Woran orientieren in der Orientierungskrise? So ziemlich die ganze Welt schüttelt den Kopf über die Deutschen, die einmal Weltmeister im Bösen waren und sich jetzt anstrengen Weltmeister im Guten (Norbert Bolz) zu werden. Auch der Mann aus Nazareth muss herhalten. Wer vereinnahmt ihn, wer orientiert sich an ihm? Nach dem Ende des Synodalen Weges und seiner geplanten Fortsetzung durch den Synodalen Ausschuss ringt man zwischen Flensburg und Garmisch um Orientierung, entweder an Limburg oder an Rom. Gedanken dazu von Dr. phil. Helmut Müller.
„Können Sie mir sagen, wo ich eigentlich hin will?“
„Können Sie mir sagen, wo ich eigentlich hin will?“ So fragte einmal mein „Lieblingsphilosoph“ Karl Valentin jeden ihm Begegnenden auf dem Viktualienmarkt. Ganz so lustig ist die Krise, in der sich die Kirche zwischen Flensburg und Garmisch befindet, nicht. Alle Päpste seit Paul VI. haben sich in Fragen der Orientierung dezidiert auf das Evangelium berufen. Auch Bischof Bätzing bezog sich in seinem geistigen Impuls auf das Evangelium des Tages am letzten Tag der Zusammenkunft des synodalen Weges. Das Gleichnis vom barmherzigen Vater war sein Thema: Der synodale Weg sei ein Heimweg zur Barmherzigkeit Gottes, meinte er.
Ist da nicht bloß billige Gnade übrig geblieben? Billige Gnade ist bei Bonhoeffer „der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament.“ Ja, Barmherzigkeit Gottes ist ein Heimweg, aber ob man sich auf dem synodalen Weg auf einem solchen befindet?
Sr. Philippa Rath OSB sprach im Impuls davor gleich von mehreren Wegen. Welchen Weg ist der synodale Weg aber bisher gegangen, der dann ein Heimweg wäre? Ich habe den Eindruck, das Gleichnis müsste dann uminterpretiert werden: „Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Die Welt, in der du lebst, ist nicht mehr die meine. Ich lass deine alte Welt hinter mir und werde zeitgemäß in der neuen leben.“
Heimweg, Irrweg oder was?
Es geht uns heute nicht besser als den Jüngern damals. Die Worte Petri nach dem Evangelisten Johannes „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens,“ (Joh. 6,68) gelten auch noch heute. Petrus sprach diese Worte als viel Volk Jesus enttäuscht verlassen hatte, weil seine Botschaft nicht in ihr Lebenskonzept passte. Als darauf Jesus die Zwölf ansprach: „Wollt auch ihr weggehen„, antwortete Petrus als Wortführer wie oben angegeben. Diese Worte bringen zum Ausdruck, dass Petrus erkannt hat, dass es unter allen Rabbinern Palästinas nur diesen einen gibt, der tatsächlich mit der Vollmacht Gottes redet. Man könnte verdeutlichen: „Es gibt so viele Schwätzer, die einen hier hin und dort hin weisen, die aus den Sternen lesen und die den Römern aufs Haupt schlagen wollen. So einer bist du nicht. Du sagst wirklich was zählt.“
Lehren mit Vollmacht nicht mit Verfahrensmacht
Das war nicht nur die Erkenntnis von Petrus. Als er nämlich einmal in Kapharnaum redete, lesen wir im Markus-Evangelium: „Er lehrte wie einer der Vollmacht hatte, nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22). Letztere finden schöne Worte, sind vielleicht Begriffsakrobaten, ja können uns mit Worten richtig packen bzw. heute mehr mit plakativen Aktionen oder dem Agieren mit dem „Tandem Sentimentalität und Moralisierung“ (Norbert Bolz), Taktieren mit Tränen und der Tragik, dass das Priestertum Männern vorbehalten ist. Reden mit Vollmacht ist mehr. Jesaja markiert den Unterschied und charakterisiert die „Vollmachtrede“ in der Gott aus dem Munde des Propheten spricht: „Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das wozu ich es ausgesandt habe.“ (Jes. 55, 10ff) Diesen Eindruck hatten auch die Zeitgenossen Jesu, wenn er zu ihnen sprach.
Wie gelingt mein Leben nicht nur hier und jetzt!?
Schon zu seiner Zeit war also der Mann aus Nazareth Anlaufpunkt vieler nach Orientierung Suchender, vor allem junger Menschen. Das neue Testament ist voll von Geschichten, wo Menschen, Männer wie Frauen, zu Jesus von Nazareth kommen und von ihm erwarten, Wegweisungen zu einem gelingenden Leben zu empfangen. So war es auch mit dem – nach Mt. jungen Mann – in meiner Schulbibel wurde er noch der reiche Jüngling genannt – der eines Tages zu ihm kam und ihn fragte: „Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ (Mt 19,16) – modern gesprochen – was muss ich tun, damit mein Leben gelingt?
Orientieren an Limburg oder Hören auf Rom?
So wie damals der Mann aus Nazareth Anlaufpunkt für Orientierungssuchende gewesen ist, so ist er es für uns Christen auch heute noch. Johannes Paul II. hatte seiner Enzyklika Veritatis splendor – das war eine Enzyklika über das Gewissen – diese Geschichte von dem Orientierung suchenden jungen Mann vorangestellt. Diese Geschichte kann auch für uns ein Einstieg sein, wie wir in der Version des Evangelisten Matthäus das Wort des Propheten Micha verstehen können: „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist“ (Micha 6,8).
Man müsste nur hinzufügen: Hinhören, dem Richtigen zuhören und dem dann gehorsam folgen. Nicht dem, was gerade an der Lahn umgesetzt wird, sondern dem, was am Tiber eingefordert wird. Denn es gilt weiterhin den Worten in Rom folgen und nicht den Taten in Limburg: „Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht“ (Mt 23,3)
Vielfalt zwischen Flensburg und Garmisch und zwischen Tiberias und Jerusalem
Ein klein wenig gleicht die damalige Gesellschaft der unseren: Das Volk, das ursprünglich aus der Wüste kam, ist schon seit Jahrhunderten den Einflüssen fremder Kulturen ausgesetzt. Es hat seit mindestens einem halben Jahrtausend seine staatliche Eigenständigkeit verloren:
- Kanaanäische Sitten,
- mesopotamische Bräuche und
- ägyptische Weisheit gingen dem Leben in einer
- hellenistisch geprägten Umwelt im multikulturellen
- Imperium Romanum voraus. Die Orientierung am
- Glauben der Väter fiel einem suchenden Jugendlichen der Zeit Jesu nicht wie eine reife Frucht in den Schoß. Sie musste aus anderen Angeboten herausgefiltert werden. Nicht weit von dem verschlafenen Nazareth lag das
- hellenistisch geprägte Kapharnaum, die
- ehemalige Hauptstadt Galiläas Sepphoris (Bild) und
- die römische Neugründung Tiberias. Auch den Glauben der Väter gab es nicht in einer inquisitorisch geschützten Standardversion, sondern
- Pharisäer,
- Sadduzäer und
- Essener, um nur drei Gruppierungen zu nennen, stritten um Geist und Herz suchender Menschen. Der Mann aus Nazareth war darüber hinaus nur einer von vielen Rabbis, die damals auf dem spirituellen Supermarkt Palästinas ihre Heilslehren anboten.
Orientierungskriterium: radikaler Entscheid für das Gute
Der junge Mann, von dem die Synoptiker berichten, war schon aus der gröbsten Orientierungsnot heraus. Er hatte sich für den Glauben der Väter entschieden und gegen das schillernde Pandämonium der hellenistischen Umwelt, das vielleicht „bloß um die Ecke“, in Kapharnaum, Sepphoris und Tiberias zu finden war. Er hatte sich Jesus als Wegweiser auserkoren und war auch nicht enttäuscht, als er von diesem nichts Neues hörte, sondern schlicht auf die Tradition verwiesen wurde. Diese hatte er hoch gehalten und erwartete, dass er als Jünger aufgenommen würde. Aber der Mann aus Nazareth verlangte noch mehr. Er verlangte einen radikalen Entscheid für das Gute, im Konfliktfall sogar gegen das Angenehme und Schöne.
Assoziationen drängen sich auf: Vor nicht allzu langer Zeit musste selbst der Spiegel seinem Lieblingsgegner Johannes Paul II. am Ende seines Lebens mit Hochachtung seine Referenz erweisen:
„Wie kann es sein, dass eine Einrichtung, die von jedem Mc Kinsey-Prüfer wegen Antiquiertheit sofort geschlossen würde, eine Menschenmenge auf die Plätze bringt, wie bislang nur der Islam, zur Pilgerzeit in Mekka? … Von Beginn seines Pontifikats an war es gerade die schroffe Weltabgewandtheit und Antimodernität, mit der er die Welt erobert hat. Wojtylas Katholizismus war immer randscharf. Die katholische Kirche, so Papst Johannes Paul II., ist keine Feelgood-Veranstaltung für jedermann: entweder wir oder die anderen. Beides geht nicht. Dass er damit besonders bei Jugendlichen ankam, gehört zu den Paradoxien seines Papsttums. Mit seinem Nuscheln, der Hinfälligkeit, war er auf geradezu obszöne Weise das Gegenteil von Jugend in einer jugendbesessenen Welt. Teenager brachen darüber in Freudentränen aus. Beobachter sprachen von einem Rockkonzert ohne Drogen. … ‚Ich habe euch gesucht’ wurde den bleichen Lippen des Karol Wojtyla noch abgelesen, einer seiner letzten Sätze. Jetzt steht die Jugend vor der Tür und die katholische Kirche vor der Aufgabe, damit fertig zu werden.“[1]
Das radikal Gute – der einzige Maßstab, an dem wir unser Versagen messen sollten.
Zu den Parallelen: Beide, der Mann aus Nazareth und seine Stellvertreter in Rom verweisen zunächst auf die Tradition, auf allgemein Gültiges. Darüber hinaus verlangen alle einen hohen Ethos, eine ernsthafte innere Gesinnung, den radikalen Entscheid für das Gute. Jesus steht im Zentrum der christlichen Moral. Er ist der Orientierungspunkt, kein unpersönliches System und auch nicht billige Gnade, wie sie das neue Arbeitsrecht zulässt, das nur noch Maß an den Schwächen seiner Mitarbeiter und nicht mehr an den Forderungen Jesu nimmt.
Auch wenn man Johannes Paul II. in jüngster Zeit Vorwürfe macht, sich nicht immer für das radikal Gute entschieden zu haben – was noch zu erweisen ist – ist weiterhin nur personengebundene christliche Moral glaubhaft; als moraltheologisches Handbuch aber ist sie ein Ladenhüter. Als bloße Wiedergabe dessen, was so viele machen oder „gefühlt richtig“ ist, braucht man keinen Mann aus Galiläa und auch keine Männer in Rom oder sonst wo. Selbst wenn man sie komplett durch Frauen ersetzen würde, bleibt das radikal Gute der Maßstab, selbst wenn es der Maßstab wird, an dem wir unser Versagen messen können.
[1] Smoltzcyk, Alexander u.a.: Ein Reich, nicht von dieser Welt. In: Der Spiegel15, 11.4.2005. S. 96 u. 97.
Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag.