden kann.

Neu anfangen in der Mitte der Zeit

Der Leib und seine „Sprache“, wie Endriß schreibt, ist die zentrale Kategorie dieses Liebens. Nicht von ungefähr wird der Entwurf sexuellen Liebens von Johannes Paul auch Theologie des Leibes genannt. Der geschlechtliche Körper wird nicht als bloße Lustleiste betätigt, besetzt mit erotischen Buttons, die bei Berührung zur Ekstase führen, wie etwa die Pädagogik der sexuellen Vielfalt von Uwe Sielert und Elisabeth Tuider es lehrt. Der Körper bei Johannes Paul ist vielmehr nicht bloß lustvolle Oberfläche, sondern als Leib auch Tiefe und wird durch Personsein (personare = durchtönen) von Kopf bis Fuß durchdrungen. Die Erfahrung von Lust bleibt dann nicht bloß in einer Gefühlsschicht hängen. Nach Endriß bedeutet Erfahrung von Lust, ein „an den geliebten Menschen [gebunden sein]. Sie [die Lust] will nicht durch irgendeinen austauschbaren Sexualpartner befriedigt werden, sondern sehnt sich nach dem geliebten Menschen.“ (239)

Stefan Endriß gelingt es, den Theologie des Leibes genannten Entwurf sexueller Liebe in die Kontexte heutigen Lebens und Denkens zu verorten. Anthropologische als auch normenethische Begründungsdiskurse fehlen eben so wenig wie Fragen nach der Lebbarkeit des Entwurfs Johannes Pauls II.. Warum also nicht neu anfangen bei der Weisheit Gottes und ihrer Selbstoffenbarung in der Mitte der Zeit, anstatt vom Sturz ins Ich noch weiter in die vermeintlichen „Offenbarungen“ einer künstlichen Intelligenz ins ChatGPT abzustürzen.

[1] Vgl. http://www.regnum-im-netz.de/download/hefte/REGNUM-40-2006-2.pdf: Helmut Müller, Gerechtigkeit – eine Grundkategorie im Liebesbund  zwischen Gott und Mensch, S. 51 – 60.


Dr. phil. Helmut Müller  

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag

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