Geht es in der Kirche um Macht oder geht es um den Glauben? An dieser Linie scheidet sich die Frage, was die Kirche antreibt und welche Ziele sie verfolgt. Erkennbar wird diese Frage im Sündenbekenntnis und in der sakramentalen Vergebung. Im Fokus der Kirche ist das Heil der Seele. Alles andere tritt dahinter zurück. Von P. Engelbert Recktenwald

Wenn Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reiches“, in seiner vielzitierten „Tyrannei der Werte“ der Behauptung einer vom menschlichen Willen unabhängigen Geltung von Werten Betrugsabsichten unterstellt, dann steht er in der nietzscheanischen Tradition, die moralische Ansprüche als ein Täuschungsmanöver im Dienst von Machtinteressen entlarven will. Das Gleiche finden wir bei einer Ikone der Linken, dem Philosophen Michel Foucault. Auf diese Parallele macht Susan Neiman in ihrem Buch „Links ist nicht woke“ aufmerksam. Sie zitiert Foucault: „Geht es in einer Auseinandersetzung um Gerechtigkeit, dann, weil sie ein Werkzeug der Macht ist.“ Foucault will nach eigenem Bekunden die „moralische Unterscheidung zwischen Unschuldigen und Schuldigen in Frage stellen“.  Damit betreibt er die Abdankung des Moralischen, so dass sich jeder Konflikt in eine reine Machtfrage verwandelt, die die Frage nach Recht und Unrecht überflüssig macht. Noam Chomsky, der ihn in Diskussionen über diese Themen erlebte, bekannte, er habe nie einen so amoralischen Menschen wie Foucault getroffen. 

Abschaffung von Unrecht

Ähnlich wie der mit ihr befreundete Philosoph Omri Boehm besteht Neiman darauf, dass jedes Engagement gegen Unrecht auf dem Boden des Universalismus stehen muss: Beim Kampf gegen die Sklaverei in den USA ging es nicht einfach nur um den Konflikt zwischen zwei partikulären Machtinteressen, nämlich denen der Sklaven und denen der Sklavenhalter. Sondern es ging um die Abschaffung schreienden Unrechts. Es ging um Gerechtigkeit. Das Gleiche gilt für den Kampf gegen den Rassismus. Martin Luther King machte die Rechte der Unterdrückten nicht im Namen ihrer Hautfarbe, sondern im Namen ihres Menschseins geltend. Das machte es auch Weißen möglich, sich dem Kampf gegen den Rassismus anzuschließen. Das einigende Band zwischen Schwarzen und Weißen war die gemeinsame Anerkennung der Universalität des Gerechtigkeitsanspruchs, der jedes bloß partikuläre Machtinteresse transzendiert. Es ging nicht um Macht, sondern um Gerechtigkeit.

Die Abschaffung moralischer Kategorien dagegen verwandelt jeden Konflikt in eine bloße Machtfrage. Moralische Ansprüche, etwa im Namen der Gerechtigkeit oder der Menschenrechte, werden dann zu einer List erklärt, die der Verschleierung egoistischer Antriebe dient. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, lautet Carl Schmitts Verdikt über den Universalismus.  Dieselbe „Metaphysik der Verdächtigung“ (Neiman) finden wir bei Foucault. Er benutzt sie wie eine Brille, durch die er alle historischen Prozesse betrachtet, und wie einen Filter, der alles ausfiltert, was die Monopolstellung des Machtgesichtspunktes in Frage stellen könnte. Typisch ist z.B. seine Deutung des humanitären Fortschritts im Strafvollzug: Aus der Verminderung der Grausamkeit wird bei Foucault eine Steigerung der Raffinesse, die das Repressionsausmaß der Strafe verschleiere.

Reduziert auf die Machtfrage

Dasselbe ist in seiner Analyse der Diskurse über Sexualität beobachtbar: Die Funktion des Sündenbekenntnisses im Bußsakrament wird ausschließlich unter dem Aspekt der Diskursmacht analysiert. Die Mahnungen zum Beispiel des hl. Alfons Maria von Liguori zur Diskretion in der Nennung der Sünden gegen die Keuschheit werden so kontextualisiert, dass sie wie ein Trick erscheinen, der die angebliche Kontrollfunktion des vom Beichtvater gesteuerten Sexualitätsdiskurses verschleiern soll. Der für das Verständnis des Sündenbekenntnisses wesentliche Gesichtspunkt, nämlich die Sündenvergebung als Sinn und Zweck des Bußsakraments, wird ausgeblendet. Die Möglichkeit, dass der Beichtvater ernsthaft daran glaubt und dass es ihm um das Wohl des Beichtkindes geht, erscheint nicht einmal am Horizont der Gedankenführung. Sie wird nicht explizit in Abrede gestellt, sondern subkutan ins Reich des Undenkbaren verwiesen. Diese konsequente Anwendung des erläuterten Filters hat etwas so Suggestives, dass Jean Améry zurecht bemerkte, Foucault kläre nicht auf, sondern hypnotisiere.

Ganz anders fällt das Urteil von Magnus Striet aus. Er hält Foucaults Arbeiten für eine freiheitseröffnende Aufklärungspraxis. Die Befreiung besteht in der Auflösung moralischer Normen, die Aufklärung in der Entlarvung dieser Normen als Werkzeuge kirchlicher Machtausübung. Foucaults Fokussierung auf die Machtfrage ist für Striet nicht etwa die Verkennung dessen, worum es im Glauben geht, sondern umgekehrt bedeutet für ihn die Glaubensfrage eine Ablenkung von der Machtfrage: „Sehr ungern redet man hier [in der Kirche, ER] über Macht, auch wenn man sie faktisch ausübt. Stattdessen spricht man lieber von Charismen und Talenten, vom göttlichen Willen und gestifteten Ordnungen.“ 

Auf diesem Hintergrund wird die Logik der Reformagenda des Synodalen Wegs verständlich: Wenn man von Synodalen hört, dass sie die Machtfrage stellen, dann wirkt dies wie ein Aufruf, endlich zur Sache zu kommen. Die damit suggerierte Botschaft lautet: Es geht in Wirklichkeit nicht um göttlich gestiftete Ordnungen, sei es um die Schöpfungsordnung (in der Morallehre), sei es um die Kirche als Stiftung Christi (in ekklesiologischen Fragen), sondern um Macht. Den vier dissidenten Bischöfen wurde folgerichtig unterstellt, dass sie an ihrer Macht klebten. Der Machtdiskurs drängt Glaubensmotive in die Rolle bloßer Vorwände zur Durchsetzung von Machtinteressen.

Redlichkeit suchen

Auf dem Hintergrund der Unterstellung, dass die Glaubensfrage der Verschleierung der Machtfrage diene, wirkt die Aufdeckung der kirchlichen Missbrauchsskandale wie eine Bestätigung, nach dem Motto: „Da haben wir’s! Die Kirche glaubt doch selbst nicht an das, was sie lehrt, sonst wäre dieses Ausmaß des Skandals und seiner Vertuschung nicht möglich gewesen.“ Hier wirkt die Hinwendung zur Machtfrage wie ein Akt befreiender Ehrlichkeit. Aus dieser Wirkung gewinnt die von Bischof Voderholzer zurecht beklagte Instrumentalisierung des Missbrauchs ihre ganze Plausibilität.

Als Alternative zu dieser Art der Ehrlichkeit kommt nur jene in Frage, zu der Papst Benedikt 2011 in seiner Freiburger Rede aufgerufen hatte: „Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen.“ Taktik schielt auf Macht. Die totale Redlichkeit besteht in der Abkehr von allen Machtinteressen. Das meinte Benedikt mit „Entweltlichung“. Diese ist, wie er ausführt, die Voraussetzung für das missionarische Wirken der Kirche. Denn nur, wenn die Kirche den Glauben in Wort und Tat ernst nimmt, kann es ihr darum gehen, die Menschen zu Gott zu führen, statt sie „für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen.“

Synodale stellen die Machtfrage, Papst Benedikt die Glaubensfrage. Jene opfern ihr infolge machttheoretischer „Aufklärung“ die kirchliche Lehre, der Papst gibt aus Glaubensgründen jedem kirchlichen Machtstreben eine Absage. Die Ehrlichkeit des ersten Weges besteht in der Foucaultschen Ent-Täuschung über die Natur kirchlicher Lehre: Sie wird als ein vorgebliches Mittel der Machtausübung fallengelassen. Die Ehrlichkeit des zweiten Weges besteht in der Aufrichtigkeit des Glaubens daran, dass kirchliche „Macht“ in der von Christus übertragenen Hirtenverantwortung besteht, die ihr inneres Maß allein im Heil der Seelen findet. Sie macht die Glaubenslehre zu einer Quelle innerer Reinigung und Erneuerung der Kirche mit Blick auf Christus, der sich aus Liebe zu uns in die Ohnmacht des Kreuzes hineingegeben und so alle Macht des Bösen gebrochen hat. Gelebter Glaube bedeutet, Ihm auf diesem Weg nachzufolgen. Nicht in der Schule Foucaults, sondern in der gläubigen Nachfolge Christi findet die Kirche wieder zu dem zurück, was sie sein soll.


Pater Engelbert Recktenwald
Jahrgang 1960, ist Priester der Petrusbruderschaft und Schüler von Robert Spaemann. Er betreibt das „Portal zur Katholischen Geisteswelt“ und wirkt als Seelsorger in Hannover.

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