Der Dogmatiker Karl-Heinz Menke nimmt Stellung zur Aussage des Fundamentaltheologen Magnus Striet, es gebe längst ein Schisma, und analysiert in diesem Interview die tiefen theologischen Gräben der Reform-Debatte des Synodalen Weges. Dies Gespräch erschien erstmalig im Vatican Magazin (Ausgabe 6/2022), Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Die Fragen stellte Markus Reder.
Herr Professor Menke, Kardinäle und Bischöfe aus den Vereinigten Staaten und Afrika, aus Skandinavien und Polen haben in offenen Briefen ihre Sorge über den „Synodalen Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland zum Ausdruck gebracht und vor der Gefahr eines drohenden Schismas, einer Kirchenspaltung, gewarnt. Der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet hält solche Warnungen für verfehlt. Die Kritiker müssten sich nicht sorgen, dass ein Schisma kommen könnte, schrieb Striet in einem Gastbeitrag für katholisch.de „Es gibt das Schisma längst. Ob es institutionell vollzogen wird, ist eine nachrangige Frage“, betonte der Theologieprofessor. Trifft zu, was Striet feststellt? Gibt es längst ein Schisma in der katholischen Kirche?
Menke: Das Kirchenrecht unterscheidet zwischen Schisma, Häresie und Apostasie. Das Wort Schisma bezeichnet eine organisatorische Spaltung wie zum Beispiel die Spaltung der Christenheit durch einen Gegen-Papst während des Avignonesischen Schismas in den Jahren 1309 bis 1377. Der Terminus Häresie hingegen steht für mehr als eine bloß organisatorische Spaltung; er bezeichnet einen ausdrücklich formulierten, objektiven oder praktisch gelebten, subjektiven Widerspruch zur Lehre der Kirche. Beispiel: Luthers Protest. Dabei ist zu beachten: Häresie ist nicht Apostasie. Häretiker wollen im Unterschied zu Apostaten in der Kirche bleiben, deren Lehre sie in Frage stellen.
Mit anderen Worten: Striet meint eine Spaltung, die noch tiefer geht als das, was man Schisma nennt. Wie sehen Sie das?
Menke: Vor dem Hintergrund meiner Begriffsklärung ist offensichtlich: Striet beschreibt mit seiner Diagnose nicht eine organisatorische, sondern eine die Lehre betreffende Spaltung der Katholiken in Deutschland. Er verwendet das Wort Schisma, um das Wort Häresie zu vermeiden. Denn die Verwendung dieses Wortes ist mit der Überzeugung verbunden, dass Treue zu Christus ohne kirchliche Bekenntniseinheit unmöglich ist. Aus Striets Sicht ist Bekenntniseinheit eine Fiktion; für ihn gibt es keine Häresie, sondern nur den argumentativen Wettstreit sich widersprechender Positionen.
Würden die Konservativen sich auf einen ergebnisoffenen Wettstreit einlassen, statt sich in die Burg angeblich irreversibler Dogmen zurückzuziehen, gäbe es, so meint Striet, gar keine Spaltung. Deren Wurzel ist, so betont er, die Abschottung angeblich verbindlicher Wahrheit gegen die Ergebnisse der historischen und empirischen Wissenschaften und gegen den argumentativen Diskurs einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Striet ist überzeugt: Solange das Lehramt den Anspruch erhebt, bestimmte Entscheidungen als unfehlbar und irreversibel zu bezeichnen, ist die katholische Kirche noch immer nicht in der Moderne angekommen. Aus seiner Sicht haben die Briefeschreiber aus dem Ausland übersehen, dass es nicht um einzelne Themen, sondern um einen das Ganze von Glauben und Kirche betreffenden Paradigmenwechsel geht.
Das müssen Sie uns genauer erklären.
Menke: Magnus Striet und der in Mainz lehrende Moraltheologe Stephan Goertz haben eine im Herder-Verlag erscheinende Buchreihe ins Leben gerufen unter dem Titel „Katholizismus im Umbruch“. Wer wissen will, was sie als Moderne bezeichnen, wird dort umfassend informiert. Die bisher erarbeiteten Papiere des Synodalen Weges sind im Wesentlichen von Leuten geschrieben worden, die sich Striets „Katholizismus im Umbruch“ zuordnen. Das gemeinsame Fundament ist der libertarische Freiheitsbegriff. An ihm – so erklären die Initiatoren der Buchreihe – entscheidet sich, ob jemand in der Moderne angekommen ist oder nicht.
Was ist das: der libertarische Freiheitsbegriff? Und warum revolutioniert er das Ganze von Glauben und Kirche?
Menke: Die Lehre der Kirche setzt voraus: Gott hat dem Menschen wirkliche Freiheit geschenkt; denn im Unterschied zum Tier kann er freiwillig das sein, was er sein soll. Wenn ein Mensch ist, was er nach dem Willen seines Schöpfers sein soll, realisiert und entfaltet er seine Freiheit. Und umgekehrt: Wenn ein Mensch nicht ist, was er von Gott her sein soll, verfehlt er sich selbst (sein Richtigsein) und wird unfrei (Sklave der Sünde). So gesehen ist Freiheit nicht Wahl-Freiheit, sondern Selbst-Bindung an das Gute. Und was das Gute ist, bestimmt nicht jeder Einzelne selbst. Letztlich ist der Inhalt von Freiheit die Liebe; und was Liebe ist, erkennen wir in der Schöpfung, mit dem Blick auf Jesus Christus und die ihn interpretierende Schrift und Tradition.
Ganz anders der libertarische Freiheitsbegriff, den Striet und seine Gesinnungsgenossen als Inbegriff der Moderne bezeichnen. Libertarisch verstandene Freiheit bestimmt ihre Inhalte selbst. Mit Berufung auf Kant und Habermas betont Striet, dass Selbst-Bestimmung nicht gleichbedeutend ist mit Relativismus. Denn – so seine Begründung – wer frei sein will, widerspricht sich selbst, wenn er die Anerkennung, die er von Seiten jedes Mitmenschen erwartet, nicht seinerseits jeder anderen Person gewährt. Doch was genau diese Anerkennung bedeutet, wird von keiner äußeren Instanz wie Natur, Heilige Schrift oder Lehramt bestimmt.
Welche Konsequenzen hat die libertarische Identifikation von Freiheit und Selbstbestimmung? Können Sie Beispiele nennen?
Menke: Ein libertarisch denkender Katholik lässt sich nicht von Bischöfen vorschreiben, ob er als wiederverheiratet Geschiedener oder als konfessionsverschiedener Christ die Eucharistie empfangen darf oder nicht. Das entscheidet er selbst. Und selbst entscheidet er auch, ob seine sexuellen Beziehungen – in oder außerhalb der Ehe, hetero- oder homosexuell – der Liebe und somit der Anerkennung der Freiheit des je Anderen entsprechen oder nicht. Und was auf dem Gebiet der Ethik gilt, gilt analog auf dem Feld der Glaubenslehre: Ob Frauen das Sakrament des Ordo empfangen dürfen, entscheiden aus libertarischer Sicht nicht Traditionen oder Autoritäten, sondern Argumente, die eine demokratisch ermittelte Mehrheit überzeugen.
Wer einmal auf den Geschmack libertarischer Freiheit gekommen ist, lässt sich – so erklärt Striet – nicht mehr vorgeben, was wahr oder falsch, sittlich erlaubt oder nicht erlaubt ist. Eine libertarisch denkende Kirche kennt keine verordnete Einheit von oben, sondern nur eine Einheit aus Überzeugung. Eine modern denkende Kirche opfert die Vielfalt nicht der Einheit, sondern versteht Einheit als Dienst an der Vielfalt. Es gibt – so folgern die Libertarier – viele Interpretationen der Anerkennung von Freiheit (von Liebe), verschiedene Interpretationen geschlechtlicher Identität; multikonfessionelle Interpretationen des Christusgeschehens; Dogmen und Normen sind historisch bedingt und also revidierbar; das konfessionelle Zeitalter ist zu Ende.
Ist der von Ihnen erklärte Graben zwischen zwei konträren Denkweisen auf den deutschen Sprachraum begrenzt? Oder ist Deutschland Vorreiter einer sich immer weiter ausbreitenden Spaltung?
Menke: Striet ist überzeugt, dass das Land von Kant und Habermas allen anderen die Richtung weist. Sein libertarischer Freiheitsbegriff hat viele Theologen, viele kirchlich bezahlte Funktionsträger und nicht zuletzt die deutschen Bischöfe eingefangen, die päpstliche Weisungen und Verlautbarungen in Frage stellen oder praktisch unterlaufen. Vielen von Striets Gesinnungsgenossen sind die philosophischen Voraussetzungen des besagten Paradigmenwechsels nicht bewusst; aber sie wollen einen selbst- statt fremdbestimmten, einen autonomen statt vom Lehramt gegängelten, kurzum: einen „modernen Katholizismus“. Striet hält seine Gefolgschaft für die Avantgarde der kirchlichen Zukunft. Deshalb spricht er von der Illusion derer, die meinen, die katholische Kirche würde sich jemals wieder „unter dem Papst und einer Einheitsdoktrin versammeln“.
Ob er diese seine Prophezeiung nur auf die Kirche in Deutschland, oder auf die Kirche weltweit bezogen hat, vermag ich nicht zu sagen. Wenn er den ausländischen Bischöfen, die sich kritisch zum Synodalen Weg der Deutschen geäußert haben, intellektuelle Unterlegenheit bescheinigt, setzt er offensichtlich voraus, dass zumindest die unterzeichnenden Bischöfe noch immer nicht wissen, warum die Zukunft der katholischen Kirche weltweit von der Rezeption des libertarischen Freiheitsdenkens abhängt.
Was setzen Sie dem entgegen?
Menke: Richtig ist: Demokratische Gesellschaften ermöglichen ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Pluralität. Aber die katholische Kirche ist keine Demokratie. Ihr Fundament ist Jesus Christus und mithin der Glaube an ein Ereignis, in dem Gott sich selbst geoffenbart (ausgesagt) hat. Um Missverständnissen vorzubeugen: Offenbarung ist nicht schon das Christus-Ereignis als solches, sondern erst das zutreffende Verstehen dieses Ereignisses in Gestalt der Heiligen Schrift und ihrer verbindlichen Auslegung. Die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes sind das kristallin gewordene Verstehen des Zwölf-Stämme-Volkes Israel und des Zwölf-Apostel-Volkes Kirche. Und um der Heiligen Schrift gemäß zu verstehen, bedarf es eines Institutes, das wahre von irrigen Schriftinterpretationen scheidet.
Mit dem viel diskutierten Lehrschreiben „Dominus Iesus“ hat Papst Johannes Paul II. im Jahr 1999 das beginnende Jahrtausend daran erinnert, dass die Wahrheit, die Christus ist, der Auslegung durch die apostolisch strukturierte Kirche bedarf. Ohne das Institut des in Petrus geeinten Bischofskollegiums gibt es kein verlässliches Bleiben in der Wahrheit. Auf Striet bezogen: Die Wahrheit, die zu erkennen und zu befolgen ist, liegt der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen voraus. Die Zukunft der Kirche hängt nicht an der Rezeption des libertarischen Freiheitsbegriffs, sondern an ihrem Bleiben in der besagten Wahrheit.
Beruht die von Striet als Faktum beschriebene Spaltung auf einer Protestantisierung der „modern“ denkenden Katholiken? In Kommentaren zum Synodalen Weg kann man von einer Reformation 2.0 lesen. Was sagen Sie dazu?
Menke: Die Protestanten kennen kein die Schrift verbindlich interpretierendes Lehramt. Luther und Calvin waren überzeugt: Die Heilige Schrift legt sich in ihren Hörern und Lesern so aus, dass von selbst ein einheitliches Christusbekenntnis entsteht. Heute wird diese urprotestantische These von niemandem mehr vertreten. Denn Schriftauslegung hat sich im Protestantismus nicht als Fundament der Einheit, sondern als Ursache unzähliger Spaltungen erwiesen. Spätestens seit der Aufklärung mit der historisch-kritischen Schriftinterpretation ist eine auf Schriftinterpretation gegründete Bekenntniseinheit obsolet. Doch aus diesem ernüchternden Befund haben die Protestanten nicht die Notwendigkeit eines kirchlichen Lehramtes gefolgert. Im Gegenteil: Protestanten jedweder Spielart erklären sich nicht selten als Konfessionsgemeinschaft der libertarischen Freiheit (Selbstbestimmung) und des postmodernen Pluralismus. Was bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Anlass innerprotestantischer Exkommunikationen war, soll fortan als geistgewirkte Vielfalt Ausweis des wahren Evangeliums sein. „Versöhnte Verschiedenheit“ heißt das Zauberwort. Mit anderen Worten: Man will konfessionelle Unterschiede gar nicht mehr miteinander vermitteln, sondern sich von Multikonfessionalität und Multiperspektivität bereichern lassen.
Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass ein vom libertarischen Freiheitsbegriff modernisierter Katholizismus ein protestantisierter Katholizismus ist. Allerdings würde ich diesen Katholizismus nicht mit dem Etikett Reformation 2.0 betiteln. Denn anders als weite Teile des gegenwärtigen Protestantismus haben die Reformatoren das Ziel der Bekenntniseinheit niemals in Frage gestellt. Ihnen ging es nicht um Pluralität und Selbstbestimmung, sondern um das wahre im Unterschied zum verfälschten Christentum.
Striet macht die Zukunft der katholischen Kirche abhängig von der Implantierung des Selbstbestimmungsprinzips. Sein Motto lautet „Fortschreitende Modernisierung“. Was setzen Sie dem entgegen? Wie soll nach Ihrer Meinung verhindert werden, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten?
Menke: Man kann kaum bestreiten, dass schätzungsweise 90 Prozent der cirka zwanzig Millionen deutschen Katholiken, was 1,2 Prozent des Weltkatholizismus entspricht, zwar Kirchensteuer zahlen, aber faktisch mit Glauben und Kirche nur wenig am Hut haben. Striet sieht den Grund für diese Entfremdung in dem Unwillen der Kirchenleitung, die unmoderne Kirche durch Pluralisierung und Selbstbestimmung zu modernisieren. Das heißt im Klartext: Wenn die katholische Kirche auf allen Feldern der Lehre und Lebensführung mehr dogmatische und ethische Selbstbestimmung gewährt, wird sie wieder attraktiv.
Ich bin der gegenteiligen Ansicht. Der weitaus größte Teil der Katholiken in Deutschland hat sich der Kirche nicht deshalb entfremdet, weil sie sich zu wenig, sondern weil sie sich zu viel angepasst hat. Sie hat den Menschen nichts mehr zu sagen, weil sie ihre Caritas in die vom Staat vorgegebenen Strukturen einpasst – bis hin zu der nur von Rom verhinderten Beteiligung an einem verlogenen Schwangeren-Beratungssystem. Statt die Zahl der von ihr geführten Schulen, Kindergärten, Kranken – und Pflegeeinrichtungen der Zahl gläubiger Mitarbeiter anzupassen, passt sie ihre Zulassungsbedingungen denen der Zivilgesellschaft an.
Sie hat den Menschen nichts mehr zu sagen, weil sie Religionslehrer legitimiert, die zu einem Großteil selbst nicht mehr praktizieren, was sie vermitteln sollen und ihren Unterricht zu einer Meinungsbörse verkommen lassen. Die Kirche in Deutschland erklärt sich und ihren Synodalen Weg zur Speerspitze eines zukünftigen Katholizismus und merkt gar nicht, wie lächerlich diese Selbstwahrnehmung angesichts leerer Priesterseminare und kaum noch besuchter Sonntagsgottesdienste ist.
Kurzum: Die Zukunft liegt nicht in der Umsetzung des libertarischen Freiheitsdenkens, sondern – zum Beispiel! – in den kleinen Gemeinschaften oder Bewegungen, die ihren christlichen Glauben unverkürzt und einladend vorleben. An ihnen kann man ablesen, dass Bindung an die von der Kirche verkündete Wahrheit nicht fesselt, sondern befreit. Es ist bezeichnend, dass diese Aufbrüche auf Deutschlands Synodalem Weg nicht vertreten sind. Wer ihre Anhänger pauschal als Traditionalisten, Antiintellektuelle oder Fundamentalisten beschimpft, weiß in der Regel nicht, über wen er redet.
In Frankreich kann man punktuell schon besichtigen, wie eine Kirche aussieht, die sich in geistliche Zentren gliedert, in denen jeweils mehrere Priester leben, die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in zivilen Berufen wie Arzt, Lehrer, Mechaniker, Krankenpfleger selbst erwirtschaften. In diesen geistlichen Zentren werden Lehre, Liturgie und staatlich nicht geregelte Diakonie erlebbar. Diese geistlichen Zentren sind nicht vereinnahmend, sondern einladend. Und: Was für die bisherige Geschichte des Christentums galt, gilt vermutlich auch in Zukunft: Noch nie hat sich die Kirche durch Anpassungen erneuert, wohl aber durch die von Papst Benedikt angemahnte „Entweltlichung“ und durch Rückbindung aller ihrer Institutionen, Projekte und Aktivitäten an das durch Christus und seine Apostel gelegte Fundament.
Die kritischen Stimmen aus dem Ausland werden lauter. Und in Rom wächst die Sorge, Deutschlands Synodaler Weg lasse sich durch die von Papst Franziskus geplante Weltsynode nicht mehr integrieren. Einzelne deutsche Bischöfe beschreiten schon jetzt einen von Rom ausdrücklich verbotenen Weg – zum Beispiel mit der Erlaubnis, homosexuelle Paare im Namen der Kirche zu segnen. Der Generalvikar der Diözese Speyer hat seiner Kirche den Rücken gekehrt mit der Begründung: „Ich muss raus aus dieser Kirche, weil ich Mensch bleiben will.“ Ist diese Nachricht nur ein weiteres Beispiel von Zölibatsbruch und Selbstinszenierung oder aber das Menetekel einer sich anbahnenden Katastrophe?
Menke: Das Verhalten des Speyerer Apostaten sollte man als das betrachten, was es ist: die allzu durchsichtige Abwälzung der eigenen Schuld durch den Bruch des freiwillig abgelegten Zölibatsgelübdes auf den Sündenbock katholische Kirche. Aber unabhängig davon stellt sich doch die Frage: Ist die Spaltung der Kirche in Deutschland bereits so weit fortgeschritten, dass auch Rom deren Einheit nicht retten kann? Antwort: Die von deutschen Bischöfen genährte Hoffnung auf das Priestertum der Frau könnte – so befürchte ich – eine Eigendynamik entwickeln, die nicht mehr zu stoppen ist.
Das 2022 mit einer Zweidrittelmehrheit der DBK verabschiedete Papier des Synodalforums I spricht von einer Selbstmitteilung Gottes im Glaubenssinn der Gläubigen. Als wenn die Offenbarung mit dem Christusereignis und dessen apostolischer Bezeugung nicht abgeschlossen wäre! Das Synodalpapier erklärt Zeichen der Zeit – Beispiel: die Forderung nach dem Frauenpriestertum – zu Quellen göttlicher Selbstmitteilung. Dann – so darf man folgern – ist die von den letzten vier Päpsten unisono als irreversibel erklärte Bindung des Ordo-Sakramentes an das männliche Geschlecht doch noch revidierbar. Von der Presse kaum beachtet: Zwei Drittel der deutschen Bischöfe haben ein Papier abgesegnet, das eine Revision der theologischen Erkenntnislehre beinhaltet. Ich meine: Wenn nicht einmal diese Anmaßung Anlass zu römischem Einschreiten ist, wird die Einheit der katholischen Kirche zumindest in Deutschland nicht mehr zu retten sein.
Karl-Heinz Menke (geboren 1950), Priester und Seelsorger, ist emeritierter Professor für Dogmatik und Theologische Propädeutik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Papst Franziskus berief ihn 2014 und 2021 jeweils für fünf Jahre zum Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission. Seit 2001 ist er ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (Klasse für Geisteswissenschaften). 2017 erhielt er den Joseph-Ratzinger-Preis.
Dies Interview erschien erstmalig im Vatican-Magazin 6/22, S. 22-28