Newman-Kenner Prof. em. Dr. Michael Fiedrowicz macht ein Gedankenexperiment zum heutigen besonderen Ereignis: Papst Leo erhebt Kardinal Newman heute zum Kirchenlehrer. Was würde der berühmte Konvertit, der später Kardinal wurde und 2019 heiliggesprochen wurde, uns wohl aktuell hier in Deutschland lehren?
In seinem Werk ‚Über die Entwicklung der Glaubenslehre‘, mit dem sich John Henry Newman die intellektuellen Grundlagen für den Entschluss zur Konversion erarbeitete, machte er ein gedankliches Experiment. Er fragte:
„Würden der heilige Athanasius oder der heilige Ambrosius plötzlich wieder lebendig, so kann kein Zweifel darüber bestehen, welche Gemeinschaft sie für die ihrige halten würden. […] Kämen dieselben Heiligen, die beide einst in Trier weilten, der eine im Exil, der andere auf Gesandtschaft, noch weiter nordwärts und reisten so weit, bis sie eine andere Stadt (d.h. Oxford) erreichten, zwischen Wäldern, grünen Wiesen und sanften Strömen gelegen, – würden die heiligen Brüder sich nicht von manchem hohen Chor und feierlichem Kreuzgang abwenden, die sie dort fänden, würden sie nicht den Weg nach irgendeiner kleinen Kapelle erfragen, wo in der stark bevölkerten Gasse oder in der verlorenen Vorstadt die heilige Messe gelesen würde?“
Im Gegensatz zum Anglikanismus und Protestantismus stand für Newman einzig die römisch-katholische Kirche in klarer Kontinuität zur maßgeblichen Kirche des Anfangs.
Erkennt man die “Kirche der Väter” noch?
Heute lässt sich jedoch die Frage nicht abweisen, ob das, was Newman an der vom liberalen Geist erfassten anglikanischen Kirche kritisierte, inzwischen nicht auch in der katholischen Kirche zur Realität geworden ist. Die rationalistische Aushöhlung der Glaubenswahrheiten in der Theologie, die Preisgabe des dogmatischen Prinzips zugunsten relativistisch-vager Äußerungen des kirchlichen Lehramtes, die Staatshörigkeit der Hierarchie sowie ihr Betteln um Anerkennung seitens der glaubenslosen Welt prägen gegenwärtig in nie dagewesenem Maße das Erscheinungsbild derjenigen Kirche, zu der Newman konvertierte, weil er in ihr die Züge der Kirche der Väter erkannt hatte.
Es wäre verlockend, das eingangs geschilderte gedankliche Experiment einmal auf Newman selbst zu übertragen und auf die heutige Zeit zu beziehen. Die Frage lautete dann: Käme Newman, der zweimal Deutschland bereiste, Köln, München, Trier und Aachen besuchte, nochmals in dieses Land, wie würde er wohl die katholische Kirche hier wahrnehmen, wovon würde er sich abwenden, wohin sich gezogen fühlen?
Schwer vorstellbar ist es, dass Newman heute ein Anerkennungsschreiben eines Katholikentages erhielte, wie es 1864 geschah, als der Präsident der Katholikenversammlung zu Würzburg ihm schrieb, er sei beauftragt worden,
„… deren tiefgefühlte Dankbarkeit für Ihre kürzlich erschienene geistreiche Verteidigung des katholischen Klerus nicht bloß Englands, sondern der ganzen Welt gegen die Angriffe seiner Feinde auszudrücken.“
Wo fände Newman Urkirche heute?
Gemeint ist die ‚Apologia pro vita sua‘, mit der Newman durch die Schilderung seines inneren Ringens um die Wahrheit dem Vorwurf der Unaufrichtigkeit entgegentrat, den ein anglikanischer Geistlicher gegenüber dem Konvertiten erhoben hatte, um zugleich den katholischen Klerus unter Generalverdacht zu stellen, der in Anwendung „römischer“ Moralprinzipien alles für erlaubt halte, was ihm ins Konzept passe.
Ebenso schwer vorstellbar ist es, dass Newman von der Effizienz immer neuer Räte, Gremien, Foren und Ausschüsse überzeugt gewesen wäre, wie sie im Zusammenhang des Synodalen Weges entstanden. „Lebendige Bewegungen gehen nicht von Komitees aus“, schrieb er zu Beginn der Oxfordbewegung, die eine Erneuerung der anglikanischen Kirche am Maßstab der Kirche der Frühzeit zum Ziel hatte. Ein Satz übrigens, den auch Kardinal Ratzinger 1990 in einer Ansprache vor Teilnehmern eines Newman-Symposiums in Rom zustimmend zitierte.
Mission und Erneuerung
Bekäme Newman heute die Chance, der Kirche in Deutschland Wege einer wirklichen Erneuerung zu empfehlen, die missionarische Kraft besitzt, dann könnte er wortwörtlich seine Vorstellungen über das Apostolat der Laien aufgreifen, wie er sie 1851 in einer Vortragsreihe ‚Über die gegenwärtige Stellung der Katholiken in England‘ formuliert hatte. In erster Linie ging es ihm darum, die katholischen Laien in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken sowie zur Auseinandersetzung mit den Vorurteilen und Diffamierungen seitens der Nicht-Katholiken zu befähigen. Im abschließenden Vortrag rief Newman insbesondere die dem Oratorium von Birmingham enger angeschlossenen Laien zu einem mutigen Glaubenszeugnis in der Öffentlichkeit auf. Programmatisch beschrieb er die Anforderungen, denen ein Katholik entsprechen solle, um seine Glaubensüberzeugungen in einer Gesellschaft vertreten zu können, die dem katholischen Glauben weithin verständnislos oder ablehnend gegenübersteht:
„Ich wünsche mir Laien, nicht arrogant, nicht vorlaut, nicht streitsüchtig, sondern Menschen, die ihre Religion kennen, die sich auf sie einlassen, die ihren eigenen Standpunkt kennen, die wissen, welcher Meinung sie sind und welcher nicht; die ihr Glaubensbekenntnis so gut kennen, daß sie darüber Rechenschaft ablegen können, die über so viel geschichtliches Wissen verfügen, daß sie ihre Religion zu verteidigen wissen. Ich wünsche mir intelligente, gut gebildete Laien. […] Ich wünsche mir, daß Sie Ihr Wissen vergrößern, Ihren Verstand heranbilden, daß Sie lernen, Einsicht in das Verhältnis von Wahrheit zu Wahrheit zu gewinnen und die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich wünsche mir, daß Sie verstehen, wie Glaube und Vernunft sich zueinander verhalten, was die Grundsätze und Prinzipien des Katholizismus sind, endlich worin die hauptsächlichsten Inkonsequenzen und Ungereimtheiten der protestantischen Theorie liegen. […] Sie sollten in der Lage sein, dem, was Sie fühlen und meinen, Ausdruck zu geben. Sie sollten die Phantasien und Irrtümer Ihrer Gegner anderen so offenlegen können, daß sie sie verstehen. Und Sie sollten ebenso die gegen die Kirche gerichteten Anklagen erklären können, nicht etwa um blind ergebene Frömmler zufriedenzustellen, sondern Menschen mit Verstand, welcher Ansicht sie auch immer sein mögen.“
Newmans Impulse und Vision – hochaktuell
In vielfältiger Weise engagierte sich Newman für die religiöse Bildung der katholischen Laien, um diese entsprechend ihren Möglichkeiten und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu befähigen, in unterschiedlichen Bereichen und Situationen ein ‚Apostolat des Wortes‘ auszuüben, wie es das Dekret über das Laienapostolat des Vatikanums II beschrieb (Nr. 16). Newmans Impulse, die durch den historischen Kontext zunächst für die interkonfessionelle Auseinandersetzung bestimmt waren, lassen sich ohne weiteres auf die Herausforderungen der Gegenwart anwenden, wie sie dasselbe Dekret beschrieb (Nr. 6), zumal Newman selbst mit prophetischem Weitblick ein künftiges Zeitalter des Unglaubens voraussah, auf das er die katholischen Laien vorzubereiten suchte. Wie diese befähigt werden könnten, „im Geist der Kirche noch eifriger bei der Herausarbeitung, Verteidigung und entsprechenden Anwendung der christlichen Grundsätze auf die Probleme unserer Zeit ihren Beitrag zu leisten“ (Nr. 7), hat der von Papst Leo XIV. zum Kirchenlehrer erhobene John Henry Newman exemplarisch gezeigt.
Prof. em. Dr. Michael Fiedrowicz
Jahrgang 1957, Priester des Erzbistums Berlin, lehrte 2001 bis 2023 Kirchengeschichte des Altertums und Patrologie an der Theologischen Fakultät Trier. Er publizierte u.a.: John Henry Newman und die Kirchenväter – Anti-Liberalismus im Geist der frühen Kirche, Fohren-Linden 2020 (Carthusianus Verlag). Des Weiteren zwei Video-Beiträge www.youtube.com/@SplendorveritatisAkademie: John Henry Newman und die Kirchenväter. Teil 1 „Die Väter haben mich katholisch gemacht“ – Patristische Impulse für die Auseinandersetzungen der Gegenwart, Teil 2 „Helle Köpfe und heilige Herzen“ – Biographische Skizzen der frühen Glaubenszeugen
Beitragsbild: John Henry Newman / Artist: Unknown. ©Alamy

