Das Zentralinstitut für Katholische Theologie (IKT) in Berlin hat mit seinem Direktor Georg Essen am 20. Mai 2022 seine Arbeit im Bistum Berlin aufgenommen. Essen warb zum Antritt für eine katholische Theologie, die „der Gesellschaft zugewandt, weltoffen, sensibel für Kultur, Kunst und Politik“ sein soll. Helmut Müller analysiert, warum in Essens „Theologischer Anthropologie in Pluralität“ gar keine Theologie mehr Platz haben darf.

Ob der Berliner Erzbischof Heiner Koch gewusst hat, welche Laus er sich mit Georg Essen, dem Direktor des Zentralinstituts für katholische Theologie in den Pelz setzen ließ? Jedenfalls hat er das nicht gewusst, übersehen oder einfach hingenommen, als er den Text seiner Begrüßungsrede schrieb mit einem Motto von Kurt Tucholsky aus den 20er Jahren: „Wir anderen – wir suchen auch.“

Während Romano Guardini – dessen Lehrstuhl auch in diesem Institut aufgegangen ist – als Zeitgenosse Tucholskys noch katholische Markierungen setzte, tut Georg Essen dies ganz und gar nicht. Er gehört zu den Anderen und sucht auch dort, wo eben die Anderen suchen und sucht nicht einmal genuin theologisch. Man hat sogar den Eindruck, dass ein Wort, wie das des Psalmisten, (Psalm 119,105) ihm übergriffig erscheint: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“.

Gibt es auf Erden ein Maß?

Die Welt ist ja so komplex, dass das Finden eines Anderen bestenfalls unterkomplex ist, wohl eher aber falsch für mich. Auch eine positive Antwort auf die Frage des Philosophen Werner Marx: „Gibt es auf Erden ein Maß?“ scheint ihm nicht zu passen. Warum? Weil er sich offenbar von niemandem anderen heimleuchten lassen will, als von sich selbst und lieber, wie ein ganzes Jahrhundert, solidarisch im Dunkeln tappen möchte. Ein Maß auf Erden stört einfach, wenn man es nicht selbst gesetzt hat.

Dieser Eindruck drängt sich leider auf, wenn man den Duktus seiner Rede ernst nimmt. Georg Essen referierte zum Thema „Die Ideen von 1776 und 1789, die Theologie der Freiheit – das Projekt der liberalen Moderne.“ Der Vortrag stand unter dem Generalthema Theologische Anthropologie in Pluralität. Dabei grenzte er sich so radikal von jedem theologischen Gedanken ab, sodass sich die Angel, in der sich sein Denken drehte, eigentlich nur noch der moderne Götze der autonomen Selbstbestimmung sein kann.

Der moderne Götze der autonomen Selbstbestimmung

Er ließ sich sogar dazu hinreißen die skandalösen Äußerungen des Moskauer Patriarchen Kyrill, des „metaphysischen Statthalter Putins“, wie er ihn nennt, in derselben Hermeneutik zu verorten wie es Pius VI. zur französischen Revolution in seinem Brève von 1791 tat. Essen wirft der katholischen Kirche vor, dass sie sich nur schwer von dieser Hermeneutik lösen kann. Er spricht vom „restaurativen juste milieu von Flagellantenbischöfen, die wir alle kennen“, von sogenannten „Trojanern“ im Westen in einer hermeneutischen Linie mit dem metaphysischen Statthalter Putins im Osten. (Minute 1.05). Diese etwas dunkle Wortwahl kritisiert im Kontext, dass die katholische Kirche eher eine Ökumene mit der Orthodoxie fördert, als mit Kirchen aus der Reformation.

Flagellantenbischöfe, die sich mit dem Erbsündedogma selbst und andere geißeln?

Flagellantenbischöfe könnten auch einen Sinn ergeben, wenn dieselben das Erbsündedogma aufrechterhalten, mit dem sie die westliche Vernunft geißeln, weil das oben sog. restaurative juste milieu mit der erbsündlichen Verwundung auch die menschliche Vernunft meint. In seinem Furor gegen alles restaurativ Katholische macht er sogar Spuren von diesem Denken in Gaudium et Spes aus, nur weil darin das Wort Demokratie nicht vorkommt. Selbstbestimmung gerät bei ihm zu einer mutigen Rebellion gegen eine weiterhin „theonome Grundierung von Person, Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat“ ohne auch nur zu erwähnen, dass es in dieser Freiheitsgeschichte auch eine negative Wirkungsgeschichte gab. Mit der Erfindung und Anwendung der Guillotine begann diese Freiheitsgeschichte sogar 1789 außerordentlich blutig, man könnte sagen der ersten industriell betriebenen Menschenvernichtung.

Freiheitsgeschichte mit immensen Kollateralschäden

In ganz Frankreich fielen ihr fast 20.000 Menschen zum Opfer. Kein Gedanke daran, dass das Brève von Pius VI. in seiner restriktiven Art unter dieser Rücksicht zu bewerten ist. Essen macht regelrecht Jagd auf alles, was der autonomen Selbstbestimmung im Wege sein könnte: Die „naturrechtliche Grundierung“ in ethischer Normenbegründung „sei nie aufgegeben worden“. Er greift sogar die „Theologie der Gabe“ an, vermutlich deshalb, weil es überhaupt „Vorgaben“ (Natur und Naturrecht sind offensichtlich des Teufels) gibt und diese Theologie so Selbstbestimmung und Autonomie einschränkt.

Wahrscheinlich ist er deshalb so gereizt (er nennt seine Einwendung selbst polemisch), weil das, was es nun einmal gibt, nicht durch irgendein autonomiesensibles Wording vernebelt, eingeschränkt oder einfach unbeachtet wird, von Vertretern der Theologie der Gabe. Und da kommt sogar ein Philosoph daher (Jean Luc Marion) und behauptet auch noch die „freie Gabe“ (damit ist nicht nur Freiheit gemeint, sondern auch eine Richtungskomponente) wäre phänomenologisch wahrnehmbar. Und offenbar das schlimmste: Hinter der Gabe darf ein Geber vermutet werden. Jean Luc Marion sagt das auch unverblümt, vermutlich ist er deshalb auch Ratzinger-Preisträger geworden.

Eine theologische Anthropologie mit maximalem Verzicht auf Theologie

Summa summarum: Essen streicht eigentlich bei seiner „theologischen Anthropologie“ das „theologische“ komplett. Gott wird zum Rad bei dessen Drehung sich nichts mit dreht. Es wird so getan, als wären alle Übel möglich, wenn man nicht das vorgetragene Autonomiekonzept vertritt (Missbrauch, Demokratiedefizit, Verstöße gegen sexuelle Selbstbestimmung usw.).

Dabei wird übersehen, dass mit Gott im Mittelpunkt des Denkens natürlich auch alle Verstöße gegen Menschlichkeit offensichtlich werden. Denkgeschichtlich gewinnt man den Eindruck mit dem Gottesgedanken hat man im Laufe der Geschichte ethische Kriterien gewonnen. Jetzt kann man den Gottesgedanken ignorieren, da man jetzt selbst die Fähigkeit erworben hat, ethische Begriffe zu bilden. Die Folgen sind bekannt. Theonom wird gegenüber autonom sogar als übergriffiger Begriff verwendet (etwa 49′). Berechtigte Kritik an Defiziten kirchlicher Rezeption von Demokratie- und Freiheitsverständnis wird überhaupt nicht nach Kriterien bewertet, die auch wirkungsgeschichtlich zu beachten sind. Negative Folgen des modernen Freiheits- und Demokratieverständnisses werden komplett ausgeblendet, für Georg Essen aber peinlich in der nachfolgenden Diskussion von einer Teilnehmerin thematisiert.

Sympathie für Franziskus, den „nicht theoriestärksten unter den Päpsten“

Angesprochen darauf, weshalb er nur Johannes Paul und Benedikt angreife, gibt er kleinlaut zu, dass ihm Franziskus zwar sympathisch sei aber „nicht der Theoriestärkste unter den Päpsten“ wäre. Gerade deshalb scheint er ihm aber sympathisch zu sein, da man daher keine Einreden zu befürchten hätte.

Normalerweise lebt eine theologische Anthropologie von dem Satz. Gott schuf den Menschen nach Seinem Bild und Gleichnis. Essen geht offenbar davon aus, dass seine offenbar plurale „theologische“ Anthropologie dem Schnittmuster folgt: der Mensch schuf sich nach seinem Bild und Gleichnis und zwar in individueller Essayistik. Eine Geschichte, für die der Oxforder Philosoph Leszek Kolakowski gerne postum einen antiken Nobelpreis für Literatur verliehen hätte kommt mir in den Sinn, darin enthalten übrigens der erste theonome Orientierungsvorschlag in der wichtigsten Schrift der Menschheit. Es war eine Mininorm (vgl. Gen 3,1 – 8): Von allen Bäumen im Garten durften sie essen, nur von dem in der Mitte nicht. Aber die Verlockung zu werden wie Gott und Gut und Böse zu erkennen, war zu groß. Diese Mininorm sollte offenbar den Menschen vor sich selbst schützen.

Schutz des Menschen vor sich selbst – Freiheit mit theonomem Richtungsvektor

Das funktionierte damals nicht und auch in dem neuen Institut in Berlin nicht: Was sich dort theologische Anthropologie nennt, ist auch nur die Anthropologie der Anderen. Tucholsky ist aber auch noch was anderes aufgefallen: „Früher sagte die Kirche selbstbewusst „Wir“ heute kleinlaut ‚Wir auch’“. Was ihm an der Haltung der Kirchen auffalle, schreibt er, sei „ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische. ‚Wir auch, wir auch‘, nicht mehr wie vor Jahrhunderten: ‚Wir‘.  In einer solchen Angel dreht sich diese Anthropologie allerdings nur um sich selbst. Jetzt hat auch der Berliner Erzbischof eine gut bezahlte Theologengruppe, die am liebsten das 3. Genesiskapitel ausmerzen möchte. Und was ihm wohl gar nicht behagen wird, dass zumindest der Direktor sagen wird wo’s lang geht, wie anderen Bischöfen deren Fakultäten das auch mitteilen. Wer sich als Bischof dagegen wehrt, wird seines Lebens nicht mehr froh, wie Kardinal Woelki.
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von Dr. phil. Helmut Müller, Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

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