Die derzeitigen Auseinandersetzungen innerhalb der katholischen Kirche würden geführt, als ob es Gott nicht gäbe, befindet Prof. Ludwig Mödl. Was sollen wir in dieser Situation der Kirche konkret tun, um die Dinge wieder zum Besseren zu wenden, das Kräftemessen und die Selbstsäkularisierung zu beenden? Mödl wagt eine Antwort.

Nicht vergnügungssteuerpflichtig ist es gegenwärtig, katholisch zu sein oder gar in der Kirche ein Amt auszuüben. Angriffe von außen spüren wir in Deutschland im Gegensatz zu Katholiken in anderen Ländern nur marginal. Innerhalb der Kirche aber tobt ein Streit zwischen zwei Parteien. Die einen meinen: Unsere Kirche trottet der Zeit hinterher, missachtet neu erkannte Menschenrechte und tendiert strukturell zu verschiedenen Missbräuchen. Die anderen konstatieren eine Selbstsäkularisierung; sie werfen den Verantwortlichen vor, sie ließen sich vom Mainstream bestimmen und seien dabei, das eigentlich Katholische abzuschaffen. Die Diskussionen und Strategien laufen in einer rein säkularen Weise, als ob es Gott nicht gäbe.

Autonomie und Demokratie statt Gott

Ich sehe in unserem Umfeld zwei Tendenzen, die massiv in die Kirche hereinschlagen und den innerkirchlichen Streit befeuern. In der Öffentlichkeit wird alles bedacht, als ob es Gott nicht gäbe. Wer an Gott glauben will, der tue es, aber lasse Gott gefälligst aus dem Spiel, wenn er öffentlich argumentiert. Stattdessen seien zwei andere Bezugspunkte als Basis aller öffentlichen Vorgänge zu akzeptieren. Der eine heißt: Jeder Mensch ist autonom. Der zweite: Jeder muss sich demokratisch engagieren im Kampf gegen alles, was Menschen einschränkt, belästigt oder behindert.

Beides klingt gut und aufklärungskonform. Hier beginnt das Problem: Wie ist diese Autonomie zu umschreiben und welche begrenzenden Elemente sind da demokratisch zu bekämpfen? Das entscheidet im ersten Fall der Einzelne allein, so die wachsende Tendenz, und im zweiten eine engagierte Lobby, die sich eine Mehrheit sichert.

Es bilden sich also in unserer Öffentlichkeit Plausibilitäten heraus (und sie werden propagiert), welche zum einen die Autonomie absolut setzen und weder biologische noch gesellschaftliche noch traditionelle Vorgaben akzeptieren wollen. Der Einzelne bestimmt selbst sein Geschlecht. Auch bestimmt jeder selbst, ob er leben will oder nicht. Niemand hindere ihn am Sterben. Es scheint eine menschliche Guttat zu sein, wenn er jemandem zum Gnadenschluss verhilft, der in seinem Leben unter Schmerzen oder in Einschränkung keinen Sinn mehr zu sehen vermag. Weder die Natur noch objektiv vorgegebene Regelung oder gar göttliche Gesetze sollen die menschliche Selbstbestimmung begrenzen. Dieser Tendenz haben wir uns bislang nur wachsweich entgegengestellt. Sie widerspricht dem christlichen Menschenbild und ist Gott-feindlich.

Mehrheit sticht Wahrheit

Ähnliches gilt für die zweite Tendenz. Zu bekämpfen sind plausible antidemokratische Aktionen wie Rassismus, Antisemitismus, Geschlechterungleichheit usw. Hier können Gruppen von Menschen, die sich ausgegrenzt oder nicht gerecht behandelt fühlen, fordern, dass sie wahrgenommen werden, dass von ihnen angemessen gesprochen wird und dass sie gleichberechtigt mit allen anderen ihren Platz in der Gesellschaft bekommen – und dass alle ihre Selbstdefinition akzeptieren. Dabei gelten – wie bei der Auffassung von Autonomie – nicht objektiv geltenden Normen oder bisher als plausibel erachtete Gegebenheiten, wie z.B. die Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau oder die Unantastbarkeit der Familie oder das Elternrecht, sondern durch eine Mehrheit festgelegten Normen. Künftig sollten diese Gegebenheiten autonom durch Mehrheiten bestimmt werden. Die Bürgergesellschaft lebt künftig durch „autonome Festlegungen“ ohne vorgegebene Beschränkungen. Dass dies nicht nur der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft widerspricht, sondern auch dem christlichen Menschenbild, haben wir noch kaum wahrgenommen. Ein Kommentator der „Neuen Züricher Zeitung“ hat kürzlich hinsichtlich dieses Phänomens angemerkt: „Schwer verständlich ist auch das ohrenbetäubende Schweigen von CDU und CSU, die der Austreibung des Bürgerlichen bis jetzt nichts entgegensetzen.“

Das ist unser Umfeld, zunehmend nicht mehr christlich geprägt. Der Autonomiebegriff, den Einzelnen und die Gesellschaft betreffend, vor allem die Folgerungen, die aus ihm gezogen werden, entsprechen nicht dem christlichen Menschenbild. Hier müssen wir Position beziehen und uns neu in die Öffentlichkeit einbringen. Wir müssen den Autonomiebegriff so definieren, dass er unserem Schöpfungsglauben entspricht – zum Segen für alle.

Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist

Zuvor aber müssen wir die Selbstsäkularisierung in der Kirche stoppen. Wir dürfen unsere kirchlichen Angelegenheiten nicht weiterhin in einer Weise regeln wollen, als ob es Gott nicht gäbe.

Wie soll das geschehen? Im Glaubensbekenntnis sind die Stichworte aufgelistet, die uns die Richtung angeben: Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist. Und es werden jeweils Attribute angefügt, die näher bestimmen, was damit gemeint ist. An das dritte Stichwort vom Heiligen Geist werden fünf Attribute angehängt, die uns andeuten, in welche Richtung unser Handeln zielen kann und soll.

Wenn da gesprochen wird von der heiligen und katholischen Kirche, dann ist gemeint: Unser erstes Handeln soll heiligend und heilend sein, also den Gott-Bezug des Lebens herstellen und allem Heillosen widerstehen. Im Leben der Glaubenden soll sich etwas von der Heiligkeit des Ewigen spiegeln. Dies soll mit Blick auf alle und auf die ganze Welt geschehen, was (ursprünglich) mit dem Begriff „katholisch“ gemeint ist. Die Gemeinschaft der Heiligen zeigt eine Perspektive, dass jedes menschliche Streben nicht in autonomer Einsamkeit ihr Ziel haben kann, sondern in der Gemeinschaft derer, die im Gottesfrieden leben.

Vergebung wieder sichtbar machen

Weiterhin ist es eine Kernaufgabe der Kirche, versöhnlich zu wirken. Es gibt eine Vergebung, und diese soll in der Kirche und durch die Kirche sichtbar werden. Der Glaube an die Auferstehung birgt eine Hoffnung, dass alles, was unterzugehen scheint, nicht im Nichts verschwindet, wenn Gott ins Spiel kommt. Der Hinweis auf das ewige Leben ist wohl so zu deuten: Da unser ganzes Leben unter den Augen Gottes geschieht, wird nichts von dem, was jeder von uns denkt, redet oder tut, bei ihm vergessen sein. Er wird alles in seinem Gedächtnis behalten. Woran Gott denkt, das existiert. So bekommt alles in unserem Leben Bedeutung und hat bleibenden Wert.

Dies sind die Stichworte, die uns anregen sollen, unsere innerkirchlichen Probleme und unser öffentliches Engagement neu anzudenken. Die erste Aufgabe unserer Kirche ist es, Gott ins Spiel zu bringen, ihn als den Vater und Schöpfer zur Basis unserer Überlegungen zu machen, den Gottes-Sohn zum Richtmaß des Menschlichen zu erkennen und den Heiligen Geist spürbar werden zu lassen in den weiter oben genannten Bereichen, mit Blick auf welche unser Autonomiebegriff so definiert werden soll, dass er unserem Schöpfungsglauben entspricht.

Dieser Beitrag erschien erstmalig auf der Internetseite des Bistums Regensburg.


von Prof. Dr. theol. Ludwig Mödl,

geb. 1938 in Ingolstadt, studierte Philosophie und Theologie, war Regens an der Uiversität Eichstätt, Professor für Pastoraltheologie, Homiletik und Spiritualität in Luzern, Eichstätt und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, nach seiner Emeritierung Spiritual im Herzoglichen Georgianum München und Universitätsprediger in St. Ludwig München. Seit 1974 beim Bayrischen Rundfunk als Rundfunkprediger tätig.

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