Vor mehr als 30 Jahren betätigte sich der Publizist Johannes Groß als Prophet: Er sagte voraus, in wenigen Jahrzehnten werde man die evangelische Kirche verachten, die katholische Kirche aber hassen. Bernhard Meusers Replik auf die Empörung, nachdem ein Pfarrer wegen einer unerlaubten Segensfeier gerügt wurde und die breite innerkirchliche Solidarisierung mit dem ermahnten Pfarrer zeigt, dass aus dem Hass von außen mittlerweile kirchlicher Selbsthass geworden ist.

In Nordrhein-Westfalen geht es hoch her. Was ist passiert? In einem Akt pastoraler Torheit hatte ein Pfarrer des Erzbistums Köln in Mettmann-Wülfrath einen „Segnungsgottesdienst für alle sich liebenden Paare“ abgehalten. Er tat dies im Widerspruch zu Lehre und Recht der Katholischen Kirche, wonach es nicht erlaubt ist, „Beziehungen oder selbst stabilen Partnerschaften einen Segen zu erteilen, die eine sexuelle Praxis außerhalb der Ehe (das heißt außerhalb einer unauflöslichen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die an sich für die Lebensweitergabe offen ist) einschließen, wie dies bei Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts der Fall ist“. Ein Kirchenmitglied hatte in Rom deswegen Klage geführt. Rom bestätigte. Der zuständige Bischof tat, was er tun musste; er verwarnte den Beklagten in moderaten Worten.

Damit öffnete der Kölner Kardinal quasi die Pforten der Unterwelt. Heraus rollte eine Flutwelle von Hass und Empörung. Das Maß sei voll, das Fass übergelaufen, der Unmensch auf dem Bischofsstuhl müsse endlich vertrieben werden. Priester solidarisierten sich im Gestus der Menschenfreundlichkeit mit dem Wülfrather Pfarrer. Nachbarbischöfe duckten sich bis unter den Fußboden und bekannten ihre Toleranz. Bleibt nur abzuwarten, was geschieht, wenn die nächsten Kläger aus Aachen, Essen oder Münster in Rom Klage führen. Werden die Bischöfe die universalkirchliche Botschaft pflichtgemäß überstellen?

Zwei Religionen unter einem Kirchendach

Hinter dem Pulverdampf tun sich die Fronten auf. Hier ist eine „anders katholische“ Kirche, die mit den Menschen geht, ihre Gefühle versteht und ihre Wünsche erfüllt. Und da – jenseits der Alpen – eine böse, hartherzige Amtskirche, die auf ihren Prinzipien herumreitet, Menschen diskriminiert, ihnen Leben verweigert, sie gar in den Suizid treibt. Eine Kirche, die Ausgrenzung und Hass im Portfolio hat? Kann das sein? Einigen Nachdenklichen fällt auf, dass auch der gute, mit soviel Hoffnung begrüßte Papst Franziskus Teil dieser Neinsager-Kirche ist. Doch das wagt man noch nicht laut zu sagen. Scheinbar unversöhnlich stehen sich in der gleichen Kirche zwei „Religionen“ gegenüber – eine „Religion der Menschenfreunde“ und eine „Religion der Menschenfeinde“. Der Graben ist so klaffend wie der Anlass geringfügig zu sein scheint: Es geht um einen verweigerten Samstagnachmittagsgottesdienst. Segen gestrichen! Darüber zerlegt sich die Katholische Kirche, jedenfalls in Deutschland.

Aber ist es nicht aller Ehren wert, Menschen, die nicht so ticken wie andere, aus dem Schatten zu holen, ihnen Beachtung und Würde zu geben? „Die im Dunkeln sieht man nicht“, hatte Bert Brecht einst gemahnt. Diese Lektion haben hoffentlich alle in der Kirche verstanden. Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung und Praxis nicht zu bewerten und ihnen Verständnis und Annahme entgegenzubringen ist unbedingt notwendig in einer Gemeinschaft, die sich auf Jesus beruft. Ist es dann aber nicht tatsächlich böse, Menschen einen Segen vorzuenthalten, nur, weil sie in gleichgeschlechtlichen oder anderen Partnerschaftsformen jenseits der Ehe leben? Kann man Eltern nicht verstehen, deren Tochter mit lesbischer Liebe experimentiert, oder deren Sohn ihnen plötzlich seinen „Mann“ präsentiert? Das reißt Wunden der Liebe auf. Kann die Kirche diesen Kindern nicht ein wenig Segen spenden, ein kleines Ritual vornehmen, ein bisschen Feier in der Kirche? Kostet doch nichts! Sind die im Vatikan denn bescheuert?

Das Terrain ist derart von Missverständnissen verhangen, dass man dem Anliegen nur dient, wenn man Licht in die Sache bringt. Nein, die Kirche ist nicht böse. Ja, gesegnet werden kann jeder Mensch. Nein, eine eheähnliche Liturgie kann es trotzdem nicht geben, denn die Ehe ist der von Gott gestiftete Bund zwischen Mann und Frau, in dem Hingabe und Fruchtbarkeit zum Bild und Gleichnis für die Vereinigung Christi mit der Kirche werden. Ja, Menschen, die anders leben, sind in der Kirche willkommen; sie stehen genauso wie alle anderen Menschen unter dem Wort Gottes; sie sind Sünder wie alle und müssen sich wie alle vor Gottes Richterstuhl verantworten. Ein paar Prinzipien gibt es freilich, die allerdings nur versteht, wer Prinzipien nicht für den Gegensatz von Humanität hält, sondern für deren Ermöglichungsgrund:

Ein paar Prinzipien

 Nemo dat, quod non habet.

Niemand kann geben, was er nicht hat. So lautet der alte Rechtsgrundsatz, der auch in der Kirche gilt. Die Kirche kann nicht verteilen, was sie nicht besitzt. Die Kirche „hat“ keinen Segen, über den sie gewissermaßen an Gott und der Heiligen Schrift vorbei verfügen kann. Der Kern des Segens ist eine Gebetsbitte an Gott. Gesegnet werden kann jede Person, Handlung oder Absicht in Hinsicht auf das Gute, das sie mit Gottes Hilfe erstrebt. So hat die Kirche keine Vollmacht, eine sexuelle Vereinigung zu segnen, die in der Heiligen Schrift (Röm 1,26-27) explizit als existenzieller Widerspruch zum Schöpfungswillen Gottes und als zeichenhafter Ausdruck der gefallenen Schöpfung beschrieben wird. Manchem gefällt das nicht. Die Kirche kann aber so wenig etwas gegen die Heilige Schrift beschließen, wie der Apfelbaum beschließen kann, ab morgen Ananas hervorzubringen.

Prinzip 2: Stellvertreterkriege sind unmoralisch.

Nun sind Kriege überhaupt unmoralisch, aber den einen zu schlagen, um den anderen zu treffen, ist doppelt unfein. In einer Kette der Feigheiten schlägt man den Nächstschwächeren und gelangt so niemals zum eigentlichen Urheber des Konflikts. Nicht der Erzbischof von Köln ist böse, nicht die Kurie ist böse, nicht der Papst ist böse, nicht die Sexualmoral ist böse, nicht die Kirche ist böse. Nicht einmal Paulus ist böse. Am Ende denken die Leute noch: Jesus ist böse. Gott ist böse. Sein Schöpfungsplan ist eine Katastrophe. Das Wort Gottes ist falsch. Wie kommt Jesus dazu, der Samariterin ihre Liebschaften vor die Nase zu halten, die Ehe für unauflöslich zu erklären, den unkeuschen Augenflirt zu inkriminieren, wegen „Unzucht“ andere Menschen vom Gottesreich auszuschließen?

Prinzip 3: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Die berühmte Gedichtzeile von Gertrude Stein gilt auch für die Ehe: Eine Ehe ist eine Ehe ist eine Ehe – will sagen eine gegebene Wirklichkeit, kein gesellschaftliches Konstrukt, das man nach aktuellem Wissenstand und politischen Mehrheiten umbauen kann. Ehe bedeutet: die dauerhafte, geschlechtliche, Fruchtbarkeit ermöglichende Vereinigung eines Mannes mit einer Frau.  Nur in einem Universum, in dem es weder Wesen noch Natur gibt, kann die Ehe eine soziale Vereinbarung sein. Der neuzeitliche Positivismus, in dem Dinge, Identitäten und Relationen jeweils nur das sind, auf was sich eine Gruppe verständigt, ist ein intellektuelles Glasperlenspiel. Auch die »Menschenrechte würden dann nur auf Verständigung basieren! Im Obersatz würde behauptet, was im Untersatz geleugnet wird. Wie eine Rose keine Ehe und eine Ehe keine Rose ist, so ist eine Freundschaft keine Ehe, und eine Ehe keine Freundschaft, wiewohl Eheleute hin und wieder auch befreundet sind. Die konventionelle Verständigung auf „Ehe für alle“ ist eine rechtspositivistische Setzung und ein falscher Name für etwas Gutes: verbindliche Partnerschaft auf Basis von Freundschaft.

Prinzip 4: Nur wer Gott ernst nimmt, nimmt den Menschen ernst.

Segen könnte sich jeder, der dies will, im stillen Kämmerlein spenden. Den Lobbyisten von LGBTQI – es gibt sie auch im Inneren der Kirche – geht es nicht um Frömmigkeit und Segen, sondern um den Bruch, die imperiale Geste, die kulturbrechende Performance: Installiert werden soll im „Neuen Bund“ der „neueste Bund im Zeichen des Regenbogens“: Eine neue Sprache. Abschied von Mann und Frau. Zerstörung der klassischen Familie. Sex ohne Limit. Man erkennt das am Streben nach Öffentlichkeit, Symbol und Liturgie: Es muss der Altar sein, dazu Albe, Stola, Orgelklang und Weihrauch. Fallen soll die weltweit letzte Bastion gegen die „Ehe für alle“ – eine Kirche, die sich unter Zittern und Zagen noch immer weigert, das Ehesakrament für unspezifische Beteiligte zu öffnen. Die Forderung nach Segen ist eben nicht nur vom Wunsch nach seelsorglicher Begleitung bestimmt, sondern hat hegemonialen Anspruch: Wir bestimmen, was Liebe, Ehe, Sex ist. Wir dringen in den Kult ein, besetzen die Kultstätte. Deshalb muss der Segen dem Sakrament so ähnlich wie möglich sehen. In einer kirchlichen Welt, in der ohnehin alle Katzen grau sind, fällt das niemandem auf. Darum hat Papst Franziskus Recht, wenn er in „Amoris Laetitia“ sagt: „Was die Pläne betrifft, die Verbindungen zwischen homosexuellen Personen der Ehe gleichzustellen, gibt es keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.“

Prinzip 5: Der versündigt sich, der falsche Versprechungen macht.

Wer kennt nicht das sympathische schwule oder lesbische Pärchen, das keiner Fliege etwas zu leide tut, das gläubig ist und nach Gott sucht. Wer nimmt ihnen etwas weg? Die ihnen das volle, manchmal rätselhafte, manchmal fremde, immer überfordernde Evangelium nicht vorenthalten, sie dabei achten und annehmen? Oder diejenigen, die ihnen weismachen, mit ihnen würde die Kirche und das Zeitalter der Barmherzigkeit noch einmal beginnen, sie würden das mit den ethischen Anforderungen schon deichseln und alles sei nur eine Frage der Zeit, bis auch die übrige Kirche in der Moderne – sprich: bei ihnen – angekommen sei. Mich überzeugen Menschen, die ihre Schwäche, ihre Wunden und unvollkommenen Lebensversuche nicht dadurch verklären, dass sie an Gott und der Kirche schrauben. Sie leben mit ihren Dissonanzen und Unvollkommenheiten, bekennen ihre Sünden, lassen sich vom Wort Gottes überraschen und versuchen sich auf dem schmalen Weg ins Leben.


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.


Foto: Imago Images

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