Europa war einmal ein leuchtender Stern. Ist seine Zeit um? Verglüht Europa gerade? Jerusalem, Athen und Rom sind die drei Säulen auf denen Europa ruht. Helmut Müller beschreibt, wie die Botschaft aus Jerusalem im Raum, den schon Athen und Rom aufgespannt haben, angekommen ist. Die Glaubensbotschaft der Gottes- und Nächstenliebe aus Jerusalem hat die Vernunft  aus Athen und das Recht aus Rom im christlichen Abendland zu einer einzigen Botschaft geschmiedet, sodass insgesamt eine Wahrheit über den Menschen daraus geworden ist. Diese ist nun in eine Krise geraten. Häufig liest man, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch der letzte Stern verglüht ist und im Universum für immer das Licht ausgeht.

Ein Hilferuf aus Europa

Es begann mit einem Hilferuf am Rande Europas an die andere Seite der Küste nach Kleinasien: „Komm herüber nach Mazedonien, und hilf uns!“ (Apg 16, 9) Paulus hörte diesen Ruf aus Europa in einer Vision an der kleinasiatischen Küste. Daraufhin brachte er die christliche Botschaft aus dem Morgenland ins noch nicht christliche Abendland. Ein Mazedonier hatte ihn im Traum um Hilfe gebeten. Paulus hat mit seiner Botschaft nicht den bloßen Konsens mit der zeitgenössischen hellenistischen Gesellschaft weder diesseits noch jenseits der Dardanellen gesucht. Er wusste, dass seine Botschaft „den Juden ein Ärgernis ist und den Heiden eine Torheit“ (1Kor. 1,23) also der pure Dissens war. Dass das Ärgernis und Torheit Erregende einmal zu einer einzigen Botschaft dort zusammengeschmolzen würde, wo er sie hintrug, wusste er noch nicht.

Das „Ammenmärchen“ von der Menschwerdung Gottes

Er selbst als jüdischer Theologe und Schriftgelehrter glaubte einmal zu wissen, wie sich der Messias den Menschen zeigen würde. Dass derselbe am Kreuz, dem Galgen der Antike sterben könnte, hielten er und andere für ausgeschlossen. Zudem konnte aus Nazareth in Galiläa eh nichts „Gutes kommen“ (Joh. 1,46). Auch die hellenistische Umwelt in der er ja in Kleinasien aufgewachsen ist, war in ihren klügsten Köpfen so weit säkularisiert, dass eine Menschwerdung Gottes einem Ammenmärchen gleichkam oder einem Märchen aus Tausend und eine Nacht, wenn es die damals schon gegeben hätte. Eine Geburt im Futtertrog und ein Verbrechertod am Kreuz war gewiss auch kein Motiv für einen griechischen Gott, Mensch zu werden. Es war auch nicht zu vermitteln. Wenn griechische Götter Menschen wurden oder eine Gestalt dieser Welt annahmen, nahmen sie – wenn sie männlich waren – an Gastmählern teil oder paarten sich wie Zeus in der Gestalt eines Schwans mit schönen Frauen. Waren sie weiblich, brauchten sie eine männliche Bestätigung ihrer Schönheit. Die drei Göttinen Hera, Aphrodite und Pallas Athene wollten von dem Jüngling Paris wissen, wer die schönste sei und entfachten so – wie der Mythos berichtete – den trojanischen Krieg als eine Eifersüchtelei unter Göttinnen.

Was die damalige Welt aus den Angeln hob

Paulus hat seine Botschaft, obwohl sie jeder Logik griechischer Mythologie widersprach, für richtig und wahr gehalten. Er hielt sie einerseits weder für ein Produkt hellenistischer Mythen noch andererseits rabbinischer Apokalyptik. Das Damaskuserlebnis – was immer es gewesen sein mag – hat sein Weltbild in den Grundfesten erschüttert. Im Schnittpunkt dreier Kontinente ist Gott Mensch geworden. Für Paulus ist in einem Galiläer namens Jeschua ben Marjam, der Herr erschienen. Obwohl sein „Dorfname“ in Nazareth „Sohn der Maria“ (Mk 6,3) lautete und auf eine häufig geäußerte, zweifelhafte Herkunft deutet, da kein Vatername genannt wird, hat es Paulus schlussendlich nicht gehindert, in ihm – nachdem er als Saulus seine Anhänger blutig verfolgt hatte – den Herrn zu sehen. Aus dem frommen und geradezu fanatischen Juden Saulus und zugleich weltgewandten Kosmopoliten ist ein von der neuen Einsicht unbändig Bewegter Paulus geworden.

Weh mir, wenn ich die Botschaft nicht verkünde

Sein Glaube, dass in dem Galiläer der Herr erschienen ist, hat ihn um die Gestade des Mittelmeers, das Zentrum der damaligen Welt regelrecht getrieben: „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht künde.“ (1 Kor. 9,16) „Die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor. 5,14). So paradox wie Leben und Botschaft des Galiläers, so paradox war die Verkündigung des Paulus. Leben und Wirken, Tod und Auferstehung des merkwürdigen Nazareners und die paradoxe Verkündigung seines eifrigsten Mittlers gehen mit einer bleibenden Fremdheit einher, die sich einer nahtlosen Korrelation mit Lebensumständen unserer säkularen Gesellschaft und überhaupt jeder menschlichen Gesellschaft widersetzt. Dostojewski hat seinen Christusroman wohlbedacht Der Idiot genannt, um einmal mehr zu zeigen, wie widerständig die authentische christliche Botschaft zu jeder Zeitgenossenschaft steht, die die wahrhaften Koordinaten des Menschlichen hinter sich gelassen hat.

Die Korrosion von Glaube und Vernunft

Christentum – und in besonderer Weise die katholische Version – klingt in manchen Ohren der Gegenwartsgesellschaft wahrhaft idiotisch im dostojewskischen Sinn. Dazu drei Beispiele, wie es offenbar zu einer Korrosion des Christlichen gekommen ist. Glaube wird auf bloß säkulare (vermeintliche) Vernünftigkeit reduziert, die ohne Unterlass auf ihre Autonomie hinweist:

Die Corona-Krise hat eine bis dahin verdeckte Korrosion des Christlichen aufgedeckt.

  • Bisher zentrale Vollzüge katholischen Christseins (Bittgebete, Weihen usw.) wurden in der Coronakrise von der Erfurter Dogmatikerin Julia Knop als Retrokatholizismus bezeichnet.
  • In der gleichen Zeit hätte der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet – vor die Wahl gestellt – zwischen wissenschaftlich gläubig oder religiös gläubig sich zu entscheiden, von Christiane Florin befragt, sich eher für ersteres entschieden.

Eine Antwort aus dem Himmel für die ganze Erde

Der innerste Kern des Christusgeschehens ist transkontinental, mehr noch, eine letztlich unbegreiflich bleibende Begegnung von Immanenz und Transzendenz, von Himmel und Erde. Die Antwort auf den Hilferuf des Mazedoniers im Traum kam damit letztlich nicht aus Asien, sondern vom Himmel auf die Erde. Leben und Wirken des Nazareners und das leidenschaftliche Zeugnis des Paulus haben sich trotz bleibender Unbegreiflichkeit wider Erwarten durchgesetzt. Darum heißt es: Neu anfangen, sich wieder ergreifen lassen von dem, was Paulus um die damalige Welt getrieben hat. Dieses Mal nicht mehr von der Küste Kleinasiens aus, sondern aus der Mitte Europas. So kann es heißen: „Rücke vor auf Los!“. Die katholische Kirche sollte weiterhin für ursprungstreue Updates sorgen, damit der Elan des Anfangs beibehalten werden kann.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor, i. R. am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches https://www.amazon.de/Menschsein-zwischen-Himmel-Erde-Theologischen/dp/3897104903 bei Bonifatius vergriffen, beim Autor erhältlich.


Beitragsbild: Joachim Schäfer / Ökumenisches Heiligenlexikon

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