Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Fokussiert dem fokussierten Jesus folgen!
Auslegung des Evangeliums vom 13. Sonntag im Jahreskreis Lk 9, 51-62
In Jesu Leben wirkt das geheimnisvolle „Muss“ des göttlichen Heilsplans. Das bedeutet aber keinen Automatismus, sondern Ausrichtung in freiem Gehorsam. Jesus fokussiert sich auf Jerusalem, wo der Menschensohn leidet, um verherrlicht zu werden. Wer ihm folgt auf seinem Weg, muss sich radikal von allem lösen, um sich ungeteilt in ihm festzumachen.
Jerusalem und der Plan Gottes
„In derselben Stunde kamen einige Pharisäer herbei und sagten zu ihm: Geh hinaus und zieh fort! Denn Herodes will dich töten. Und er sprach zu ihnen: Geht hin und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten ⟨Tag⟩ werde ich vollendet. Doch ich muss heute und morgen und am folgenden ⟨Tag⟩ wandern; denn es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkommt. Jerusalem, Jerusalem, das da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihm gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Brut unter die Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Lk 13, 31-34).
Einige Kapitel nach unserem Sonntagsevangelium finden sich diese Verse. Was in unserem Text beginnt – der Weg Jesu nach Jerusalem, dem Ort seines Leidens und seiner Verherrlichung – wird hier noch einmal in geradezu abgründiger Weise beleuchtet: Drei symbolische Tage werden dem öffentlichen Auftreten Jesu zugeordnet. An zweien davon wirkt er durch Zeichen der anbrechenden Königsherrschaft Gottes: Er heilt von Krankheit und befreit von dämonischer Gebundenheit. Der dritte Tag aber ist der Tag der Vollendung. Über diesen Tagen liegt das geheimnisvolle „Muss“ der Wanderschaft. Diese Wanderschaft hat aber nun ein eindeutiges Ziel: Jerusalem! Dort wird Jesus Prophetenschicksal erleiden – und getötet werden. Aber hieß es nicht gerade noch, der dritte Tag sei der Tag der Vollendung? Das Geheimnis wird also noch größer: Offensichtlich fallen das tödliche Prophetenschicksal, das nur in Jerusalem stattfinden kann, und die Vollendung Jesu irgendwie ineinander! Noch geheimnisvoller wird es dann durch den folgenden Vers: „Jerusalem, Jerusalem, das da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihm gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Brut unter die Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ Wer spricht hier eigentlich? Der, der hier redet, ist ja selbst das Subjekt der oftmaligen Sammlungsversuche! Da leuchtet in der Rede Jesu plötzlich ein göttlicher Anspruch auf, durch Jesus redet offensichtlich unmittelbar der Gott Israels. Jesus redet wie ein Prophet, verweist auf sein bevorstehendes Prophetenschicksal – und zugleich redet er wie einer, der Propheten sendet! Auch hier also wieder einer der Ausgangspunkte, von denen her sich völlig konsequent das Christusbekenntnis der frühen Kirche entfaltet hat.
Was in diesen Versen aus dem 13. Kapitel so geheimnisvoll und tief beleuchtet wird, hat also seinen Startpunkt in unserem Sonntagsevangelium: Jesus fasst den festen Entschluss nach Jerusalem zu wandern. Hier beginnt der sogenannte „lukanische Reisebericht“, der folgerichtig eigentlich erst etliche Kapitel später mit dem Einzug Jesu in Jerusalem endet. Dabei geht es nicht nur um eine geographische Bewegung im Raum, sondern um den Weg des Menschensohns, auf dem wir ihm folgen sollen. Dies wird gerade in unserem Evangelium deutlich werden.
Und auch hier findet sich wieder der Verweis auf Gottes Heilsplan: „Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte…“ Was hier mit „hinweggenommen werden“ bewusst offen übersetzt ist, kann tatsächlich vom griechischen Wort her sowohl auf Jesu Tod als auch auf seine Aufnahme in den Himmel verweisen – also eben auf das bevorstehende Ende und die Verherrlichung in Jerusalem. Jesu Weg auf dieser Erde ist also Zeit und Ziel zugewiesen. Mit einem anderen griechischen Wort, aber in der Sache sehr ähnlich, war es kurz zuvor beim Kolloquium der Verklärung zwischen Jesus, Moses und Elia um „seinen Ausgang in Jerusalem“ gegangen. Und bei der Ankündigung seines Leidens, auch kurz zuvor, ging es nicht nur um ein Faktum, sondern das, was da angesagt wurde, war durch ein geheimnisvolles „Müssen“ bestimmt. Und schließlich wird auch der geheimnisvolle Begleiter der Emmausjünger ihnen diese Notwendigkeit zeigen, wenn er ihnen die Schrift auslegt!
Dass sich dieser göttliche Plan erfüllt, ist aber kein mechanischer Automatismus. Jesus nimmt den Plan des Vaters in sich auf, sagt dazu bewusst „Ja“ und gehorcht ihm. Deshalb ist vom „festen Entschluss“ Jesu die Rede. Der griechische Text ist noch wuchtiger und bildhafter: „da richtete er das Angesicht aus, um nach Jerusalem zu gehen“. Varianten dieser Angesichtsformel finden sich in wenigen Versen zu Beginn unseres Evangeliums insgesamt dreimal! Wenn man die Nuance dieser Wendung ins Wort fassen will, könnte man vielleicht sagen: Jesus fokussiert sich ganz und gar auf dieses bevorstehende Endgeschehen in Jerusalem, um das er weiß und das er will. Er nimmt sein bevorstehendes Leiden an als notwendigen Bestandteil des göttlichen Plans – und lässt sich davon nicht ablenken. Er geht, wandert ihm bewusst entgegen. So wie er sich fokussiert, erwartet er es auch von denen, die ihm nachfolgen wollen.
Donnersöhne im charismatischen Kraftrausch
Bei den Ankündigungen von Jesu Leiden zuvor hatte sich gezeigt: Auch seine engsten Jünger verstehen (noch) nichts. Dass Jesus seine bevorstehende Verwerfung bewusst annehmen könnte, dass er sich in seinem Entschluss, nach Jerusalem zu gehen, gerade darauf fokussiert, übersteigt ihren Horizont völlig. So versagen sie bei der ersten Herausforderung kläglich, lassen sich von der eigenen Fokussierung auf den Weg des Meisters weit ablenken und drohen auf Abwege zu geraten, die seine Botschaft ins gerade Gegenteil verkehren würden.
Denn Jesus wählt unter den möglichen Wegen nach Jerusalem den direktesten, der durch das Bergland Samariens führt. Die Bevölkerung dieser Landschaft, die man Samaritaner nennt und die heute noch als sehr kleine Minderheit existiert, hatte ihre ethnische Prägung nach der Auslöschung des Nordreichs Israel durch die Assyrer 722 v. Chr. erhalten. Damals hatten die Eroberer große Teile der ansässigen Bevölkerung deportiert. Ein Rest blieb jedoch im Land. Gleichzeitig wurde von den Assyrern eine neue Bevölkerung im ehemaligen Nordreich angesiedelt. So entstand dort eine Mischbevölkerung, eben die Samaritaner, die sich zwar die JHWH-Religion zu eigen machte, jedoch mit einem eigenen Kultort auf dem Berg Garizim. Seit der Rückkehr von Judäern aus dem babylonischen Exil herrschten zwischen Samaritanern und Juden sehr oft Spannung und gegenseitige Feindseligkeit. Juden betrachteten Samaritaner als halbheidnisch und nicht als Mitglieder des Gottesvolkes. Besonders bemerkenswert ist deshalb Jesu Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“, das gerade einen Samaritaner als Beispiel für ethnische Spannung übergreifende Nächstenliebe zeigt, ebenso wie das Gespräch Jesu mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen und die Tatsache, dass nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte das Evangelium Samaria durch den Diakon Philippus frühzeitig und wirksam erreicht hat.
Feierlich wird nun gesagt, dass Jesus Boten „vor seinem Angesicht“ (s.o.) sendet. Sie sind wohl mehr als bloße Quartiermeister, obwohl nur diese Funktion erwähnt wird. Dafür spricht jedenfalls, dass die samaritanischen Dorfbewohner ausdrücklich allergisch und abwehrend auf Jesu Zuwendung nach Jerusalem reagieren. Denn das legt zumindest nahe, dass ihnen der besondere Anspruch dieser messianischen Wanderung (jenseits des normalen Personenverkehrs zwischen Galiläa und Jerusalem) klar geworden ist: Den lehnen sie ab und verweigern Jesus und seinen Begleitern das Quartier.
Zwei der Jünger, das Brüderpaar Johannes und Jakobus, reagieren heftig auf diese Abweisung. Sie wollen ein sofortiges Feuer- und Vernichtungsgericht vom Himmel rufen – in der Tradition des Elia und der anderen Eifergestalten des Alten Testaments. Mk 3, 17 erwähnt, dass Jesus sie „Boanerges“, „Donnersöhne“ genannt hat. Das passt gut zu ihrer Reaktion. In ihr mischen sich wohl auf gefährliche Weise echter Glauben, Eifer für den Meister, in dem noch viel Unreifes, Ungeklärtes steckt, charismatisches Kraftgefühl, das sich zutraut, Gott zum sofortigen Handeln bewegen zu können, Unverständnis für die Sendung Jesu und den gerade angetretenen Weg und wahrscheinlich nicht zuletzt schlichte Wut, die sich unter Eifer verbirgt. Da stecken viele gute Eigenschaften drin, viel Unreifes, viel Ungeklärtes, manches Hässliche – alles in allem ist diese Mischung gefährlich, weil in der Gefahr, Gott vorschreiben zu wollen, wie er zu handeln hat und am Ende sein Gericht vorweg und selbstherrlich in die Hand zu nehmen. Immerhin fragen sie Jesus noch, ob sie aus ihrem charismatischen Kraftgefühl Gottes Feuergericht herbeiführen sollen… Jesus liebt die beiden, gerade in ihrer Leidenschaftlichkeit, auch wenn er um ihre reale Schwäche wie kein anderer weiß. Und auch in dem Namen „Boanerges“ steckt sicher eine Zuneigung, die auch ein wenig augenzwinkernd ist, angesichts der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Aber jetzt ist sehr deutliche Zurechtweisung nötig. Er „droht“ ihnen – so wie er zuletzt einem Dämon „gedroht“ hat (es ist das gleiche Wort in 9, 42). Tatsächlich: Dämonischer Ungeist spricht aus ihnen. Nach späteren Textzeugen, die wohl nicht ursprünglich sind, aber sehr passend und sinngerecht erweitern, fragt Jesus die beiden: „Wisst ihr nicht, welches Geistes ihr seid?“ und diese Textzeugen fügen 19,10 hinzu: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ Dieser Vers bringt das Missverständnis der Sendung Jesu durch den ungeklärten Eifer der Donnersöhne wirklich auf den Punkt. Am Ende heißt es lapidar: „Und sie gingen in ein anderes Dorf.“ Johannes und Jakobus haben sich von ihrem charismatischen Kraftrausch, den Himmel zum Gericht zu bringen, aus der Fokussierung auf die Nachfolge heraustragen lassen. Der lapidare Schluss spiegelt dagegen, wie der Meister in souveräner Ruhe auf seinem Weg nach Jerusalem im Gehorsam gegenüber dem Plan des Vaters bleibt.
Nachfolge und Loslösung
Dem Beginn der Wanderschaft nach Jerusalem und der Zurechtweisung der Donnersöhne folgen drei Worte über die Nachfolge – gefasst jeweils in einen kurzen Dialog. Zwei anonym bleibende Menschen bitten Jesus wie ein potentieller Rabbinenschüler, der seinen Rabbi wählt, aktiv um Eintritt in seine Nachfolge. Ein dritter wird von Jesus gerufen. So Menschen zu rufen, war das Neue und das Besondere in Jesu Tun – und angesichts der Radikalität der Nachfolgeforderung kann dies nur in göttlicher Autorität geschehen. Letztlich gilt: Auch die, die äußerlich aktiv fragen, sind in der Tiefe Gerufene. Der Vater zieht sie zu Jesus durch den Geist und in diesem Geschehen ist Jesus bereits verborgen präsent.
Tatsächlich sind auch hier die Worte über die Nachfolge denkbar radikal. Sie verlangen die Loslösung von allen Bindungen, um Jesus in der Nachfolge ungeteilt und mit voller Hingabe folgen zu können. Kein Wert, kein Gut, keine sittliche Pflicht darf auf derselben Ebene die ungeteilte Hingabe einschränken. Der Mensch, der Jesus nachfolgt, kann und darf in dieser Welt keine letzten Wurzeln haben. Er muss bereit sein, die Heimatlosigkeit des Menschensohns, sein Schicksal in dieser Welt zu teilen. Ja, selbst die Pflichten gegenüber der Herkunft, den Eltern und der Familie, die doch ihre Basis in der Tora haben, die auf Werte von zentraler Bedeutung (nicht nur im Judentum) hinweisen, werden relativiert. Das klingt nicht nur damals für alle provozierend, ja skandalös, die ein natürliches Wertempfinden haben. Das ist deshalb alles nur verständlich, wenn in Jesu Nachfolgeruf, der aufs engste verbunden ist mit seiner Predigt von der in ihm anbrechenden Königsherrschaft Gottes (auch wieder in unseren drei Nachfolgeworten) das höchste Gut, seine Fülle selbst erscheint: die Perle und der Schatz im Acker, für die es lohnt, alles zu verkaufen, alles hinter sich zu lassen, um sie zu erwerben. Neben dieses höchste Gut in seinem Anspruch an den Menschen, wie er sich im Nachfolgeruf artikuliert, dürfen die hohen Werte von Heimat und Familie nicht in Konkurrenz treten. Sie dürfen nicht das Feld besetzen, wo Jesus und die Königsherrschaft Gottes stehen. Denn ohne diese sind die natürlichen Ordnungen ein Totenreich: „Lass die Toten ihre Toten begraben.“ Wer Gottes Herrschaft verkündet, ist in der Nachfolge Jesu zum Leben übergegangen. Ganz wichtig: Durch diese radikale Relativierung wird kein geschöpflich-irdisches Gut und keine sittliche Pflicht aufgehoben. Dem, der Jesu Heimatlosigkeit teilt, wird letzte Geborgenheit in ihm („Kommt alle zu mir…“) verheißen. In dieser Verwurzelung in Jesus kehren alle natürlichen Güter in neuer Weise wieder (auch die Heimat). So antwortet Jesus ausdrücklich, wenn Petrus ihn fragt, was die bekommen, die alles verlassen. Und Jesus hat die scharf getadelt, die durch einen religiösen Trick (Qorban) die durch die Tora gebotenen Pflichten gegenüber den Eltern aushebeln wollen. Aber Jesus will unser Herz. Er will es ganz und ungeteilt, aufmerksam, wach und fokussiert. Wir sollen nicht pflügen und zugleich, weil wir uns nicht richtig ausgerichtet haben, zurückblicken. Denn das gibt schiefe Furchen. Wir sollen fokussiert dem Fokussierten folgen.
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
Weitere Beiträge aus der Serie Fridays for FAITH:
Evangelium des ersten Fastensonntags
Evangelium des zweiten Fastensonntags
Evangelium des dritten Fastensonntags
Evangelium des vierten Fastensonntags
Evangelium des fünften Fastensonntags
Evangelium des 2. Sonntags der Osterzeit
Evangelium des 3. Sonntags der Osterzeit
Evangelium des 4. Sonntags der Osterzeit
Evangelium des 5. Sonntags der Osterzeit
Evangelium des 6. Sonntags der Osterzeit
Evangelium des 7. Sonntags der Osterzeit