Die Katholische Universität Löwen verpasst Franziskus eine schallende Ohrfeige. So bekommt der Papst zu spüren wie es ist, in einer Kirche im Modus der Entfremdung zu leben. Doch was katholisch ist, wird nicht nur in Belgien gedehnt, stellt Bernhard Meuser fest.

Da kommt also der Papst extra nach Belgien, um eine Ortskirche zu ermutigen, die – ähnlich der deutschen – aus dem letzten Loch pfeift. Und weil die „katholische“ Universität von Löwen auch noch auf 600 (zum Teil höchst ruhmreiche) Jahre zurückblickt, ehrt sie der Papst durch seine Anwesenheit. Statt diese Geste mit Respekt und Dankbarkeit zu würdigen, verpasst ihm die nicht mehr so ganz katholische Universitätsleitung – kaum, dass der Pontifex seine Rede beendet hat – eine schallende Ohrfeige. In einem offenkundig fixfertig in der Schublade liegenden Papier hauen ihm die universitären Oberlehrer „ihr Unverständnis und ihre Missbilligung über die … geäußerte Position zur Rolle der Frau in der Kirche und in der Gesellschaft“ um die Ohren. Die Ansichten des Oberhaupts der Kirche seien „konservativ“, dazu noch „deterministisch und reduktiv.“

Da hat es der Papst also gewagt, Ungeheuerlichkeiten von XX-Wesen zu behaupten, – etwa des Kalibers, dass Frausein „von fruchtbarem Empfangen, von nährender und lebensspendender Hingabe“ spreche. Mehr noch, der Papst hatte es gewagt, Wesensaussagen von der Frau zu machen und sich auf das Naturrecht zu berufen: „Was die Frau charakterisiert, was wirklich weiblich ist, wird nicht durch Konsens oder Ideologien festgelegt, so wie die Würde selbst nicht durch Gesetze auf dem Papier, sondern durch ein ursprüngliches Gesetz, das in unsere Herzen geschrieben ist, gewährleistet wird.“

Mit feinem Gespür für toxischen Paternalismus regten sich die Löwener Lehrenden über Papstworte auf, wie etwa: „Die Weiblichkeit spricht zu uns. Aus diesem Grund ist eine Frau wichtiger als ein Mann, aber es ist schrecklich, wenn eine Frau ein Mann sein will: Nein, sie ist eine Frau, und das ist ‚schwer‘ und wichtig“. Wie konnte Papst Franziskus die globale feministische Schwarmintelligenz so brutal provozieren, dass er auch im Flugzeug keinen Ton der Entschuldigung fand und auch dort keinen Millimeter von seinem Standpunkt abwich?

Hautkontakt mit einer Kirche im Zustand der Selbstsäkularisierung

Der ganze Vorgang weckt finstere Erinnerungen an den kollektiven Suizid der holländischen und belgischen Kirche in den Siebziger und Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die einstmals blühenden Ortskirchen sich von der großen Überlieferung der Kirche emanzipierten, jede geistliche Autorität – sei es von Bischöfen, sei es vom Papst – außer Kraft setzten und sich mit Hingabe der „Welt“ an die Brust warfen. Die nahezu komplette Demission von der Mater und Magistra führte innerhalb von zwei Jahrzehnten dazu, dass die Ortskirchen in Benelux zuerst in Chaos, dann in Bedeutungslosigkeit versanken und heute nur noch ein Häuflein der Aufrechten darstellen. Freilich zeigen sich auch erste Anzeichen eines neuen Frühlings, der freilich in keiner Weise die Frucht der Selbstsäkularisierung, sehr wohl aber die Frucht von still blühenden Charismen, ungebrochener Frömmigkeit und einer neuen Hingabe an das Evangelium ist.

Nun hatte der Papst aus Lateinamerika einmal Gelegenheit, Hautkontakt mit Ortskirchen zu bekommen, die sich noch „katholisch“ nennen, sich an den erkalteten institutionellen Rändern aber längst in Anarchie aufgelöst haben. Anarchie ist das treffende Wort; es kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Herrschaftslosigkeit, Zügellosigkeit.“ An-Archie hat den Vorteil, dass jeder darf. Nun existiert eine „katholische“ Hochschule – wie groß und offen und mit dem Staat verfilzt und der Wissenschaft ergeben sie immer sein mag – im Rahmen elementarer Grundüberzeugungen, die etwas mit der Offenbarung zu tun haben. Wer sich auch nur entfernt mit „christlich“ oder katholisch schmückt, kommt von jenem Herrschaftswechsel her, den Jesus in Mt 16,16 und an vielen anderen Stellen von denen einfordert, die zu ihm gehören wollen. Er ist der „Herr“ (Phil 2,11); von ihm und den Offenbarungen Gottes her denken wir und versuchen es durch die Vernunft einzuholen. Es gibt für christliche Institutionen und Lehrinstanzen keine Autorität oben drüber, keine Nebenorte, die der zentralen Grundeinsicht zuwiderlaufen. Die Struktur allen Tuns und Denkens in der Kirche ist kein Boxring, in dem sich der Sieger nach zwölf Runden herausstellt. Katholisch sein heißt, sich in einer „heiligen“ Ordnung – griechisch: Hierarchie – zu bewegen. Und eben diese Hierarchie befindet sich im Stadium einer bloß noch formellen Anerkennung. Die Anarchie empfängt den Papst noch. In Wahrheit hält sie ihn für einen Grüß-Gott-August, der seine Reden besser vorher auf Konsens zensieren lassen sollte.

Kaum zu rechtfertigende Dehnungen von „katholisch“

Der Papst konnte einmal „fühlen“, wie das ist, in einer Kirche im Modus der Entfremdung zu leben, einer Kirche, in der du nicht mehr atmen kannst, weil implantierte Ideologien das Feld beherrschen und Sprachverbote an der Tagesordnung sind. Die „Belgische Krankheit“ ist in Wahrheit die Krankheit von halb Europa. Die brutal aus dem Ruder laufende Frage kirchlicher Identität gibt es nicht nur in Belgien; im Grunde ist es ja in Deutschland und in der Schweiz nur graduell anders – und auch in Österreich gibt es kaum zu rechtfertigende Dehnungen von „katholisch“.

Katholisch soll gerade heißen: Jeder tut, was er will und nennt es neue Moral. Jeder lehrt, was er will, und nennt es Bekehrung zur Lebenswirklichkeit heute. Faktisch haben wir es mit einer Kirche zu tun, die sich auf den Kopf stellen ließ:

„Die Kirche darf nicht mehr die Welt bekehren, sondern sie selbst muss sich zur Welt bekehren. Sie hat der Welt nichts mehr zu sagen, sie hat ihr nur noch zuzuhören.“ (Louis Bouyer)

Auch die katholische Hochschule von Louvain kommt mit dem Standardspruch, der sie über die herkömmliche Kirche erhebt, man sei eben eine „inklusive Universität, die sich gegen sexistische und sexuelle Gewalt einsetzt“, ihr gehe es um die freie Entfaltung des Menschen, „unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht oder seiner sexuellen Orientierung“. Mitgemeint: Die Kirche exkludiert und diskriminiert. Sie lehrt und handelt sexistisch. Sie ist die Inkarnation von Missbrauch. Fehlt nur noch die Berufung auf die Menschenrechte, womit man die Nase noch etwas höher hätte heben können.

Ein Papst, der im Flugzeug „steht“ . . .

Nun darf man stolz auf einen Papst sein, der das Selbstverständliche mit Freimut äußert und die im Evangelium dafür vorgesehenen Prügel (Joh 15,20) erntet: Dass es XX- und XY-Männer und Frauen gibt – und sonst vielleicht Menschen, denen man mit Respekt begegnen muss, weil sie vielleicht verwundet und in ihrem Gefühlshaushalt mit ihrer Körperidentität nicht kongruent sind. Dass es so etwas wie „Frauen“ gibt, und dass es wunderschön ist, dass es sie gibt. Dass sie ein Wesen haben, das unverfügbar und äußerlichen Zuschreibungen entzogen ist und an dem niemand schrauben darf. Dass es eine Würde gibt, die aus Natur und Naturrecht ebenso erkannt werden kann, wie es Juden und Christen noch einmal tiefer in Gottes schöpferischer Liebe erkennen, in der Mann und Frau zur Fruchtbarkeit und Ebenbildlichkeit mit Gott berufen sind.

Das alles ist Eisen der Lehre und keine Knetmasse für das theologische Oberseminar. Es ist auch gesunder Menschenverstand. Denn natürlich glaubt das die überwiegende Menge der Menschen, die sich angewidert von einer elitären Ideologie abwendet, die unseren Kindern weismachen will, man könnte sein Geschlecht jährlich wechseln und es sei vollkommen in Ordnung, wenn ein als Frau firmierender Mann bei Olympia eine Frau im Ring verprügelt. Und glücklicherweise wünschen sich auch wenige Frauen wirklich das Recht, ihre eigenen Kinder töten lassen zu dürfen.

Über universitäre Autonomie und religiösen Liberalismus

Bei den Vorgängen in Belgien haben wir es einmal mehr mit einem Autonomiebegriff der Selbstermächtigung zu tun, der sich abschottet gegen jeden Einspruch von außen – und sei es durch einen Papst, der auf „Lehre“, „Wahrheit“ und „Wort Gottes“ rekurriert. Wir finden diesen radikalen Autonomiebegriff durchgängig im (atheistischen) Humanismus und nun auch bei der falschen Kant-Interpretation von Magnus Striet und anderen Theologen. Bei Kant ist die Autonomie dazu da, mit höchster Authentizität das Gute zu tun, – es als „Pflicht“ gegenüber einem objektiven, allgemeinen Sittengesetz und nicht als Recht auf ein von jeder Außenbestimmung befreites Freiheitsgeschehen zu begreifen. In einem Denkraum, in dem nur die Freiheit die Freiheit bestimmt, hat „Wahrheit“ notwendigerweise keinen Platz, nicht objektive Gerechtigkeit und auch keine Würde, die größer und jenseits von dem ist, was „ich“ will oder was „wir“ wollen. Schon gar nicht lässt sich Theologie und „Gott“ in diesem absoluten Autonomiedenken einordnen. Magnus Striet verabschiedet den Allmächtigen nicht nur aus der Ethik, sondern auch aus der Vernunft; so sagt er: „Ist der menschlichen Freiheit die Würde der Freiheit das Höchste, so kann sie nur einen Gott akzeptieren, der sich in ihr moralisches Universum einfügt.“ Gottes Moralität, so resümiert Engelbert Recktenwald, „besteht in seiner Unterwerfung unter menschliche Erwartungen.“ Universität heißt dann: Sich von niemand mehr etwas sagen lassen, was wir nicht schon selbst herausgefunden haben oder noch herausfinden werden.

Logischerweise landen wir dann nicht bei der Wahrheit, sondern erstens bei der bekannten

„Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ (Papst Benedikt XVI.)

Und zweitens haben wir es mit dem religiösen Liberalismus zu tun, den schon John Henry Newman im 19. Jahrhundert geißelte:

„Liberalismus in der Religion ist die Lehre, dass es keine positive Wahrheit in der Religion gibt, dass vielmehr ein Glaubensbekenntnis so gut wie das andere ist. … Er (der Liberalismus) lehrt, dass alle toleriert werden sollen, aber alle Meinungssache sind. Die geoffenbarte Religion ist nicht eine Wahrheit, sondern ein Gefühl und eine Geschmackssache, keine objektive Tatsache, nicht übernatürlich, und jeder einzelne hat das Recht, sie das sagen zu lassen, was ihm passt.“

Sehr gefreut habe ich mich über den amerikanischen Philosophen D. C. Schindler, der im Tagespost-Interview zu Idee des religiösen Liberalismus – dort steht es jedem frei zu entscheiden, ob und woran er sich bindet – feststellt:

„Das Problem ist, dass wir das Wesen des Guten, der Religion und der Tradition tiefgreifend verändern, wenn wir sie zu Objekten der Wahl umgestalten, anstatt sie als Realitäten zu begreifen, die uns vorausgehen, unsere Existenz begründen und überhaupt erst in die Lage versetzen, Entscheidungen zu treffen.“


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.


Foto: Imago
Der Beitrag erschien am 1.10.24 in der Tagespost

Melden Sie sich für unseren Newsletter an