Unser Gastautor Stephan Raabe und seine Familie sind dem organisierten Laienkatholizismus in Deutschland zutiefst verbunden. Schon sein Vater Felix war über Jahrzehnte hinweg Leiter des politischen Referats des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und hat sich darüber hinaus vielfältig engagiert – genau wie unser Autor. Jetzt bereitet ihm die Entwicklung eben dieses Laienkatholizismus grösste Sorge. Mit nüchternem Blick und politischer Urteilskraft bilanziert er eine Situation, die auf eine kirchliche Katastrophe zusteuert. Sein dringender Appell: Nur in der Wahrung der Gemeinschaft mit der universalen Kirche und dem Bischof von Rom kann das Anliegen echter Reform authentisch verwirklicht werden. Wer sich dem verweigert, ist für die dann unausweichliche Katastrophe verantwortlich.

 

Die Kirche und ihr Deutschlandproblem – Vor allem die Bischöfe stehen in der Verantwortung

Am Anfang des „Synodalen Weges“ in Deutschland stand das Ziel, die Kirche grundlegend zu erneuern. Anlass war der Skandal des jahrzehntelangen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der Kirche, der von Personalverantwortlichen oft vertuscht und teils weiter ermöglicht, jedenfalls nicht strikt unterbunden und bestraft wurde: ein völlig unhaltbarer, beschämender Zustand. Deshalb hieß es ganz richtig: „Die Kirche in Deutschland braucht einen Weg der Umkehr und Erneuerung.“

Die Reform sollte sich aber nicht auf den Missbrauch an sich konzentrieren: seine Verhinderung, Aufarbeitung und die notwendige Prävention. Vielmehr sollten jetzt lange, über ein halbes Jahrhundert hinweg kontrovers diskutierte „heiße Eisen“ mit Konsequenz angegangen werden: Macht und Gewaltenteilung sowie Ämter für Frauen in der Kirche, das Priestertum (Zölibat) an sich und die Sexualethik. Diesbezüglich haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland die Einstellungen in weiten Teilen der Kirche, insbesondere auch in der kirchlichen Mitarbeiterschaft, bei Theologen und – wie sich beim „Synodalen Weg“ herausstellte – selbst bei den meisten Bischöfen, von der Lehre der Kirche entfernt und der vorherrschenden gesellschaftlichen Liberalität angepasst. Die Verbreitung der Gender- und Queer-Theorien in bestimmten Kreisen verstärkte diesen Prozess, der sich in Forderungen nach einer „Weiterentwicklung“, also Änderung der als unzeitgemäß oder falsch angesehenen kirchlichen Lehren bahnbricht.

Papst Franziskus stelle Fokus Richtung Evangelisierung

Kaum ein Argument ist dabei neu in den Debatten um Macht, Priestertum, Frauen, Sexualität in der Kirche. Aber die Zeiten haben sich natürlich verändert und mit ihnen die Protagonisten der kirchlichen Diskussion, ihre Prägungen und Orientierungen, der Verständnis- und Verständigungshorizont. Aus diesem von vielen als fortschrittlich verstandenen Horizont werden nun die „Zeichen der Zeit“ als neue Orientierung für Glaube und Kirche interpretiert. Das mit großen Mehrheiten befürwortete Ergebnis dieser Interpretationen kann man in den zahlreichen langen Ausführungen des „Synodalen Weges“ samt „Handlungstexten“ nachlesen.

Ob die fokussierten Themen überhaupt die entscheidenden sind in einem Land, in dem einer finanziell reichen und noch immer weit verbreiteten kirchlichen Großorganisation zusehends die Glaubensbasis abhandenkommt, ist spätestens seit dem Schreiben von Papst Franziskus an die deutschen Katholiken von 2019 eine zentrale Frage. Es wurde zwar als „Ermutigung auf dem Synodalen Weg“ begrüßt, die kritischen Bemerkungen und Wegweisungen des Papstes aber ignoriert. Dabei warnte der Papst ausdrücklich vor der „Sünde einer verweltlichten Geisteshaltung“, mit der „man vielleicht zu einem gut strukturierten und funktionierenden, ja sogar ‚modernisierten‘ kirchlichen Organismus“ käme, der „jedoch ohne Seele und ohne die Frische des Evangeliums“ bliebe (Nr. 5,4).

Strahlt eine von synodalen Räten geleitete und auch sonst nach protestantischem Vorbild an die westliche Gesellschaft angepasste katholische Kirche, wie sie im Großen und Ganzen der „Synodale Weg“ anstrebt, die „Frische des Evangeliums“ aus im Sinne einer echten „Umkehr und Erneuerung“? Ist diese deutsche Reform überhaupt mit der Konstitution der Kirche vereinbar und konsensfähig? Papst Franziskus hatte offenbar diese und andere Fragen im Kopf, weshalb er den Reformern in Deutschland zwei wesentliche Leitkriterien mit auf den Weg gab: „den Primat der Evangelisierung“ (Nr. 7,1) und den „Sensus Ecclesiae“, den es gerade in „Zeiten starker Fragmentierung und Polarisierung sicherzustellen“ gelte (Nr. 9,1).

Damit wurde die strategische Zielsetzung für den „Weg der Umkehr und Erneuerung“ der Kirche in Deutschland, deren Grundaufgaben der Gottesdienst, Zeugnis und Verkündigung sowie der Dienst am Menschen sind, klar benannt. Beide Zielsetzungen hat der „Synodale Weg“ jedoch mehr oder weniger aus den Augen verloren bzw. gar nicht erst primär ins Auge gefasst. Um glaubwürdig evangelisieren zu können, meinten die synodalen kirchlichen Funktionsträger, müsse man zunächst die Konstitution und Lehre der Kirche „weiterentwickeln“, als ob die Botschaft des Evangeliums maßgeblich davon abhinge. So stellte man die Fokussierung auf den „Primat der Evangelisierung“ hinten an. Wie unter einer Glocke in der eigenen Synodalität befangen, wurde zudem die gesamtkirchliche Synodalität und Hierarchie, also der „Sensus Ecclaesiae“, immer mehr außer Acht gelassen. Damit droht der „Synodale Weg“, wie sich nicht erst jetzt zeigt, in einer Sackgasse zu enden, in Konfrontation und vielleicht sogar in einer formalen Spaltung, nachdem die inhaltliche Spaltung bereits öffentlich dokumentiert ist.

Ursachen und Wege aus der Kirchenkrise

Wie konnte es zu einem derartigen Desaster kommen, das nach dem Missbrauchsskandal und den Folgen der Corona-Pandemie die Kirche in Deutschland zusätzlich in eine schwere Krise stürzt? Und welche Wege gibt es aus dieser Krise heraus? Obwohl Papst Franziskus in seinem Schreiben 2019 bereits die entscheidenden Warnhinweise und Orientierungen gegeben hatte, hat man im Vatikan wohl die starke Eigendynamik des „Synodalen Weges“ und der bereits eingetretenen Entfremdung vom Selbstverständnis und von bestimmten Lehren der Kirche unterschätzt. Kern des Problems ist dabei, dass eine große Mehrheit der Bischöfe den deutschen Reformweg bisher rigoros mit vorantreibt. Die eigentlichen Bewahrer des Glaubens und der Konstitution der Kirche bejahen – mit Ausnahme einer Minderheit von rund einem Fünftel der Bischöfe – meist ausdrücklich die vom „Synodalen Weg“ geforderten Fortentwicklungen und unterlaufen dabei zum Teil gezielt die Einsprüche der Hierarchie bis hin zum Papst und das Kirchenrecht.

Walter Kardinal Kasper, ein profunder Theologe und ehemaliger Kurienkardinal, der noch einer anderen Bischofsgeneration angehört, hat jüngst die Aushebelung der Autorität des Papstes und letztlich des Zweiten Vatikanischen Konzils durch „trickreiche Umdeutungen“ seitens der Vertreter des „Synodalen Weges“ öffentlich kritisiert. Die Theorie vom Selbstverzicht der Bischöfe auf ihre Leitungsvollmacht sei „in Wahrheit eine unredliche und in sich widersprüchliche Trickserei“. Diese besteht darin, dass die Beschlüsse des „Synodalen Weges“ zwar eigentlich keine Rechtswirkung haben (Art. 11,5 der Satzung) und, wie der Heilige Stuhl in seiner Note vom 21. Juli 2022 klarstellt, in keiner Weise „die Bischöfe und die Gläubigen zur Annahme neuer Formen der Leitung und neuer Ausrichtungen der Lehre und der Moral“ verpflichten können; aber die große Mehrzahl der Diözesanbischöfe wollen die Beschlüsse dennoch soweit irgends möglich aus eigener Vollmacht durchsetzen.

Damit steht die Kirche nach 500 Jahren erneut vor einem veritablen Deutschlandproblem, das in dieser Form in der weltweiten Kirche aktuell einzigartig ist. Denn setzen deutsche Bischöfe die Beschlüsse des „Synodalen Weges“ in Bezug auf Leitung und Lehre um, was etliche bereits angekündigt haben, dann wäre das tatsächlich „eine Verletzung der kirchlichen Gemeinschaft und eine Bedrohung der Einheit der Kirche“, wie es im Schreiben des Heiligen Stuhls heißt. Sie provozierten mit ihrem Alleingang einen Konflikt, der sogar in eine Kirchenspaltung münden könnte.

Bestandsaufnahme eines verunglückten Reformprozesses

Geht man davon aus, dass den deutschen Bischöfen nach den zuletzt deutlich gewordenen Divergenzen mit Papst und Kurie (und anderen Bischofskonferenzen) nicht an einer weiteren Konfrontation oder sogar Spaltung gelegen ist, auch wenn sie diese Situation bisher sehenden Auges oder in falscher Einschätzung der gesamtkirchlichen Lage in Kauf genommen haben, dann bleibt eigentlich nur eine nüchterne Bestandsaufnahme des zumindest teilweise verunglückten Reformprozesses.  Eine Rückbesinnung auf die strategischen Ziele eines Weges kirchlicher Umkehr und Erneuerung ist notwendig: nämlich auf den Primat der Evangelisierung und die Beachtung des „Sensus Ecclesiae“, in den der „Synodale Weg“ münden muss, will er nicht zu einem Abweg werden. Daran sind die einzelnen Reformschritte in einem verständigen, respektvollen Dialog mit der kirchlichen Hierarchie in Einheit mit dem Papst, mit der kommenden Weltbischofssynode und unter Befolgung des Kirchenrechts auszurichten.

Das erfordert zuallererst von den Bischöfen ein Innehalten, eine kritische Selbstreflexion und vor allem eine Zurückhaltung und Rücksichtnahme in Bezug auf den gesamtkirchlichen „Sensus Ecclesiae“, den ihre Vorgänger bei der Würzburger Synode zu wahren verstanden. Anstatt sich selbst zu exponieren und weiter zu polarisieren, ist ein Zusammenführen und Integrieren mit Blick auf die Gemeinden und auf Rom notwendig, mehr Transparenz und Erklärung, was von dem Wust an „Beschlüssen“ des „Synodalen Weges“ nur Vorschläge sind, die weltkirchlich zu entscheiden sein werden, und was konkret möglichst in Abstimmung mit der Kurie in den Diözesen umgesetzt werden kann und soll. Rom ist immerhin nur zwei Flugstunden entfernt.

Dagegen verstärken die trotzige Infragestellung des Papstes, wie durch Bischof Bätzing, die despektierliche Behauptung, er sei „nicht gut informiert“, wie Bischof Wiesemann meint, die überhebliche Abkanzelung der vom Papst autorisierten Vorgaben als „überflüssig“ oder „sachlich unberechtigt“ von Laiengremien oder Laienvertretern oder ein entschiedenes „Weitermachen wie bisher“ die Polarisierung.

Die Kirche bietet, auch wenn sie nicht allen Ansprüchen gerecht wird, vielfältige Möglichkeiten für neue Initiativen und Wege, für das Miteinander auf allen Ebenen, insbesondere in den Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort, wo Kirche gelebt wird, auch für den Umgang mit den „heißen Eisen“, die der „Synodale Weg“ angefasst hat. Diese Möglichkeiten im Sinne einer katholischen Umkehr und Erneuerung zu inspirieren und zu fördern, ist aller Mühe wert und das Gegenteil einer „Vollbremsung“ oder nationalen kirchlichen Neuorganisation und Formierung.


Stephan Raabe M.A.
Ehemann und Vater, in der Jugend Fußballer, Pfadfinder, Messdiener, Studium der Geschichte, Theologie, Philosophie, Politik, 1984 deutscher Vertreter beim Weltjugendforum im Vatikan mit Johannes Paul II., 1992 bis 2002 Referent in der Jugendseelsorge des Erzbistums Berlin, 2002/03 Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, der Vater Dr. Felix Raabe war dort von 1970 bis 1996 Leiter des Politischen Referats und der Gesellschaftspolitischen Abteilung sowie deutscher Vertreter im Päpstlichen Rat für die Laien und Berater bei der römischen Laiensynode 1987, von 2004 bis 2011 Tätigkeit als Projektleiter in Polen und Belarus, für die Zusammenarbeit mit der Kirche und den Einsatz für die katholische Soziallehre nahm er 2010 den Sonderpreis „Totus tuus“ der polnischen Bischofskonferenz entgegen, seit 2011 Tätigkeit in der politischen Bildungsarbeit in Brandenburg.

Melden Sie sich für unseren Newsletter an