„Kirche ohne Mitte? Perspektiven in Zeiten des Traditionsabbruchs“, so heißt das neueste Buch des Koblenzer evangelischen Kirchenhistorikers Thomas Martin Schneider. Er schreibt dies zu einer Zeit, in der beide Großkirchen jedenfalls keineswegs ohne Mittel da stehen. Sowohl evangelisch als auch katholisch sind die Beutel noch prall gefüllt. Ein „Tanz von Kraft um eine Mitte“ wie in Rilkes Gedicht der Panther ist in beiden Kirchen allerdings nicht mehr festzustellen. Ein katholisches Nachdenken über eine Ökumene der verlorenen Mitte von Helmut Müller

Eine Ökumene der verlorenen Mitte

„Kein Weihrauch für Cäsar“ lautete die Devise für das junge Christentum im Imperium Romanum vor der konstantinischen Wende. Das hieß damals: der säkularen Obrigkeit zwar folgen, aber ihren Geist und Kult nicht mitmachen, im Extremfall sogar für die christliche Gegenkultur sterben. Gut 2000 Jahre später stellt der Koblenzer evangelische Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider für die evangelischen Kirchen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert das Gegenteil fest: eine hohe Distanzlosigkeit zu staatlichen, gesellschaftlichen und medialen Mächten. In seinem Buch Kirche ohne Mitte? Perspektiven in Zeiten des Traditionsabbruchs schaut er mit großer Präzision und Genauigkeit hin, welche Flieh- und Beharrungskräfte kirchliches Handeln bestimmen, um den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden oder bloß zeitgemäß in ihr unterzugehen.

Die ökumenische Mitte beider Großkirchen: das Evangelium

Der aufmerksame Leser stellt sich die Frage: Wird auch die Mitte der Kirche – für einen evangelischen Christen ist das nach Schneider (171) „Gnad und lauter Güte“ (Karl Barth) – in polarisierende Aktionismen zerrissen? D. h. das theologische, reformatorische Tafelsilber Rechtfertigung im Glauben vor Gott droht in politischen und medialen Aktionen im ausgehenden Kaiserreich, der Weimarer Republik, im dritten Reich und pluriform von den 50er Jahren bis jetzt, verschleudert zu werden. Schneider bringt es auf den Punkt:

„Wie glaubwürdig ist eigentlich eine Kirche, die ihren Mitgliedern innerhalb eines Jahrhunderts gleichsam eine politische Wende um 180 Grad zumutet und die jeweilige politische Position als die einzig evangeliumsgemäße erklärt? Galt vor 100 Jahren der Spruch: ’Die Kirche ist neutral, doch sie wählt deutschnational,’ so müsste man heute vermutlich formulieren: ‚Für die Kirche gilt immer noch das Neutralitätsgebot, aber sie wählt Grün-Rot’“ (79).

Und wenn der Leser katholisch ist, blüht seiner Kirche nicht das Gleiche in katholischer Abwandlung in dann gemeinsamer ökumenischer Zerrissenheit? Alle Päpste seit Paul VI. reden von Evangelisierung und Neuevangelisierung. In Deutschland findet das so gut wie keinen Widerhall: Die Umkehrforderung des Evangeliums wird ignoriert, das Arbeitsrecht reformiert und damit Fehlverhalten kirchlicher Mitarbeiter zementiert.

Politischer Tatendrang und theologische Abstinenz

Als bekennender Lutheraner glaubt Schneider – wie Luther sich damals gegen eine s. E. 1500 Jahre alte Korruption des Evangeliums positionierte – auch heute gegen eine im Berichtsraum außerordentlich pluriforme Korruption von Schrift und Bekenntnis wenden zu müssen. Auch das kann der katholische Leser mit etwas veränderten Parametern – Schrift und Tradition, Glaube und Vernunft – nachvollziehen, allerdings markant korrumpiert in einem eher kleineren Berichtsraum nach dem Konzil mit den neuralgischen Punkten Würzburger Synode und Synodaler Weg.

Schneiders Kriterium ist in erster Linie ein theologisches und nachrangig erst ein politisches. Er geht in augustinischer Tradition – Luther war ja Augustinermönch – von einer grundsätzlichen, konstitutiven Fehlbarkeit des Menschen aus, dessen Schuldbedrohtheit viel radikaler gesehen wird, als das traditionell katholisch üblich ist (vgl. dazu 137). Gegenwärtig bleibt von dieser Fehlbarkeit und Schuldbedrohtheit in der katholischen Pröpperschule (Striet, Essen, Görtz u. a.) nicht mehr viel übrig. Das Übel in der Welt rührt in dieser Perspektive eher von daher, dass es „Gott vielleicht gar nicht gibt“ (Striet) oder wenn es ihn gibt, wird das Problem einer verkorksten Schöpfung und ihrer notdürftigen Reparatur schon im Gottesbild zwischen Vater und Sohn geregelt und der hl. Geist muntert den Menschen auf, alles selbst anzupacken.

Überhaupt ist Gottes Wirken wie ausgelöscht, wenn nur der Mensch als Agent möglichen Wirkens Gottes sichtbar behauptet wird. Genauso unsichtbar bleibt sein Wirken in Natur und Geschichte. Der Mensch ist Opfer und zumindest nicht konstitutiv Täter des Übels in der Welt. Er ist allerdings grundsätzlich mit einem problemlösenden Vermögen ausgestattet, das wahlweise mit Wille, Vernunft oder Freiheit akzentuiert wird. Eventuelle Fehlbarkeit rührt vom falschen Gebrauch dieses so akzentuierten Vermögens her.

Kirchen als „allergrößtes Hindernis ihrer Botschaft?“

Ein solches Vertrauen auf eigene Kräfte – was auch in katholischer Perspektive völlig überzogen ist – kritisiert Schneider in einem evangelischen Rahmen und zitiert den Berliner Theologen Wolf Krötke: „Wenn eine christliche Kirche… im erhöhten Ton nur nachspricht, was sich eine kluge Ethik auch selber sagen kann, dann wird sie selbst [oder eine solche Theologie] zum allergrößten Hindernis ihrer Botschaft“ (165). Der Freiburger katholische Theologe Magnus Striet sieht das „allergrößte Hindernis“ tatsächlich darin, nämlich in der römisch – lehramtlich – katholisch ausgerichteten Kirche, der man in der Vergangenheit und Gegenwart in ihren Verlautbarungen gefolgt sei. Diese Gefolgschaft müsse man in einer Kirche der Freiheit, so ein Buchtitel Striets, hinter sich lassen und empfiehlt dagegen eine solch „kluge Ethik“, die selbst verantworteter Freiheit entspringt.

Damit folgt man gänzlich selbstbestimmt einem Trend in der Gegenwartsgesellschaft, dass jeder und jede irgendwie so wie er/sie sich fühlt okay ist und jedes Verhängnis und auch das schwerste Schicksal in maßloser Selbstüberschätzung überwunden werden kann. Gelingt dies nicht, gibt es immer noch die Möglichkeit des Freitods aus dieser nicht mehr in den Griff zu kriegenden Welt. Gott wird in einer solchen Gesellschaft quasi zum Sozialfall. Er ist (schon länger) obdach– und  jetzt auch arbeitslos. Er wird nicht mehr als Retter gebraucht, weil seine Allmacht kritisch hinterfragt wird (vgl. 137) und auch sein Job als Notfallseelsorger (welchen Trost hat er noch?) ist gefährdet, wenn das Grab des Sohnes doch nicht leer war und diesem dann wie uns – im Angesicht des Todes – die grausame Ausweglosigkeit der Welt bewusst geworden ist und er als Opfer – wie wir alle – im Grab verblieben ist. (vgl. dazu 135ff)

Wie finde ich einen gnädigen Gott in einer gnadenlosen Welt?

Angesichts dieser gnadenlosen Welt müsste auch jeden Katholiken die luthersche Frage auf den Nägeln brennen: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Vielleicht würden dann auch die Konsequenzen bewusst: Wer an der Allmacht Gottes zweifelt oder – was weniger vorkommt –  an seiner Liebe, der findet schwerlich überhaupt einen Gott und einen gnädigen erst gar nicht. Schneider führt den ehemaligen evangelischen Militärbischof Hartmut Löwe als Zeugen an, dass solche Überlegungen auch an evangelische Kirchenleitungen angesichts der Corona-Pandemie herangetragen werden:

“…diejenigen, die sich sonst an Stellungnahmen zu allem und jedem überbieten, finden kein geistliches Wort [Trost!]. […]Man kann doch nicht ganze Bereiche des Lebens dem Walten Gottes entziehen und ausschließlich natürlich erklären wollen […] In, mit und unter allem, was geschieht, will Gott gefunden werden, auch wenn wir nur mühsam und gar nicht verstehen, was er uns sagen will. Wer nicht vom Zorn Gottes zu sprechen vermag, verdirbt auch die Rede von Gottes Liebe […] Der Glaube kennt den deus absconditus (verborgenen Gott) und den deus revelatus (offenbaren Gott). […] Kulturprotestantische Belanglosigkeiten [und ebensolche katholischen Vernunftanstrengungen] versagen in der Krise […] Hier muss theologisch und geistlich tiefer gegraben werden. Vermögen das unsere Kirchenoberen in ihrer Geschäftigkeit noch?“ (136)

Vom Bündnis zwischen Thron und Altar zu grün-roten Parteiprogrammen

Schneider gräbt geistlich und theologisch tiefer. Er mahnt Reformbedürftigkeit an und zwar als persönliche Umkehr (!) bei allen (!) kirchlich Agierenden mit Blick auf die lutherische Kernfrage der Rechtfertigung durch Gott (171). Im zu Ende gehenden Kaiserreich kam dies in einem „Bündnis von Thron und Altar“ (16) zu kurz. In der Weimarer Republik fiel es den Kirchenleitungen schwer sich von der monarchischen Vergangenheit zu trennen, obwohl Theologen wie Karl Barth, Rudolf Otto und Karl Holl Wege aus der Rückwärtsgewandtheit zeigten (vgl. 18f). Ähnlich war es in der Zeit des Dritten Reiches.

Die „Deutschen Christen“ waren offensichtlich die weitaus bestimmendere kirchliche Kraft, als die verfolgte „Bekennende Kirche“ in der gegen den Nationalsozialismus gerichteten Barmer Erklärung (Vgl. 21ff). Seit den 50er Jahren zeigt sich die evangelische Kirche abermals als Abziehbild gesellschaftlichen Mainstreams in der Friedensbewegung (81ff), einem Umkippen in eine pure Diesseitsvertröstung (167)  und gegenwärtig in einer ganz markanten Nähe zu grün-roten Parteiprogrammen.

Ein Spiegelbild dieses Verrutschens ins Politische sind die Reformbestrebungen des Religionsunterrichts bundesweit – das gilt auch immer mehr für den katholischen, nach dem das Erzbistum Köln für das Schuljahr 2023/24 in NRW seinen Widerstand gegen den konfessionell kooperativen Religionsunterricht aufgegeben hat (101f):

„Wenn man dieses Gefälle betrachtet, so beschleicht einen der Verdacht, dass man sich […] auf eine schiefe Ebene begibt, auf der es letztlich kein Halten mehr gibt und an deren Ende der rein staatlich verantwortete Religionskunde- und Ethikunterricht steht, der ein positives Verhältnis zu einem bestimmten religiösen Bekenntnis weder vermitteln kann noch will (Zitat 104, vgl. 94 – 108).“

Theologisch, geistlich, spirituelle Vertiefungen protestantischer Kernfragen – das gilt auch für katholische – fristen in dieser Rücksicht ein Schattendasein. Das heißt nicht, dass es diese Vertiefungen nicht gibt. Schneider weist in seinen Ausführungen im ganzen Buch darauf hin, dass es sie gibt. Das Buch selbst ist ein Hinweis, dass reformatorische Theologie und Spiritualität – die die Mitte der evangelischen Kirche ausmachen sollten – Wege aus der Krise sein könnten.

Reformbedürftigkeit beider Kirchen

Der Hinweis Schneiders dass nicht nur die katholische Kirche ein Missbrauchsproblem (144ff) hat, sondern auch die evangelische, weist auf die eigentliche Krisenhaftigkeit hin. Selbst Amtsträger sind in ihren Haltungen nicht so gefestigt, dass sie nicht ein Opfer der paulinischen Elementarmächte (Gal. 4,3f) werden könnten, von denen uns Christus durch seinen Kreuzestod – protestantisch gewendet einer theologia crucis  – erlöst hat. Es fehlt dann nur noch, dass man diese ökumenisch zusammenführt mit einer eher katholischen Herrlichkeitstheologie.

Missbrauch ist so gesehen nicht in erster Linie systemisch, sondern ein Versagen sich Christen nennender Menschen, deren Amtswürde sie nicht vor Missbrauch schützt, sondern die im Gegenteil dieses Amt beschmutzen, so dass sich Täter oder Vertuscher sogar damit herausreden können, dass das Amt schuldig wäre an dem Missbrauch, den sie an Opfern begangen oder die Taten vertuscht haben. Jesaja hat es schon gewusst, dass der Stock nicht den Täter schwingt, (vgl. Jesaja 10,15), sondern der Täter den Stock.

Schneider hat ein außerordentlich lesenswertes Buch geschrieben, das in seinem Titel einen  bestimmenden Trend markiert, aber dennoch bis ins Kleinste auch Unterströmungen und Gegenströmungen nennt. Das ist wiederum ökumenisch und lässt Christen beider Großkirchen hoffen.


Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

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