„Wer ist wie Gott?“ Das scheint die Grundfrage zu sein, um die die verschiedenen Lager der Kirche in Deutschland kreisen. Helmut Müller untersucht das Phänomen philosophisch und theologisch, enttarnt manche modernen Deutungsversuche als „romantischen Blödsinn“ und als Bestreben nach grenzenloser Freiheit sowohl über als auch unter den Wolken. Parallelen zum paradiesischen Sündenfall liegen auf der Hand.
Von der Selbstverpflichtung der Bischöfe zur Selbstverpflichtung Gottes
Die Vereinnahmung Kants durch „seine falschen Freunde“ und eine Neuerscheinung in den Quaestiones disputatae mit dem provokanten Titel Konstruierte Schöpfung erinnern mich an das bekannte Lied von Reinhard Mey, dass offensichtlich nicht nur über den Wolken die Freiheit grenzenlos sei, sondern auch darunter für nicht wenige grenzenlos herbei gewünscht wird. Als Geschöpf will man offenbar sogar Gott buchstäblich ins Handwerk pfuschen, indem logisch zu Ende gedacht, Gott sich eigentlich der Selbstverpflichtung der Bischöfe anschließen müsste. Das alles klingt wie eine Satire. Hoffentlich schreckt man davor zurück sie wirklich werden zu lassen.
Auch unter den Wolken möge Freiheit grenzenlos sein
All das eben Angedachte zeigt, dass der Hinweis auf die Geschöpflichkeit des Menschen in Dignitas infinita dringend notwendig gewesen ist, da genau in o. g. Wortmeldungen,
„der uralten Versuchung des Menschen [nachgegeben worden ist], sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart“.
Gerade diesen Passus kommentierte Kardinal Fernandez bei der Vorstellung der Erklärung mit den Worten: dass der Mensch glaubt „allmächtig“ zu sein und „denkt, dass er mit seinem Verstand und seinem Willen in der Lage ist, alles zu erschaffen, als ob es nichts gäbe, was vor ihm da war, als ob es keine Realität gäbe, die ihm gegeben wurde“.
Freiheit ohne Grenzen – die uralte Versuchung
Gemäß dem biblischen Zeugnis in Gen 2 und 3 fing zunächst alles gut an. Freiheit sollte sich in dieser einzigartigen Erzählung in einer Harmonie zwischen Gott und Mensch in einer Gartenlandschaft – man könnte sagen – in der Nachbarschaft Gottes entfalten. So jedenfalls kann man das ursprüngliche Konzept in einem der Schöpfungsberichte verstehen: Ein Zusammenleben mit Gott in einem Garten, der zur freien Verfügung des Menschen mit allen darin enthaltenen Lustbarkeiten stand. Nur einen Baum in der Mitte des Gartens entzog der große Nachbar dem Menschen der freien Verfügung. So beschreibt ein genialer Erzähler vor fast 3000 Jahren das gut nachbarliche Verhältnis des dermaßen großzügigen Schöpfers zu seinem Geschöpf: Unsere Stammeltern durften in dieser Freiheit der Gartenlandschaft offenbar dem großen Nachbarn – was eigentlich selbstverständlich sein sollte in aller Ehrfurcht – begegnen. In der so erzählten Geschichte kommen unsere Vorfahren – vielleicht als Entschuldigung (?) durch die Verführung der Schlange – auf den Gedanken, Freiheit müsse ohne jegliche Grenze definiert werden. Das ist wohl mit der „uralten Versuchung des Menschen“ auf die DI anspielt, gemeint.
Von der Selbstverpflichtung Gottes
Dieser Versuchung unterliegen ganz offensichtlich auch die falschen Freunde Kants. Deshalb mögen sie die auf Augustinus zurückgehende Interpretation dieser Erzählung gar nicht. Sie meinen nämlich Freiheit wäre schon apriorisch in ihrer Begrifflichkeit enthalten: Nicht der Baum in der Mitte begrenze die Freiheit, sondern nur die Freiheit anderer Ebenbürtiger. Wobei an den großen Nachbarn jüngst die Forderung in Form einer Selbstverpflichtung gestellt wird, sich aus Menschenfreundlichkeit im Hinblick auch als Ebenbürtigen zu definieren.
„Wenn ich erst einmal entschieden auf Freiheit setze, auf die Würde der Freiheit setze, dann darf auch nur noch ein Gott akzeptiert [!] werden, der tatsächlich so unbedingt die Würde der menschlichen Freiheit akzeptiert, wie Menschen das zumindest tun sollten. Das führt dann notwendig auch dazu, dass historisch aufgebaute Gottesbilder korrigiert werden müssen“[1].
Da wird ganz offensichtlich am Unterschied zwischen Geschöpf und Schöpfer geschraubt. Wird nicht sogar die Ehrfurcht des Geschöpfes vor dem Schöpfer auf Ebenbürtigkeit einfordernde Nachbarschaft reduziert und werden so auch – wie gefordert – „historisch aufgebaute Gottesbilder korrigiert“?
Vom Wirklichkeit schaffenden Sprechakt Gottes zu dem des Menschen
Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man die Reaktionen auf die vatikanische Verlautbarung liest:
- Aber ist Gott wirklich so – vermeintlich – menschenfreundlich und von der Einsichtsfähigkeit seines Geschöpfes so überzeugt wie Striet vorschlägt?
- Sind Sprech- und Willensakte des Menschen in vergleichbarer Weise so zu deuten, wie der Sprechakt Gottes selbst zu Anfang? „Es werde ….“ und „es geschah“?
- Und danach durchgängig in der Schrift analog zur „Botenspruchformel“ „und der Herr sprach“?
In letztere rückt man sich dann selber ein mit einem bei Kant geköderten, aber gefakten Autonomieanspruch: „Und der Herr sprach“ wird ersetzt durch „ich spreche“, d. h. Gott wird daraus entfernt. Dann gilt der eigene Sprechakt und schafft Wirklichkeit, wie etwa in dem neuen Personenstandsrecht. Wie anders ist es zu verstehen, wenn der Queer-Beauftragte der Ampelregierung Sven Lehmann, Stimmen aus dem ZDK zitiert gegen die CDU-Opposition, die in dieser Hinsicht mit ihrem Restchristentum ungeahnt christlicher ist (Kardinal Meißner käme aus dem Staunen nicht heraus) als das Zentralkomitee der Katholiken(!), das den Synodalen Weg vorbehaltlos unterstützt.
Auf die Frage: „Wie viel Kant steckt im Synodalen Weg? antwortet Striet: „Das ist Kant [meint er]. Bezogen auf den Synodalen Weg kann man sehr genau beobachten, wie dies de facto [das Autonomiedenken] in Anspruch genommen wird“. So wird es auch verständlich, wenn Magnus Striet das Konzil von Nizäa, dessen 1700 Jahr-Feier nächstes Jahr bevorsteht, in dem Interview als historisches Konstrukt ansieht.
Schöpfung, ein Begriff in „schändlichster Verwirrung“
Was da auf uns zukommt, lassen einige Beiträge des in diesem Jahr von Julia Knop und Gregor Maria Hoff herausgegebenen Band der Quaestiones disputatae mit dem Titel Konstruierte Schöpfung [!] Ein theologisches Motiv auf dem Prüfstand, erahnen. Zunächst nahm ich verwundert wahr, dass der Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber und Verteidiger christlicher Bezüge im Grundgesetz in diesem Band einen Artikel schreiben durfte mit dem Titel: Der Schöpfungsgedanke in Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie – eine Spurensuche. Meine Verwunderung löste sich allerdings schnell auf, da Georg Essen, direkt nach dem Artikel von Hillgruber dessen These im Haupttitel seines Beitrags in Frage stellte und seine Sympathien schon im Untertitel zeigte: Schöpfung als verfassungsrechtlicher Begriff? Oder: „Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung“ – letzteres ein Zitat von Georg Büchner. Essen fragt nämlich „Führt das Grundgesetz, eben weil es einen säkularen, das heißt: religionsfreien Staat begründet, den Schatten einer inhaltslosen Leere mit sich?“ (223). Hillgruber ist anderer Auffassung und schreibt nämlich – auch mit Bezug auf Böckenförde dass „eine schlichte Gleichsetzung von Menschenwürde und Autonomie [verfehlt sei]“ und wenige Sätze weiter „…die Engführung des Konzepts der Menschenwürde auf den Gedanken der Freiheitsmaximierung scheint unter dem Selbstbestimmungsparadigma unserer Zeit unaufhaltsam auf dem Vormarsch.“ (S. 211)
Ein inhaltlich entleertes Grundgesetz?
Das konnte Georg Essen in diesem Band natürlich nicht unkorrigiert stehen lassen. Er gibt zwar eine generische Herkunft vom christlichen Schöpfungsverständnis zu, will aber auf keinen Fall diese Herkunft auch geltungstheoretisch fixieren. Deshalb die Konfrontation des traditionellen Schöpfungsbegriffs mit angeblich „inhaltsloser Leere“ im Grundgesetz. Schöpfung als Vorgegebenheit könnte ja eine Inhaltlichkeit erzwingen, eine Heteronomie, die man meidet wie der Teufel das Weihwasser. Autonomie darf nämlich ohne jeden heteronomen Bezug nur mit der eigenen Vernunft, sozusagen einer von aller Inhaltlichkeit ge(reinen)igten Vernunft „gefüllt“ werden. Auch wenn Kant in diesem Jahr seinen 300. Geburtstag feiert, darf man Kant selbst auch kritisch hinterfragen.
Eine nach dem Reinheitsgebot von 1781 gebraute Theologie
Odo Marquard, der Spaßvogel unter den Philosophen hat darüber schon vor Jahren seine Witze gemacht, wenn er philosophische Richtungen kritisiert, die meinen „wahre, kritische Philosophie“ dürfe nur „streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781“ gebraut werden[2]. In eben genanntem Jahr erschien nämlich Kants berühmte „Kritik der reinen Vernunft“. Odo Marquard will damit sagen, dass es unter Philosophen geradezu eine opinio communis ist, den kantischen Kriterienkatalog für kritische Philosophie zu beachten. Wer dies nicht tut, wird nicht ernst genommen. Kant in Ehren – für alles was er geleistet hat – das darf aber nicht dazu führen, dass etwa Denkansätze wie die des Aquinaten als überholt gelten. Genau das scheint mir aber mit der ständigen Berufung auf Kant – zu Recht oder zu Unrecht – im Verständnis von Autonomie in vielen Beiträgen in Konstruierte Schöpfung und bei einigen einflussreichen katholischen Theologen der Fall zu sein. Nicht nur Striet ist dabei eine seines Erachtens nach dem Reinheitsgebot von 1781 gebraute Theologie vorzulegen.
Vom Schaffen des Schöpfers und des Geschöpfs im „Genesiskollektiv“
Überdeutlich wird das im letzten Beitrag des Buches der beiden Theologinnen Julia Enxing und Gunda Werner Schöpfung und Erlösung inklusiv gedacht. Schon zu Beginn wird deutlich, dass es sich hier um einen identitätspolitischen Rundumschlag handelt: Zur „menschengemachten Schöpfungszerstörung“ zählen „die Ungerechtigkeit in kolonialen, rassistischen und misogynen Strukturen“ (292). Auch der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpfen darf so nicht bleiben. Die beiden Autorinnen beginnen sofort mit einer Dekonstruktion des Schöpfergottes, der konsequent nur unaussprechlich G:tt genannt wird. Das theistische Verständnis des dreipersönlichen Gottes des Nizänums wird panentheistisch und inklusiv in ein „Schöpfungskollektiv“ (292) dekonstruiert und eingeebnet. Die menschengemachte Schöpfungszerstörung im sog. Anthropozän wird als eine Kolonisation der Natur(!) (304) durch den Menschen verstanden.
Gemeinschaft statt Herrschaft
Dekonstruiert wird dann auch die nizänische Soteriologie und die Inkarnation Gottes in einem Mann. Dieselbe wird erweitert durch eine panentheistisch zu verstehende deep incarnation (301ff). Dabei scheint weniger die Tiefe der gestuft gedachten Menschennatur bis in Materielle gemeint zu sein, sondern die Weite, ein regelrechtes Inkarnationsfeld, das nicht bloß die Stufen im Menschen durchdringt bis ins Materielle. Deep incarnation meint offenbar den Bereich des Animalischen überhaupt, ja sogar das „Feld“ des Mineralischen, so dass jede Kolonisation von oben, offenbar auch die eines theistisch verstandenen Gottes – durch das „Genesiskollektiv“ (296) panentheistisch gebändigt – ausgeschlossen ist: Wenn alles offensichtlich irgendwie von Gott erfüllt ist, kann auch nichts mehr „von oben“ kolonisiert werden. Gemeinschaft statt Herrschaft ist angesagt (296). Wie das theistisch Personale dieses Gottes, der irgendwie G:tt (?) ist, verstanden werden soll, erschließt sich mir nicht. Wenn Julia Enxing auf feinschwarz von Verführe uns, Du faltiger G*tt! Gedanken zur queeren Schöpfung spricht, wird es für mich eigentlich nicht verständlicher. Der nizänische Dreifaltige Gott wird offenbar zum [viel]faltigen G:tt dekonstruiert.
„Romantischer Blödsinn“
Mir fällt es jetzt schwer, Neigungen spöttisch zu werden zu unterdrücken und gebe deshalb nur einen Kommentar von Hans Dieter Mutschler wieder, der durch seine klare Offenheit immer wieder angenehm auffällt. Er hat nämlich auf der Jahrestagung des Religion and Science Network Germany (RSNG) am 6.-8. Oktober 2023 – sich auf Julia Enxing beziehend, von einem „romantischem Blödsinn“, die deep incarnation meinend – gesprochen und an anderer Stelle genau so klar gesagt, er „glaube kein Wort dieser theologischen Deutung“.
Vom Ende der Herrschaft Gottes in der Schöpfung zum Ende der klerikalen Herrschaft in der Kirche
Mit diesem romantischen Blödsinn ist die Kaskade der Dekonstruktionen noch an kein Ende gekommen. Sie macht natürlich auch nicht vor der Kirche halt. Die jüngste Äußerung von Kardinal Marx von „klerikaler Herrschaft“ in der Herderkorrespondenzausgabe vom Mai, fordert dann natürlich auch identitätspolitische Konsequenzen für die Kirche, die ja schon wie Striet bemerkt im Synodalen Weg auf den Weg gebracht sind: „Es ist völlig klar: Wenn man sich erst einmal auf das Autonomiedenken eingelassen hat, so kann man lehramtliche Überzeugung nicht mehr nur deshalb übernehmen, weil das Lehramt diese ausformuliert hat. Stattdessen muss man selbst prüfen, ob die vorgetragenen Gründe überzeugen. Wenn sie das nicht tun, darf man sie nicht übernehmen.“ Wie gesagt, wenn man sich erst einmal auf das Autonomiedenken eingelassen hat …. dann beendet man auch „klerikale Herrschaft“ indem man das Genesis-Kollektiv in ein Kirchenkollektiv weiterdenkt. Hat man den lieben Gott einmal über das Genesis-Kollektiv im Kirchenkollektiv weitergedacht, dann ist es nur logisch, dass der liebe Gott wie die Bischöfe sich in Selbstverpflichtung an die Beschlüsse im Kirchenkollektiv – vielleicht in der Position eines Frühstücksdirektors – bindet. Identitätspolitisch gibt es dann wirklich nichts mehr zu tun. Dann wird die Freiheit auch unter den Wolken grenzenlos sein. Die Inhalte des neuen Personenstandsgesetzes, die vor Jahren noch ein Aprilscherz gewesen wären, sind im April 2024 gesetzliche Wirklichkeit geworden.
Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag
[1] Magnus Striet Die Würde der Freiheit https://www.deutschlandfunk.de/theologe-magnus-striet-die-wuerde-der-freiheit-100.html Zugriff 2. 6. 23
[2] Odo Marquard: Zeit und Endlichkeit. In: Information Philosophie 5/1992, S. 10 Vgl. dazu: https://relbib.de/Record/1646204069
Bild: In principio creavit, aus der Schedelschen Weltchronik (1493), mit freundlicher Genehmigung von Götzfried, Antique Maps