In der Verwaltung von Betrieben gibt es den Begriff der Wiedervorlage, d. h. ein wichtiger Vorgang oder eine Akte muss innerhalb einer Frist immer wieder vorgelegt werden, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Das trifft in Kirche und Gesellschaft auch auf die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit“ zu, meint Helmut Müller und bringt eigene Überlegungen, die ihn schon vor vier Jahren bewegt haben auf den neuesten Stand.

Alles nur gefühlt wahr?

 Die jüngste Gefährdung der Wahrheit, stellt ihre Vernebelung durch die Wokeness-Bewegung dar. Was ist das? „Die Prämisse des Woken lautet, dass sein Gefühl die Wahrheit ist. Daraus folgt: Wenn das Ich sich gekränkt fühlt, muss die Welt böse sein.“ Das meint Bernd Stegemann, Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Hinzugefügt werden muss im Hinblick auf die katholische Kirche: Wenn sie über Geschlechtsgrenzen und Treueversprechen hinweg nicht alles absegnet, wie, wen und wie viele man, offenbar auch  nacheinander, liebt, muss auch sie böse sein, oder wenigsten die Bischöfe und Kardinäle, die diesen Gefühlen der Mehrheit im Wege stehen. Genau genommen geht es nämlich nicht um den Segen von Personen, sondern um das Absegnen von Gefühlen, die Personen füreinander empfinden. Zu jedem Gefühl passt dann wohl eine Wahrheit. Diese Auffassung ist insofern nicht neu, dass es dann offensichtlich viele Wahrheiten gibt.

Eine Wahrheit und viele Richtigkeiten

Schon vor längerer Zeit kam mir zu Ohren, dass in einer Religionslehrerfortbildung behauptet wurde: „Die eine Wahrheit gibt es nicht.“ Das ärgerte mich umso mehr, da an dieser Fortbildung ehemalige Studenten von mir Teil genommen haben, denen ich etwas anderes beibringen wollte. Derjenige, der so etwas sagt, hält er seine eigene Aussage eigentlich für wahr? Ich will ihm helfen, wenn er noch nicht darüber nachgedacht hat: Er hält sie für richtig. Das ist sein gutes Recht. Wenn es aber um Religion geht und ihre Riten, sind ganz offensichtlich nicht nur bloße Richtigkeiten, von denen es viele gibt, gemeint, sondern das große Wort Wahrheit steht im Raum. Um in den Dimensionen leichter und schneller Lesbarkeit zu bleiben und auch gleich die grundlegende Wahrheit zu thematisieren, frage ich: Ist es eigentlich „wahr“ und zugleich richtig, dass Gott Mensch geworden ist in einem Galiläer, dem Mann Jeschua ben Marjam, Jesus von Nazareth?

Wahrheit in der Grammatik unseres Sprechens

Als Christen glauben wir, dass er wahrhaft der „Sohn“ Gottes ist, von gleicher Natur mit dem, den wir im Vaterunser Vater nennen. Ist das bloß auch unter anderem wahr? Ich habe meinen Studenten immer wieder gesagt: In unserer Begriffsbildung für Gott sind wir restlos überfordert. Ich habe ihnen vorgeschlagen, substantivisch Gott Vater zu nennen wie Jesus es im neuen Testament (Mt 6,9-13) getan hat. Adjektivisch können wir ihn wie Jesaja im Alten Testament auch mit einer Mutter vergleichen: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jes.66,13). Das heißt jetzt nicht, dass Substantive treffender wären als Adjektive, sondern nur: es braucht eine komplexe Grammatik um Wirklichkeit auszudrücken. Jede Sprache besitzt ein eigenes komplexes grammatisches System, um das, was wir spüren, sehen, riechen, hören, empfinden, denken, verstehen und meinen in Worte zu fassen, um all das anderen mitzuteilen. Unsere Sprache ist also auf die Wirklichkeit unserer Sinne geeicht, bzw. normiert.

Im Hinblick auf die Wirklichkeit Gottes sind wir deshalb – weil er sich unseren Sinnen entzieht – wie schon angedeutet, restlos überfordert. Wir können uns nur mit Analogien helfen. Als Religionspädagogen können wir Wittgenstein nicht folgen, der gesagt hat: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und  wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Das Judentum hatte nicht umsonst eine Scheu den Gottesnamen auszusprechen. Das allerdings wäre für christliche Religionspädagogen ein Berufsverbot. Jetzt leben wir aber nicht nur mit Christen zusammen in diesem Land.

Gefühlt-Katholisch?

Als Christ sollte es einen nicht unsicher machen, wenn ein Muslim oder ein Agnostiker oder ein Jude das bestreiten muss, wenn er den gleichen Begriff von Wahrheit hat, wie ich ihn habe. Ich hoffe sogar, dass er das tut, sonst kann ich gar kein sinnvolles Gespräch mit ihm führen, sondern nur unverbindliche Ansichten mit ihm austauschen. Warum hat sich Gott eigentlich das Christentum angetan? Und damit nicht genug, auch noch die katholische Kirche, die wirklich alle, aber auch jeder, reformieren möchte und zwar so, dass sie nachher gar nicht mehr als katholisch kenntlich bliebe, sie offenbar aber auch allen Gefühlen, die mit ihr verbunden werden entsprechen muss? Das hat nun auch die eigenen Reihen ergriffen. Ich habe hin und wieder den Eindruck übergriffig oder verkrustet rüber zu kommen, wenn ich sage, ich bin katholisch und nicht bloß Christ und binde diese Aussage nicht nur an meine Gefühle, sondern auch objektiv an das mir von meinen Eltern und der Kirche übermittelte Glaubensbekenntnis, die Sakramente und die Riten.

Anders-katholisch?

Das scheint sogar der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing zu registrieren, der mit einer ganzen Reihe anderer Bischöfe immer wieder von anders-katholisch redet, meint aber wohl noch gefühlt-katholisch zu sein, auch wenn sein Menschenbild, seine Sexualmoral, sein Verständnis von Weihesakrament und die Anwendung von Segensriten und vermutlich vieles andere mehr anders geworden ist. Nur eine Aussage von ihm: „Wir wollen unseren Glauben bewahren, aber wir sehen nicht, wie wir das mit dieser Kirche tun können.“ Wenn allerdings aus einer Reform eine Reformation wird, ist man nicht bloß anders katholisch, sondern man befindet sich schon im Begriffsgefüge einer anderen Kirche. Das hat niemand so klar gesagt wie Papst Franziskus, es gäbe in Deutschland schon eine gute evangelische Kirche. Reformen berichtigen Unrichtigkeiten. Bei einer Reformation verlässt man aber diese Ebene der diskussionswürdigen Richtigkeiten und befindet sich sehr bald schon auf einer Ebene, wo um Wahrheiten gerungen werden sollte, ohne dass irgendjemand sie sicher im Besitz haben könnte. Was ist etwa die wahre Kirche Christi, die Christus gestiftet hat? Sind Gläubige dabei der Auffassung, dass sie der mystische Leib Christi sind, wirft das schon ein Licht auf die Ausgangsfrage nach Gott:

Gott in den Spektralfarben seiner Gläubigen

Spielt Gott vielleicht mit uns Blinde Kuh und versteckt sich gar nicht in Kirchen, wo wir ihn seit unserer Kindheit suchen? Oder sind Kirchen bloß aus Zelten, Wohnzimmern, Häusern zu gewachsenen Steinkolossen geworden, von denen nur eine Deklaration zum Weltkulturerbe übrig bleiben wird, wenn Menschen sie weiter so in Scharen verlassen? Hat der Mann aus Nazareth sich nicht erbärmlich geirrt, wenn katholische Christen diesem „Irrtum“ folgen oder ihn überhaupt erst verbreitet haben, so sie in ihm das Haupt und sich selbst als seine Glieder verstehen? Ist er dann tatsächlich für uns so grässlich am Kreuz gestorben, oder ist er dort bloß bewusstlos, in der Kühle des Grabes wach geworden und dann nach Indien ausgewandert? Vielleicht ist alles viel undramatischer und Gott diktierte – woanders Allah genannt – und anderswo, allerdings stilvoll, Mohamed den Koran? Oder lässt er sich für Buddhisten gar nicht blicken? Und Hindus sehen ihn einfach überall? Ist er denn für Juden in seinem Himmel, oder besser jenseits der Zeit geblieben und hat die Drecksarbeit seine Propheten machen lassen? Oder ist er tatsächlich so vulgär – für die Griechen damals – in unserem Fleisch und Blut herum gelaufen, ohne zugleich strahlender Held wie Apollo oder berückend schön wie Aphrodite zu sein? Handelt es sich „nach neuesten Erkenntnissen“ vielleicht bei dem Begriff Gott bloß um eine Globalneurose, die uns seit mindestens 40000 Jahren unterschiedlich stark befällt und endlich therapiert werden kann?

Um all das sollte gestritten werden, ohne einander an die Wäsche zu gehen. Auch wenn ich mir eben an die eigene Wäsche gegangen bin, wenn ich den eigenen Glauben so respektlos – rhetorisch – hinterfragt habe. Jedenfalls sollten mehr als bloß Ansichten ausgetauscht werden, um dann zu einer gemeinsamen Ansicht zu kommen: Es gäbe die eine Wahrheit nicht.

Wahrheit, ein Stresstest für Skeptiker

Wenn nicht, gibt es dann also wenigstens zwei oder mehrere Wahrheiten? Nein, Wahrheit ist eigentlich so definiert, dass es in derselben Hinsicht nur eine gibt. Nur in der Quantentheorie gibt es Richtigkeiten, die einander widersprechen. Dass es gar keine „Wahrheit“ gibt, ist auch in einem gewissen Sinne nachvollziehbar. Denjenigen nennt man Skeptiker, der das vertritt, und selbst der ist hin und wieder überzeugt, dass Skepsis richtig oder sogar „die Wahrheit“ ist. Der einzige Skeptiker, der mich überzeugt hat, ist Emil Michel Cioran. Er ist 84 Jahre alt geworden und hat seine Auffassung ein ganzes Leben lang nicht nur gedacht, sondern gelebt: Als Skeptiker würde er alle 10 Sekunden seine Meinung wechseln, schrieb er einmal. Eine Studentin, die sich mir gegenüber als Skeptikerin bezeichnete, war nach einer ausgezeichneten Seminararbeit über Cioran keine Skeptikerin mehr. So lange ich gelehrt habe, versuchte ich meinen Philosophie- und Lehramtsstudenten für katholische Religionslehre beizubringen: Wahrheit kann man nicht einfachhin wissen, aber man sollte sie vernünftig bekennen können. Und an dieser Stelle hoffentlich mit guten Argumenten eine Plausibilität erzeugen, dass es nur eine gibt, auch auf die Gefahr hin, der Rechthaberei bezichtigt zu werden.

Das Copyright für Wahrheit unter Produktpiraten

Auch die katholische Kirche besitzt nicht das Copyright für Wahrheit, aber sie besitzt das Copyright, dieselbe katholisch zu bekennen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Denn wer Niveacreme kauft, hofft, dass auch Niveacreme in der Dose drin ist, die er kauft, ebenso sollte der „Markenartikel“ katholisch gegen Produktpiraterie gesichert sein, auch gegen eine, die sich anders katholisch nennt. Niemand kauft eine Katze im Sack – etwa wenn alles anders sein kann, nur nicht römisch-katholisch. Wer sich jedenfalls ständig scheut, das zu sagen, was er für wahr hält oder bloß sagt, er sei Christ – Klugheitsgründe ausgenommen – nur um nicht anzuecken, verläuft sich irgendwann in der Schweigespirale Elisabeth Noelle-Neumanns und wird am Ende schließlich sprachlos.  Selbst Papst Franziskus, der sich mit Lehraussagen wie kein Papst vor ihm zurückhält, hat mittlerweile schon mehrmals die katholische Kirche in Deutschland gemahnt, das römische Copyright nicht zu übergehen oder zu vervielfältigen.

„Einer muss sie (die Wahrheit) aber sagen!“

Deshalb, um mit dem Pallottiner Pater Richard Henkes zu sprechen: „Einer muss sie aber sagen“.  Es hat ihn das Leben gekostet. Im dritten Reich hat ihn das ins KZ gebracht, in dem er auch umgekommen ist. Heute kostet einen das nur Karriere und eine Einbuße an Reputation. Unter Umständen ist man gegen irgendetwas – es kommt auf den Kontext an –  ***phob. Wer ***phob ist, ist jedenfalls nicht auf der Höhe der Zeit – wenn man nicht gerade das gutheißt – was eine Mehrheit für richtig hält. Sollte das „Richtige“ sogar das Ergebnis eines Diskurses sein, dann hat man etwas nicht richtig verstanden, fällt hinter den kritischen Kant und Bahn brechende Einsichten von Habermas zurück oder hat Foucault nicht verstanden, wenn man seine Entdeckung des Begehrens in der Sexualmoral nicht nachvollzieht. Dann fliegt man aus jeder Kurve des Diskurses: Wenn man ihn verweigert ist man ein Dickkopf, wenn man ihn nicht versteht, ein Dummkopf. Eins von beiden bin ich wohl.


Der Beitrag ist am 5.10.2019 bei kath.net erschienen, von Helmut Müller nun aktualisiert mit erheblichen Erweiterungen.


Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

Bild: Peter Esser

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