Der 300. Geburtstag Kants wird zu Recht gefeiert. Um sein Erbe wird gestritten. Magnus Striet meldet einen Erbanspruch an und meint, die katholische Theologie mit Kant auf einen neuen Kurs bringen zu müssen. Engelbert Recktenwald hat Entscheidendes dazu gesagt, Sebastian Ostritsch in der Tagespost ebenfalls. Aber ein Freund Striets Rudolf Langthaler widerspricht ihm. Wie nun steht Magnus Striet zu Kant? Helmut Müller glaubt in ihm den Eckensteher Nietzsches (in: Menschliches Allzumenschliches) erkennen zu können.
Der alte Gott bleibt im Nadelöhr Nietzsches hängen
In einem Vortrag am Nietzsche-Forschungszentrum in Freiburg am 07.11.2019[1] empfiehlt Magnus Striet „Theologen und Theologinnen […] durch das Nadelöhr Nietzsches hindurch[zu gehen] um tatsächlich ein Christentum zu konzipieren, das möglicherweise noch bis in die Gegenwart tragen kann“ (Minute 5,10). Was meint er damit? Die Kritik Nietzsches an Kant lautet nach Striet, dass Kants Normativität in seiner praktischen Vernunft hartnäckig auf den alten Gott hinweise und Moral führe unumgänglich zu Religion, die für Nietzsche bekanntlich Menschsein knechtet. Die heutige Theologie müsse, nachdem sie durch das Nadelöhr Nietzsches gegangen sei – Christentum neu konzipieren: Vom alten Gott weg und hin zu einer Moral, die nicht unumgänglich bei Religion landet.
Der neue Gott von Lingen kommt
Das glaubt Striet leisten zu können. Aber wie? Zunächst kritisiert er Nietzsches Dekonstruktion des Subjekts als widersprüchlich, indem er einerseits das Subjekt – als Moralsubjekt – abschafft, aber nicht bemerkt, dass er es dann auch in seiner Philosophie als dionysisch Gebrauchtes – weiterhin benötigt. Striet zeigt einen Ausweg über Fichte, der ja auch Kant kritisierte. Fichte will vom Kardinalpunkt kantischer Philosophie dem Ding an sich weg, und zu einem neuen hin, das Ich. Dieses Ich ist dann gleichzeitig Moralsubjekt – das weiterhin für die Theologie gebraucht wird, aber nach Striet vom alten Gott gelöst werden muss und neuerdings auch über Foucault als Begehrenssubjekt für die Lust konstituiert bleibt. Striet löst dann das Moralsubjekt, wenn es nichtreligiöse Ethiker brauchen wollen von Religion und will offenbar auch – wenn er Theologien vom alten Gott lösen will, es mit dem neuen Gott von Lingen verknüpfen. Hier dreht sich allerdings nicht mehr die Tugend in der Türangel der Moral, sondern das Begehren. Darum sorgt sich momentan ein anderer Freund Striets, der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz.
Ein hinterlistiger Christ und großer Begriffschinese aus Freiburg?
Liest oder hört man Striet, dann gewinnt man den Eindruck, dass die Kritik Nietzsches an Kant, der für ihn der große Begriffschinese aus Königsberg ist, auch auf Striet zutrifft – natürlich in Abwandlung als großer Begriffschinese aus Freiburg; zugegeben – wenn man sich auf Transzendentalphilosophie einlässt, muss man mit dieser Häme rechnen. Aber ob Magnus Striet wie im Vorwurf Nietzsches an Kant, wenigstens ein hinterlistiger Christ geblieben ist, da mögen sich andere weiter abarbeiten. Leute, für die das weiter fraglich zu sein scheint, wie etwa für den Tagespostredakteur Sebastian Ostritsch oder eifrige Verteidiger Striets, wie Georg Essen oder Rudolf Langthaler; nur Striet alleine weiß es, weil er offensichtlich der sprichwörtliche Eckensteher Nietzsches ist, der nicht mehr wahrheitsfähig ist oder sogar sein will – denn mit Gott ist auch die Wahrheit abgeschafft. Gott ist nämlich das einzige „Subjekt“, das alle Perspektiven einnehmen kann und deshalb allwissend, allgütig und allmächtig sein kann.
Der Eckensteher
Der Mensch dagegen kann nur seine eigene Perspektive annehmen und wird nach Nietzsche zum Eckensteher. Sich Gott gläubig zu nähern, der salopp gesagt, um alle Ecken blicken kann, um so an der Wahrheit Gottes partizipieren zu können, ist nicht etwa schlau, was einmal ein rationabile obsequiuum genannt wurde, sondern bei Striet blauäugig naiv. Magnus Striet oder Thomas Halagan würden dazu sagen unterkomplex, religiös populistisch, jedenfalls nicht denkerisch auf der Höhe der Zeit. All das erfüllt den Tatbestand einem alten Gottesbild verhaftet zu sein, das zur Heteronomie verführt. Wie gesagt, nach Nietzsche sind wir allesamt Eckensteher. Jeder sieht die Welt nur noch aus der Ecke in der er selber steht. Wie man da Zeitgenossen – diskriminierungsfrei – ein altes Gottesbild vorwerfen kann und sein neueres als ein besseres ansehen kann, ist mir schleierhaft. Möglichst in vielen Ecken stehen, scheint da ein Vorteil zu sein. Als kooptiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg schickt es sich – wenn die Rede von Gott ist – wie ich wahrgenommen habe – in Endlosschleife zu reden, „wenn es ihn gibt“. Klar in wasserlosen Transzendentalwüsten (Bernhard Meuser) erscheint er dann bestenfalls als Fata Morgana. Aber an theologischen Fakultäten sollte allerdings zumindest bedarfsmäßig die Rede sein von einem „neuen“ Gott. Natürlich muss der sich davon Redende durch Nietzsches Nadelöhr zwängen.
Der Nadelöhr-Gott der modernen Theologie
Dazu ist natürlich Religionsintellektualität notwendig, um nicht in Religionspopulismus zu verfallen. Aber wird man damit dem „Objekt“ des Redens gerecht? Heidegger hat es begriffen: Vor einem solchen Nadelöhr-Gott „kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.“ Das geht bei Striet sowieso nicht, dann wäre er Religionspopulist wie Johannes Hartl und andere von Thomas Halagan – komplexes Denken vortäuschend – abgewatschten Genossen. Ein sich uns in Liebe zuneigender Gott, der Freiheit gnädig schenkt (!) mit der paradiesischen Einschränkung nicht von allen Bäumen des Gartens – nur von einem einzigen nicht, zu essen – passt nicht in die Begriffslogik Striets – zumindest nicht an der philosophischen Fakultät. Der neue Gott muss uns begriffslogisch pflichtmäßig (!) mit Freiheit ausstatten und schon gar nicht – was Nietzsche gestört hat – in der Grammatik unserer Sprache auf den Geber (!) hinweisen. Deshalb muss Gott aus der strietschen Begriffslogik der Freiheit herausoperiert werden.
Auch der Mann aus Nazareth muss durchs Nadelöhr
Denn das kantische „’Du sollst’ funktioniert ja jetzt nur auf der menschlichen Seite und damit einer sich selbst unterstellten Freiheit“ (Minute 20, 27 im Vortrag). Diese darf einfach nicht geschenkt sein! Sie darf nur mit der eigenen Vernunft, dem eigenen Willen gefüllt werden, maximal mit einem Produkt diskursiver Vernunft, in die dieser Mann aus Nazareth – wenn man in den Ecken der theologischen Fakultät steht, historisch kritisch passt. In der Ecke der philosophischen Fakultät kann er auch fehlen, denn es ist ja nicht sicher, dass es den gibt, den dieser Nazarener unterkomplex Vater nennt.
Statt Zeugnis, herrscht eine um Glauben kastrierte Vernunft
Tut mir leid. Ich bin schon wieder sarkastisch geworden. Ich habe das nicht mit künstlicher Intelligenz geschrieben, sondern mit Emotionen, eine davon ist Fassungslosigkeit, andere sind gewiss nicht christlich. Fassungslos macht mich das, was genannte Theologen von Gott übrig lassen, wenn sie sich von dem ursprünglichen Zeugnis nicht mehr überwältigen und nur noch das passieren lassen, was man als Eckensteher, die wir alle sind, auch noch durch das Nadelöhr neuzeitlich kastrierter Vernunft hindurch pressen will. Ich komme mir vor wie ein Kind, das auf nackte Kaiser zeigt.
Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag
[1] Lässt sich nicht verlinken, man muss Magnus Striet (Univ. Freiburg) über das Verhältnis von Kant und Nietzsche eingeben.