Christus m/w/d. Eine Geschlechtergeschichte. In einem Interview bei katholisch.de erläuterte der evangelische Kirchenhistoriker Anselm Schubert diese seine erstaunliche Perspektive. Das macht unseren Autor Helmut Müller stutzig und er geht dieser in tiefem Ernst gemeinten Ansicht nach. 

Französische Matroschkapuppen

Beim ersten Lesen ist mir der Gedanke zu einer Neuauflage der Epizykeltheorie in kirchenhistorischem Gewand gekommen. Gut 2000 Jahre lang hatte man mit einer ausgefuchsten Theorie und auch Praxis die Bewegungen der Planeten recht gut berechnen können, die allerdings von einem grundfalschen geozentrischen Modell ausgegangen sind. Auch gut hundert Jahre nach Kopernikus’ (*1473, 1543†) richtigem heliozentrischen Modell hat man noch nach diesem falschen geozentrischen Grundmodell die Bewegungen der Planeten berechnet. Erst mit Kepler (*1571; 1630†) wurden dann nach dem richtigen heliozentrischen Modell die Berechnungen wirklich präzise. Bei dem hier genannten Buch und dem Interview hat man offensichtlich in einem umgekehrten Treppenwitz der Geschichte das traditionell richtige Modell christlicher Anthropologie ausgetauscht gegen ein zeitgenössisch falsches Modell, das sich vor allem französischer Philosophie verdankt. Wie das? Hier wurde der Gottessohn in seiner Menschlichkeit mit richtigen Ergebnissen der Humanwissenschaften geradezu epizykelhaft in falsche Modelle gepackt. Packt man sie wie Matroschkapuppen aus, erscheinen nacheinander Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Michel Foucault und Judith Butler. Da ziehen dann auch richtige Erkenntnisse der Humanwissenschaften den Kürzeren.

Der Sturz der Ewigkeit in die Zeit

Eigentlich wäre vor Sartre noch Heidegger zu nennen: Bei Schubert löst sich nämlich Ewigkeit, Schöpfung und Erlösung wie bei Heidegger das Sein, gänzlich in Zeit auf. Als Kirchenhistoriker ist er offensichtlich Historist. Jegliche Metaphysik wird aufgelöst in historische Gebilde, die vor allem der katholischen Kirche angelastet werden: Das liest sich dann etwa so:

Die Geschlechtergrenzen, die die katholische Kirche bis heute so wahnsinnig stark hochhält, lässt sich am antiken Geschlechtermodell nicht beweisen.“

Auch die evangelische Kirche scheint nicht besser zu sein:

Sowohl die evangelische traditionelle Theologie als auch der offiziellen katholischen Theologie ist bis heute weithin einem Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts verhaftet und projiziert das völlig unproblematisiert sowohl ins Markusevangelium als auch auf Thomas von Aquin. Dazu gehört zum Beispiel, dass es nur zwei von Gott geschaffene Geschlechter gebe, die sich deutlich voneinander unterscheiden.

Allein der letzte Satz zeigt, dass das historisch jüngste Gebilde – es gäbe mehr als zwei Geschlechter – den Modellepizykeln der genannten Matroschkapuppen – entspringt: Sartre hat dann in seinem Werk Sein und Nichts die Weichen gestellt: Nichts ist handlungsleitend vorgegeben. Alles was dennoch Struktur hat, ist Konstrukt und muss dekonstruiert werden, was seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir auch fordert: Man werde nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht. Foucault feiert die Macht, die man dazu hat alles neu, jüngst bloß nach Gefühlen, zu schaffen. Und Butler nennt die Sortimente, die sich dazu anbieten, aber auch im Original, den Trouble, den man damit hat. Vielleicht ein Eingeständnis, dass man da etwas gegen den Strich bürstet und es tatsächlich nur zwei Geschlechter gibt, wie immerhin eine Medizin-Nobelpreisträgerin, Christiane Nüsslein-Volhard, nicht aufhört zu sagen. Schubert hinterfragt offensichtlich nicht die Modelle, mit denen er Zweigeschlechtlichkeit vermeintlich nur als historisch begründete Festlegung der katholischen Kirche und der traditionellen evangelischen Theologie sieht, und ist deshalb zweifellos philosophisch als Relativist und in seinem Metier als Historist einzuordnen.

Reisen ohne Ziel

Und nun zum zweiten Lesen nach naturphilosophisch/ anthropologischen Kriterien:

Vermutlich sind das Werk und die wissenschaftliche Arbeit des Autors beeindruckend. Ich beurteile hier nur das Interview bei katholisch.de. Es scheint mir, dass der evangelische Kirchenhistoriker von oben genannten falschen Modellen ausgeht, ob ihm das bewusst ist oder nicht. Das ist so, als ob jemand, der von A nach B reisen will, in den falschen Zug eingestiegen ist. So schön und attraktiv alle weiteren Stationen zu sein scheinen, sie sind alle falsch und er kommt nicht am Ziel an. Was heißt das? Alles Lebendige, das geschlechtlich organisiert ist, hat Fruchtbarkeit als Ziel im Sinn. Alle Stationen dahin, müssen wie auf der Zugreise von A nach B abgefahren werden, wenn nicht, wird das Ziel verfehlt. Der Gottessohn hat nun nach der Schrift für sich natürliche Fruchtbarkeit nicht im Sinn. An dieser Stelle müsste sich der Kirchenhistoriker, der ja auch Theologe ist, entscheiden:

Sind mir die Zwischenstationen wichtiger als das Ziel? Ist das Ziel überhaupt nur optional?

Da der Gottessohn nach dem Zeugnis der Schrift auf natürliche Fruchtbarkeit verzichtet hat, rücken tatsächlich Zwischenziele in den Bereich möglicher Entscheidung. Bei dieser Überlegung müsste aber bedacht werden:

  • Wähle ich alle möglichen humanen Zwischenstationen auf dem Weg zur Fruchtbarkeit gleichsinnig aus, auch die möglichen fehlerhaften, die nicht zur Fruchtbarkeit führen?
  • Schaue ich darüber hinweg, dass es fehlerhafte Entwicklungen gibt?
  • Die Humanwissenschaften dokumentieren solche Entwicklungen neutral. Im Lichte christlicher Anthropologie und dem dritten Genesiskapitel und dem daran orientierten Erbsündedogma werden Entwicklungen, die nicht zum Ziel Fruchtbarkeit führen, als fehlerhaft interpretiert.
  • Lasse ich also das Ziel generell aus den Augen, sehe es vielleicht nur optional oder im Zugbeispiel: Will ich vielleicht nur durch die Gegend fahren und mich an allen Stationen erfreuen?

Keine dieser Überlegungen scheinen stattgefunden zu haben. Alles gerät – Heidegger würde sagen – zu einer Schickung des Seins in die Zeit. Aber so tiefsinnig ist Schubert gar nicht. Er misst das Vergangene an den oben beschriebenen Modellepizyklen der jüngsten Gegenwart.

Christus als Chamäleon

Als Kirchenhistoriker ist ihm bei seiner Reise durch die Zeit christlicher Kunst und christlichen Ausdrucks des Glaubens an den Gottessohn jede Station recht. Adjektive Zuschreibungen,

  • fürsorgliche Männlichkeit,
  • uterale Deutung der Seitenwunde,
  • androgyne Facetten,
  • queere Persönlichkeit,
  • paternale Männlichkeit,
  • zölibatäre Enthaltsamkeit,
  • optionales Verheiratetsein

werden zu Stationen substantivischer Zuständlichkeiten, grammatisch ausgedrückt; in seinem Métier, zu historischen Gebilden. Alle Zuschreibungen, die ihm auf seiner Reise durch die Geschichte des Christentums einmal begegnet sind, geraten mehr oder weniger auf die gleiche Stufe historischer Gültigkeit. Er wird mit diesen Beurteilungen allerdings ein Opfer des zeitgenössischen Kaleidoskops geschlechtlicher Verwirrtheiten, wogegen er sich nur halbherzig zu wehren scheint. Unter dieser Rücksicht macht der Titel „Christus  m/w/d“ Sinn. Wenn das einem Katholiken einleuchten sollte, dann ist er anders katholisch und sollte oben stehende Entscheidungsschritte entsprechend nachvollziehen können.

Schubert wäre als Theologe besser beraten gewesen, wenn er sich wie etwa Martin Brüske für eine Adlerperspektive entschieden hätte, in der der Mensch von Gott her gesehen wird, und nicht für eine Froschperspektive, in der er den Gottessohn durch Vergangenheit und Gegenwart, eben wie ein Frosch hüpfend, nur in dieser humanen Beschränktheit zu Gesicht bekommt. Alle Akribie wissenschaftlicher Untersuchung bleibt dann eben in dieser Begrenztheit gefangen, die sogar selbst gewählt ist. Es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben sich auch gegenwärtig anders zu orientieren etwa an einem Buch aus dem Kohlhammerverlag: Von Natur aus anders: Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag


Beitragsbild: unsplash
Matroschkas: Adobe Stock

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