Es scheint als lebe Gott in Frankreich nicht nur sprichwörtlich besser. Diesen Eindruck hatte unser Autor nach einer 10-tägigen Pilgerschaft auf dem Jakobsweg in Zentralfrankreich: Volle Kirchen über alle Generationen hinweg, Katechese und Evangelisierung findet offenbar diözesan als auch in Pfarreien statt. Davon zeugen ausliegende Medien und auch steigende Erwachsenentaufen. Einer Kirche des Glaubens ohne Geld steht offenbar eine Kirche des Geldes ohne Glauben gegenüber. Teil I der Überlegungen von Helmut Müller

Wohin ist Gott?

Klar, es geht nicht um die Befindlichkeit Gottes in irgendeinem Land. Der ist wie das I. Vaticanum dekretiert: Deus in se et ex se beatissimus estin sich und aus sich ganz glücklich. Aber wie ist es mit seinen Gläubigen bestellt? Wie kommen sie mit ihm und untereinander zurecht und auch mit denen, die gar nicht an ihn oder anders glauben? Wenn Gott das Haus nicht baut, bauen die Bauleute vergebens. Wie ein Blitzlicht kommt mir dieser Gedanke aus Psalm 127,1 beim Pilgern in den Sinn; ebenso Nietzsches Wohin ist Gott,  in seiner Parabel vom tollen Menschen.

  • Wo ist er noch in der Erziehung und Bildung von jungen Menschen zu finden,
  • in der Regierung des Landes – in der immer mehr darauf verzichten, mit Berufung auf ihn zu regieren?
  • Und wo ist er nicht zuletzt in der Kirche selbst?

Ist das ein Mosaiksteinchen einer Erklärung für etwas, was ich jetzt schon jahrzehntelang erlebe? Ein schleichender Umbau hat stattgefunden in meinem Land. Minderheiten dominieren Mehrheiten. Land und Leute sind anders geworden. Es geht im Folgenden nicht um die Unpünktlichkeit der Bahn, dass wir OECD-Schlusslicht sind, den Fachkräftemangel, dass Großprojekte nicht fertig werden, den Pflegenotstand, die Insolvenzen bei Groß- und Kleinunternehmern, die zunehmende Messer- und Gewaltkriminalität im Land… Vielleicht entfernt doch? Welche Rolle spielt die religiöse Versteppung in ehemals gut funktionierenden und hoch zivilisierten Bereichen unserer Gesellschaft? Hat sie schon in der Keimzelle der Gesellschaft, der Familie, als Erziehungswüste ihren Ursprung? Diese Eindrücke habe ich, da ich mich in das Land neu eingewöhnen muss, in dem ich vor Jahren groß geworden bin, ohne es je verlassen zu haben.

Der schleichende Umsturz

Verrückt, nicht? Selbst die katholische Kirche, das knorrigste Stück Gesellschaft, scheint davon betroffen und nicht mehr Oase in dieser Steppen- und Wüstenlandschaft zu sein. Wie auf Orwells Animal Farm, ein Aufstand der Tiere stattgefunden hat, scheint in diesem Land, das Unterste zu Oberst gekehrt worden zu sein und zwar schleichend nach und nach. Etwa wie Hans Jonas einmal vom Bösen sagte: Es kam nicht mit Brachialgewalt durch die Tür, da hätte es jeder bemerkt, sondern es stahl sich heimlich still und leise durch das Fenster ins Haus. Eine Minderheit scheint eine Mehrheit politisch und medial zu majorisieren.  Klar, das Land und die Kirche, in denen ich aufgewachsen bin, haben keine weiße Weste gehabt. Noch heute leiden Menschen darunter, weil die schuldig Gewordenen nicht bußfertig sind oder ihre Schuld vertuschen wollen. Wie auf der Animal Farm Orwells scheint ein Umsturz gerechtfertigt zu sein, aber wie dort beginnt vieles in neue Ungerechtigkeiten zu münden. Und Fähigkeiten, die man einmal hatte, scheinen verloren gegangen zu sein. Um all dies geht es.

Der Umsturz der Familie in eine bunte Ansammlung von Einzelnen.

Olaf Scholz hatte am 3.11.2002 als SPD Generalsekretär gefordert die Lufthoheit über den Kinderbetten zu gewinnen. Über meinem hingen noch ein Schutzengel und ein Kreuz. Ursula von der Leyen, eine CDU-Politikerin setzte die Forderung um. Man glaubte, eine Mutter von sieben Kindern müsse die Bedürfnisse von Kindern kennen. Die Folgen dieses Outsourcing von Kindern bei Vater Staat als Kindermädchen – Mutter Kirche schaut dabei teilnahmslos zu, und macht sogar mit – werden immer mehr sichtbar: Der Kindermädchenstaat hat die Lufthoheit über den Schulhöfen verloren und mutiert zum Polizeistaat: Wenn Väter und Mütter nach Ganztagsbetreuung abends an „Nachtquartieren“ (Albert Wunsch), statt an Betten stehen, ist dafür Polizei vermehrt auf dem Schulhof, nicht um den Kindern Verkehrsregeln beizubringen, sondern um sie zu entwaffnen.

Der Kindermädchenstaat an Kinderbetten mutiert zum Polizeistaat auf Schulhöfen

Mittlerweile kommen auf eine Frau 1,35 Kinder. Statistisch ist wohl kaum eine Ganztagsbetreuung erforderlich, denn mit 1,35 Kind ist ein Elternteil wirklich nicht überlastet. Weshalb also mehr Kinderbetreuung außerhalb der Familie? Wohl eher deshalb, weil 1,35 Kind eine (eingeredete?) Erziehungsmüdigkeit sondergleichen ausdrückt. Mittlerweile muss auch von Erziehungsunfähigkeit gesprochen werden, da den jüngsten Vätern und Müttern schon dasselbe Schicksal beschieden worden ist.

Wenn das der Sinn von Rundumbetreuung ist, dann kann das doch wohl nicht Kindern gerecht, sondern ganz deutlich erziehungsmüden- und unfähigen Eltern[1] gerecht werden. Wir brauchen KiTa und Ganztagsschule – nicht weil sie der große Wurf sind, wie viele Bildungspolitiker glauben – sondern wie manche Tiere Tierparks brauchen, weil sie nicht mehr in der freien Wildbahn überleben können, und so ist es auch mit Kindern: Weil Kinder nicht mehr in ihrem natürlichen Habitat – der Familie und da mit Geschwistern – leben können – das ist nämlich die freie Wildbahn für Kinder, braucht man KiTa und Ganztagsschulen – nur deshalb. Der unvergessene Norbert Blüm hatte noch vor dieser „Verstaatlichung der Kindheit gewarnt. Und ein Grund- und Hauptschullehrer meinte zur selben Zeit: „Nun schluckt der Moloch Staat morgens in aller Frühe die Kinder und entlässt sie ausgelaugt am späten Nachmittag“.  Mittlerweile werden auch KiTa und Ganztagsbetreuung gebraucht, weil immer mehr Kinder mit einer anderen „Muttersprache“ in den Bereich der Gesellschaft eingegliedert werden müssen, in denen das erwirtschaftet wird, von dem alle leben, allerdings für sie immer öfter in einer Fremdsprache.

Kindesaussetzung in staatliche Horte?

Das führt bisweilen dazu, dass im Extremfall 8 Stunden vollwaise Einjährige zum Projekt bundesdeutscher Politik geworden sind. Es werden u. a. Krippen- und Hortbetreuung mit dem ersten Lebensjahr als erstrebenswert für die Eltern angepriesen. Wie mag es einem Einjährigen zumute sein, der gerade freudestrahlend Mama und Papa sagen kann, noch nicht lange oder noch gar nicht auf seinen Beinchen daherwackelt, wenn ihn Mama oder Papa morgens, vielleicht für den ganzen Tag fremden Leuten in Obhut gibt? Die sind nämlich gar nicht das, was die Kleinen gerade sagen können, eben Mama und Papa. Professionell betreuende Fachkraft kann das Kind noch nicht sagen. Aber genau mit diesem Begriff sollen Eltern zur Kindesaussetzung in staatliche Horte animiert werden; es ist keine Frage, dass es einen gewissen Bedarf für dieses Angebot gibt. Leider wird dieser Bedarf durch Fehlentscheidungen in der Vergangenheit immer größer. Aufgrund dieser Fehlentscheidungen kommt immer mehr eine professionelle Betreuung durch Nichteltern in den Blick. Es ist mitnichten das Beste, was einem Einjährigen passieren kann. Der frisch erlernte Wortschatz des kleinen Mannes oder der kleinen Frau trifft dann erst wieder mittags oder sogar erst abends den adäquaten Adressaten, oder nachts ziemlich lautstark, und genau dann hören Mama und Papa gar nicht gern das neue Wort. Darüber hinaus wird Kinderbetreuung, Stichwort: satt, sauber, beschäftigt – verwechselt mit Kindererziehung. Für letzteres gilt aber adäquat zum biogenetischen (das allerdings nicht so gilt, wie von Haeckel ursprünglich behauptet), ein zivilisationsgenetisches Grundgesetz.

Vom biogenetischen zum zivilisationsgenetischen Grundgesetz

In jedem Kind gilt es, unsere christlich-abendländische Zivilisation erzieherisch zu rekapitulieren, dass wieder Standards möglich sind, wie sie Martin Brüske in seinem Beitrag auf diesem Portal beschreibt: Der Mensch, sein Weg vor Gott und die liberale Demokratie. Ich vermag in der gegenwärtigen Politik keine Anreize zu entdecken, solche Kompetenzen bei Eltern zu fördern, und auch Kirchen vergessen ihr Kerngeschäft. Statt Katechese platzieren sie oft nur Jesus zwischen Mohamed und Buddha. Unser an Unterjüngung leidender Lebensbaum – der durch Aufpfropfung aus anderen Kulturen nicht noch stärker verjüngt ist – verrät es: Kinder und Kleinkinder sind eine bedrohte Spezies. Das verwundert nicht, wenn man etwa Schriften zur Sexualpädagogik für Jugendliche liest, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung herausgegeben werden. Der dazu nicht von ungefähr passende Verhütungskoffer von Pro Familia erweckt den Eindruck, dass das Schlimmste, das es zu verhüten gilt, Kinder sind. Wäre es nicht besser neben artgerechter Tierhaltung – keine Käfighühner, keine zu frühe Abgabe von Welpen – auch unsere Kinder artgerecht zu halten?

Warum nicht artgerechte Kinderhaltung?

Politisch wäre das mit einem Recht des Kindes auf Mama oder Papa zu Hause – wenigstens bis zum zweiten Lebensjahr verbunden – was man schon seit den 50er Jahren weiß und wie es die Bindungsforschung, wieder vermehrt, in den letzten Jahren lehrt. Mit Blick auf Skandinavien hätte man einmal die psychopathologischen Auffälligkeiten mit der zu frühen Abgabe an Nichteltern korrelieren können. Nur widerwillig hatte seinerzeit Ursula von der Leyen auf Druck der CSU für zu Hause betreute Kinder ein Betreuungsgeld durchgehen lassen, das als Gewähren von „Herdprämien“ oder „Gluckengehalt“ denunziert wurde. Klar, meine Frau hat wegen der Erziehung von 4 Kindern nicht mitverdient. Das fiel meiner mittleren Tochter relativ bald auf, denn sie meinte: Papa wir wären doch reich wenn’s uns nicht gäbe, ja? Nur ein kleiner Hinweis: Wie viele wohl an originellen Sprüchen ihrer Kinder, Eltern entgangen sind, wenn sie – wer weiß wie lange – von Nichteltern betreut werden? Meine Frau und ich und auch meine Kinder zehren heute noch davon, was wir alles aus Kindermund zu hören bekommen haben.


[1] Im Gegensatz zu den 50er Jahren sind mittlerweile zwei Einkommen erforderlich um eine Familie zu versorgen. Dass dies eine Person leisten kann, ist schon lange kein Ziel mehr bundesdeutscher Politik. Familie als Möglichkeit von Selbstverwirklichung und Lebensfreude, die es lohnt sich ihr ganztägig zu widmen, wird politisch überhaupt nicht unterstützt und kann man bestenfalls – wie hier – in Fußnoten erwähnen.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag


Beitragsbild: Adobe Stock

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