Die vielzitierte „sexualisierte Gewalt“ wird in allen Medien verbal festgehalten, während ein anderer dabei wegläuft – der tatsächliche sexuelle Gewalttäter. Helmut Müller mit einem beherzten: „Haltet den Dieb“.

Auch der Antwortbrief von Bischof Bätzing an die 74 Bischöfe enthält wieder die Worthülse „systemische Ursachen“, die immer wieder auch mit „sexualisierter Gewalt“ gefüllt wird. Dabei ist selbst schon dieses Wording problematisch. Auch während der Sitzungen des synodalen Weges war ständig davon die Rede gewesen, aber nie die Sache selbst in angemessener Weise thematisiert worden. Was verbirgt sich dahinter?

Beim Begriff „sexualisierte Gewalt“ handelt es sich um ein Neutrum, einen Begriffsmix aus Neomarxismus und foucault’scher Philosophie. Das neomarxistische daran ist das Machtgefälle von Täter und Opfer, das es tatsächlich gibt. Das lässt sich aber nicht nur auf ein immer wieder bemühtes, systemisches Katholisches begrenzen, sondern gehört zur Sozialstruktur von homo sapiens. Unsere Spezies hat nicht etwa die Sozialstruktur von Heringen, deren Seitenlinienorgan für „Augenhöhe“ sorgt, eine Qualität die auf dem Synodalen Weg sehnlichst erwünscht wird. In fortgeschrittenen Gesellschaften konstituieren sich hingegen entsprechend unserer Sozialstruktur die Institutionen (Helmut Schelsky)  u. a. auch Kirchen, die ohne Hierarchien und seien sie auch noch so flach, nicht auskommen.

„Kultur ist Triebverzicht“ und kein „Garten der Lüste“

Das foucault’sche an oben genanntem Begriffsmix ist die sich gegen jegliche vernünftige Einhegung spreizende Triebstruktur[1], ursprünglich schopenhauer’scher Herkunft, von Nietzsche benannt mit „Willen zur Macht“ und von Foucault so übernommen. Wenn man die Nähe zur Pädophilie Foucaults streicht, ist das alles nicht ganz verkehrt. Die bisherige katholische Moraltheologie in Anlehnung an Thomas hatte das bisher aber viel besser auf den Begriff gebracht.

Thomas sah im Begehren eine inclinatio naturalis, eine natürliche Neigung, zu einem Guten hin, das in den freien Gestaltungsbereich menschlichen Handelns ragt. Sogar mit Freud gesprochen sollte der Mensch aus dieser Libido heraus personales Lieben gestalten. Von ihm stammt das Wort: „Kultur ist Triebverzicht,“ bzw. Triebregulierung.

Das ist eine andere Akzentsetzung als die im „Garten der Lüste“ von Wilhelm Schmid, in welchem der Berliner Philosoph den „Gebrauch der Lüste“ wie sie Michel Foucault lehrte, beschrieb. Auch die Mehrheit der deutschen Bischöfe allen voran Bätzing scheint andere Akzente setzen zu wollen und seit dem Lingener Vortrag Eberhard Schockenhoffs der ethischen Gestaltungskraft einer vernünftigen Tugendethik zu misstrauen. Leider ist die Mehrheit der deutschen Bischöfe dem Wandel der schockenhoffschen Tugendethik gefolgt:

In der ersten Auflage seiner Ethik (2007) waren im Sachregister noch für Tugend/Lust 31/13 Einträge, in der 2. Auflage 25/9 Einträge zu zählen, in seiner Sexualethik Die Kunst zu lieben von 2021 konnten im Sachregister zu Tugend kein einziger Eintrag, aber zu Libido/Lust 24 Einträge gezählt werden. Den Grund dieses Wandels hat er mit ins Grab genommen. Es sollte nachdenklich machen, weshalb Michel Foucault zuletzt eine offenbar größere Rolle in seinem Denken gespielt hat als Thomas von Aquin.

Der Begriff „Sexualisierte Gewalt“ verbleibt im Neutrum, verdächtigt Strukturen, mit Vorliebe katholische

Die inclinatio naturalis – die natürliche Neigung bei Thomas wird bei Tieren vom Instinkt geregelt, beim Menschen sollte sie von der sittlichen Vernunft kultiviert werden. Das heißt es gibt einen identifizierbaren Täter einer guten oder schlechten Tat. Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ verbleibt im Neutrum, verdächtigt Strukturen, mit Vorliebe katholische. So kann sich der wirkliche Täter, der sexuelle Straftäter davonschleichen. Im Hinblick auf die katholische Kirche scheint das jetzt auch schon bei Bischöfen üblich zu sein. Hoffentlich nicht aus einem nahe liegenden Motiv: Ich bin ja als Bischof in diese Struktur eingebunden gewesen und bin selbst ein Opfer dieser Struktur geworden und bin eigentlich kein Täter beim Vertuschen gewesen.

Auf Ähnliches verweist der Religionssoziologe Detlev Pollack im Hinblick auf den Gottesbegriff: Der personal begriffene und geglaubte Gott bewegt sich immer mehr auf eine Schwundstufe, namens höhere Macht. Allerdings gibt es dafür schon eine lange biblische Tradition, die solches Denken anklagt: Darüber lesen wir schon bei Jesaja 10, 15, da ist von einem „Stock“ die Rede, „der den schwingt, der ihn hoch hebt“.

Offenbar schwingen die bösen Strukturen der Kirche den armen Würdenträger, wenn er ein Kind missbraucht oder einen Missbrauch vertuscht. Der arme Würdenträger oder sogar der sexuelle Straftäter ist dann erfolgreich weggelaufen, weil ein Neutrum dingfest gemacht wird. Wenn er dann dennoch gefasst wird, mildert ein „sexualisierte Gewalt begünstigendes System“ seine Schuld.

3 – 4 Prozent sexueller Straftäter in über 70 Jahren machen das Lebenswerk von 96 – 97 Prozent in dieser Hinsicht unbescholtener Menschen zunichte

Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz hat schon dieses Narrativ bemüht, als er von „Täterorganisation“ sprach und die katholische Kirche damit meinte. Ihm folgte der Kölner Weihbischof Steinhäuser als er die Verwaltung des Erzbistums Köln übernahm und sich gleich damit brüstete jetzt Chef einer Täterorganisation zu sein und damit schon „davon lief“ als er das Amt annahm. Was soll man da noch sagen, wenn einem vorgeworfen wird, Angehöriger einer Kinderfickerorganisation o. ä- zu sein, wenn sich gleich zwei Bischöfe dazu bekennen?

Wenn also – im Sinne der Redensart – der falsche Dieb festgehalten wird, in diesem Fall ddie katholische Kirche, wer ist denn dann der Dieb, der wegläuft und schreit: „Haltet den Dieb“? Das heißt im Klartext, das Neutrum, „die unpersönliche sexualisierte Gewalt“ ist der fest zu haltende Dieb – die kirchlichen Strukturen. Der tatsächliche sexuelle Gewalttäter, der einen Namen hat, seinen Trieb nicht regulieren kann – und zu identifizieren ist, läuft weg und schreit: „Haltet den Dieb!“

Auch der diese Tat vertuschende Bischof, Generalvikar und jeder davon Wissende, deckt den Täter und macht jetzt im großen Stil die kirchlichen Strukturen dafür verantwortlich. Das kommt vielen entgegen, weil diese Strukturen seit der Würzburger Synode schon missliebig sind und man jetzt so richtig auf sie zeigen kann: „Da ist der Dieb“.

3677 klerikale Verdachtsfälle in 68 Jahren gegen 175.126 aktuelle Missbräuche in der Gesamtgesellschaft

3 – 4 Prozent sexueller Straftäter in über 70 Jahren machen das Lebenswerk von 96 – 97 Prozent in dieser Hinsicht unbescholtener Menschen zunichte. Natürlich sind damit zahlreiche Straftaten schlimmsten Ausmaßes verbunden. Auch bei 4 – 5 Prozent Unwirksamkeit der Impfung mit Biontec beim Wildtyp von Covid 19 ist jeder unwirksam Geimpfte einer zuviel. Das ist der Stoff von Verschwörungstheorien, den sich Impfgegner unter anderem zu eigen machen. Es ist aber regelrecht verboten auch nur die Frage ins Spiel zu bringen, ob es sich im Fall der katholischen Kirche vielleicht auch um eine Verschwörungstheorie handelt.

Sieht man sich die Zahlen von missbrauchten Kindern nach Polizeistatistiken an, dann kommt man in den Jahren von 2009 – 2020 auf eine Zahl von 175.126 missbrauchten Kindern[2]. Dieser Hellfeldstatistik steht die Hellfeldstudie des MHG Gutachtens gegenüber, die in 68 Jahren 3677 Verdachtsfälle (!) von Missbräuchen auflistete. Ich erspare mir die Umrechnung aufs Jahr um dem Vorwurf zu entgehen Schuld minimieren zu wollen. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass ein Missbrauch durch einen Priester unvergleichlich schlimmer ist, als durch einen unbekannten Täter oder entfernten Verwandten. Deshalb kann dieser Text nicht so gelesen werden, dass man sich eine Aufklärung ersparen könnte.

Wenn der Blick des Anderen zu einer Identitätsstörung des eigenen Selbstbildes führt

Sehr wohl sollte der Text aber so gelesen werden, weshalb die katholische Kirche und ihre Vertreter alle – zum Teil maßlosen Vorwürfe einfach wehrlos hinnimmt. Vermutlich ist es das, was Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir meinen, dass der Blick des Anderen in diesem Fall die Blicke der anderen zu einer Identitätsstörung des Selbstbildes führt. Damit meinen sie, dass jeder Mensch durch andere sich stärker bestimmen lässt als durch sein eigenes Selbstbild, das er von sich hat.

Nicht anders zu verstehen ist daher das Ergebnis der dritten Sitzungsperiode des synodalen Weges in der sich zwei Drittel der Bischöfe nicht gewehrt haben, katholisches Tafelsilber in Lehre, Disziplin und Selbstverständnis zu verscherbeln. Bei Jean Paul Sartre heißt es: „Die Hölle, das sind die anderen“. Seit der dritten Sitzungsperiode haben wir dieselbe in die Bistümer, in die Pfarreien, ja sogar in die Familien hereingeholt, weil das, was einmal geglaubt wurde, in einer Weise zur Disposition gestellt wird, die sprachlos macht.


[1] Foucault verstand seine Arbeiten ausdrücklich auch politisch. So unterschrieb er 1977 einen offenen Brief, in dem dazu aufgefordert wurde, den Straftatbestand Pädophilie abzuschaffen, und in einem Interview vertrat er die Position, dass Kinder sehr gut selbst einzuschätzen imstande seien, ob sie einvernehmlichen Sex wollen oder nicht. In „Sexualität und Wahrheit“ hatte er die Unterscheidung von kindlicher und erwachsener Sexualität als ein weiteres Machtdispositiv beschrieben. „So weiß man natürlich, dass die Kinder keinen Sex haben: und hat damit einen Grund, ihnen den Sex zu untersagen und ihnen die Rede davon zu verbieten, einen Grund, die Augen zu schließen und die Ohren zu verstopfen, wo immer sie dennoch etwas davon zur Schau stellen sollten, einen Grund, ein allgemeines und lastendes Schweigen durchzusetzen.“ Geständnisse des Fleisches (FR vom 11. 4. 21).

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/38415/umfrage/sexueller-missbrauch-von-kindern-seit-1999/  Zugriff 14. 2. 22

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von Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

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