Die Lehre der Kirche scheint in der gegenwärtigen öffentlichen Auseinandersetzung selbst von einigen Bischöfen in die Katakomben verbannt zu werden, während man einen 95-jährigen Vertreter derselben im Colloseum gnadenloser Medien anprangert. Eine Reihe von Theologen und mittlerweile auch Bischöfen glauben offenbar mehr zweifelhaft gedeuteten Ergebnissen der Humanwissenschaften als der Lehre der Kirche.
Die jüngste Diskussion am 3. Februar 2022 bei der Zusammenkunft der Delegierten des Synodalen Weges in Frankfurt hat es gezeigt: Der anfangshaft im 17. Jahrhundert durch Francis Bacon begonnene Wandel vom „Heilswissen“ zum „Herrschaftswissen“ (Max Scheler) wird nun auch in einem Ausmaß durch Bischöfe vollzogen, der bis vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen ist. Die traditionellen „loci theologicis“ erlebten in der Diskussion eine beachtliche Akzentverschiebung vom Evangelium, dem Heilswissen schlechthin zu den Humanwissenschaften, die immer mehr sich als Herrschaftswissen entpuppen.
„Ich glaube an die Wissenschaft, die humane und so gut wie allmächtige.“
Das scheint das neue Credo von manchen Theologen zu sein. Sie tragen es wie eine Monstranz vor sich her und leider folgen ihnen immer mehr Bischöfe. Diesen Eindruck habe ich schon länger und erst recht, wenn man die Stellungnahme des Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz zusammen mit dem Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet zur römischen Verlautbarung Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts bei bei katholisch.de vom 16. März 2021 liest. Striet gibt es sogar in einem Interview mit Christiane Florin zu: „Ich weiß nicht, ob ich mich als wissenschaftsgläubig bezeichnen möchte, aber ich würde zunächst einmal doch ein starkes Pathos für die Wissenschaften vertreten wollen“. Im weiteren Verlauf fragt ihn Florin: „Hilft es Ihnen in dieser Situation [gemeint ist der erste Lockdown in März 2020], Theologe zu sein?“ Striet: „Ach, das ist eine schwere Frage. Ich weiß auch nicht, ob die Frage sich an einen Theologen oder an einen gläubigen Menschen richtet. Florin: Das sollte ja eigentlich zusammengehen. Striet: (lacht) Ja, das ist eine spannende Frage. Ich rede mal aus der Perspektive eines gläubigen Menschen, der aber auch immer wieder von Zweifeln überfallen wird“[1]
Die Kirche hat sich „von den Humanwissenschaften aufklären zu lassen“ (St. Goertz)
Nicht besser klingt der Bezug von Stefan Goertz zur kirchlichen Theologie: Die Kirche habe sich „von den Humanwissenschaften aufklären zu lassen“, fordert er. Das ist zunächst nicht verkehrt, aber die alte Fixierung auf Sexualität in der Ehe und auf die Fortpflanzung sei aufzugeben. Er meint weiter, dass „die Zeit der kirchlichen, moralischen Bevormundung der menschlichen Sexualität wohl tatsächlich unwiderruflich vorbei ist“.[…] „Menschen wissen auch ohne Katechismus zum einen, was es mit der menschlichen Sexualität auf sich hat und zum anderen wie man diese auch moralisch verantwortet leben kann“. Wir würden zudem in einer Zeit leben in der Sexualität ihre Ausrichtung auf Nachkommenschaft und ihre soziale Funktion eingebüßt hat.
Unglaublich! Wovon wird er eigentlich leben, wenn er mit hohem Salär einmal emeritiert sein wird? Gehört das zu den neuen Erkenntnissen der Humanwissenschaften? Klar, wenn es neben 200 Lehrstühlen für Gender nur noch einen für Bevölkerungswissenschaften in Rostock gibt, können Humanwissenschaften diesen Eindruck erwecken.
Kirchlicher Glaube wird offenbar auf Humanwissenschaften übertragen
Beide Aussagen, die von Striet vor zwei Jahren und die von Goertz vor einem Jahr, erinnern mich an eine Podiumsdiskussion, die ich 2009 mit einem Biologen führte. Anlässlich des 150. Jahrestages von Charles Darwins Werk „On the Origin of Species“ hatte die Universität Koblenz zum Thema „Schöpfung oder Zufallsprodukt. Ein Streitgespräch über die Evolutionsbiologie“ eingeladen. Ich machte den Biologen darauf aufmerksam, dass Wissenschaften von ihrer Methodik her hypothetisch arbeiten, worauf ich zur Antwort bekam. Wir [die Biologie] sind mittlerweile so nahe an der Wirklichkeit dran, dass die noch fehlende Deckung mit ihr unerheblich sei. Sind die viel gerühmten Erkenntnisse der Humanwissenschaften auch so nah an der Wirklichkeit? Die oben genannten Theologen haben offenbar den Glauben unter dem sie angetreten sind auf die Humanwissenschaften übertragen. Dieses „Fremdgehen mit dem Glauben“ wird immer mehr hingenommen.
Aber was geschieht bei diesem Fremdgehen eigentlich? Natur- und Humanwissenschaften liefern Fakten: Sie interessieren Gesetzmäßigkeiten, denen Fakten unterworfen sind. „Erst die Theorie entscheidet, was man beobachten kann“ (Albert Einstein) (Vielleicht auch der Glaube an die Humanwissenschaften?). Beobachtungen werden dann in bereits Bekanntes, in Theorien eingeordnet, in ein Netzwerk oder Gewebe von Sätzen und Tatsachen, zugespitzt, in ein Gewebe von Logik und Empirie. Das Hempel-Oppenheim-Schema ist eine Art Basismodul eines solchen Gewebes:
„Wir können keinen göttlichen Fuß in der Tür (der Natur und des Weltlaufs) zulassen.“
Dieses Schema verbindet Beobachtungen oder Tatsachen mit einer Gesetzlichkeit, Empirie mit Logik. Allerdings müssen die Beobachtungen „aufbereitet“, testbar, wiederholbar, wissenschaftlich standardisiert werden. Das H.-O-Schema[2] gilt also nur für kontrollierte Erfahrung. Erfahrung ist aber mehr als das. Trotz aller Anstrengungen, Erfahrung „aufzubereiten“, wird es immer einen nicht standardisierbaren Rest geben. Es gibt Erfahrungen von singulären Ereignissen, etwa Gutenbergs Buchdruck, also Erfahrungen, die nicht metaphysisch sind und nicht in das Raster der Naturwissenschaften passen. Es ist selbstverständlich, Metaphysik, etwa die Erschaffung der Welt und des Menschen aus dem Bereich der Naturwissenschaften auszuklammern. Eine Formulierung wie die eines amerikanischen Naturwissenschaftlers ist allerdings eine Kriegserklärung an alle „Metaphysiker“: „Wir Naturwissenschaftler wissen uns vor aller wissenschaftlichen Tätigkeit, »dem Materialismus verpflichtet […] Dieser Materialismus ist absolut, denn wir können keinen göttlichen Fuß in der Tür (der Natur und des Weltlaufs) zulassen.“ Er macht den starken Naturalismus zum Kern seines Wirklichkeitsverständnisses. Diese unerleuchtete Aussage kann man sicherlich nicht auf Goertz und Striet ohne Differenzierung übertragen. Aber kommt dieser „göttliche Fuß in der Tür (der Natur und des Weltlaufs)“ bei ihnen als Theologen überhaupt noch vor?
Naturwissenschaften „erklären“ – Geisteswissenschaften „verstehen“
Wenn es um die in Frage stehende geschlechtliche menschliche Paarbindung und ihre Gestaltung geht, muss ein sehr komplexer Sachverhalt bedacht werden. Alle Teilgebiete der Humanwissenschaften, Humanbiologie, Neurologie, Psychologie, Soziologie, vergleichende Kulturanthropologie müssen hinzu gezogen werden. Denn die trieb- und instinktgeleitete „Natur“ eines Tieres ist nicht analog auf den Menschen zu übertragen. Der Mensch ist zwar nicht gänzlich trieb- und instinktfrei, dafür sollte unsere „Natur“ hochgradig vernunftgeleitet sein.
Das heißt, die Humanwissenschaften liefern Erkenntnisse, die geisteswissenschaftlich, philosophisch und theologisch in einem Modus des Verstehens in Handlungen umgesetzt werden. So „zwingen“ humanwissenschaftliche Erkenntnisse und „Erklärungen“, dass es vielfältige geschlechtliche Paarverhältnisse als Tatsachen gibt noch nicht dazu, manche als „naturgegebene Varianten“ (Goertz) auch zu „verstehen“ und damit auch schon zur moralischen Rechtfertigung von Handlungen. Die Handlungsnorm wird bestenfalls von humanwissenschaftlichen Erkenntnissen inspiriert, dann aber durch praktische Vernunft gesetzt.
Vom „Herren und Meister der Natur“ zum „Versteher“ derselben in uns und außer uns
Diese normsetzende Vernunft wird allerdings in christlich-katholischem Verständnis auch noch von anderer Seite inspiriert. Offenbarung in katholischem Sinn ist nämlich keine inhaltslose nominalistische Kommunikation Gottes mit dem „Hörer des Wortes“, wie manche Theologien meinen. Wir sind keine neuzeitlichen Maitres et posseseurs de la nature (etwa: Herren und Meister der Natur), weder der Natur außer uns und um uns herum, (das ist beinahe jedem klar) aber auch nicht derjenigen in uns. Gegen diese wendet sich immer wieder u. a. Magnus Striet, wenn er die Theologie des Leibes von Johannes Paul II. ablehnt, wie jüngst noch in einem Radiointerview des SWR Studio Freiburg. Die Theologie des Leibes fixiere laut Striet den Menschen auf Heteronormativität. Diese Natur des Liebens ist für Christen jedoch wesentlich komplexer. Menschliches Lieben so begriffen orientiert sich an
- dem ungeschriebenen Wort (nämlich Schöpfung)
- dem geschriebenen Wort (der Schrift) und
- dem Fleisch gewordenen Wort (Christus)
Diese „Worte“ sollten auch inhaltlich vom „Hörer des Wortes“ gehört werden. Um von dem „Wortgeklingel“ um uns herum nicht taub zu werden, glauben Katholiken eigentlich noch an ein Lehramt (bei aller möglichen Kritik). Davon wollen uns beide oben genannten Theologen mit anderen zusammen befreien und rufen schon seit Jahren zum „Nicht-Hören“, also zum Ungehorsam auf. Oder man „hört“ was anderes, wenn es nicht passt, so wurde aus einer Ermahnung aus Rom zu Beginn des Synodalen Weges, eine Ermunterung „gehört“. Wie die Aufklärung, das siècle de la lumière, (Jahrhundert des Lichts) das Mittelalter verfinstert hat, so verfinstern sie mit ihrer angeblich modernen, ebenfalls aufgeklärten Vernunft das Lehramt, mit allen die ihm beipflichten.
Gewollt, nicht wie es uns gibt – aber geliebt, wie wir sind
Bedacht werden muss allerdings auch bei dem „ungeschriebenen Wort“, also der Schöpfung, dass wir ihr nur mit den Brüchen in ihr begegnen. Die sollten nicht schön geredet (etwa es ist gut so, wie ich bin), sondern angeschaut werden. Nicht umsonst geht der Verkündigung des Evangeliums der Umkehrruf voraus. Wir dürfen aber sicher sein: Keiner von uns ist so, wie Gott uns gewollt hat, wirklich keiner, aber jeder und jede wird von ihm mit Sicherheit so geliebt, wie er und sie ist, oder wie auch immer man sich empfindet.
Das Erbsündedogma, so rätselhaft, schwerverständlich oder unzeitgemäß es auch sein mag, ist ursprünglich als Erzählung vor weit mehr als 2000 Jahren von jemandem oder mehreren verfasst worden. Wegen ihrer Genialität wäre die Erzählung posthum eines antiken Literaturnobelpreises würdig, sagte einmal der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der zuletzt in Oxford lehrte. Denn die Welt, so wie sie ist, uns eingeschlossen, wird darin nicht schön geredet und dadurch genial jedes naive positive Denken kritisch hinterfragt.
Fazit: In der Natur des Menschen und der Welt gibt es neben aller Größe und Schönheit auch Brüche: Beides muss in den Humanwissenschaften angeschaut werden. In deren Kompetenz kann das Angeschaute weder schön noch schlecht geredet werden.
Geisteswissenschaften sollten fähig sein, die Ergebnisse in ein Bild vom Menschen zu integrieren, aber auch kritisch hinterfragen. Neben Philosophie ist auch Theologie eine Geisteswissenschaft. Aber den „Glauben“ sollte man von den Humanwissenschaften wieder lösen und ihn dort wieder verankern wo er hin gehört: In die Theologie. „Fremdgehen“ sollte es gerade in der Theologie nicht geben, auch wenn „Fremdgehen“ Tatsachen sind und eine „naturgegebene Variante“ menschlichen Sexualverhaltens ist, wie uns eine Humanwissenschaft (die vergleichende Verhaltensforschung) lehrt.
Von DR. Helmut Müller
[1] Interview im Deutschlandfunk zur Coronakrise mit Christiane Florin: Besonnen durch die Glaubenskrise am 19.0 3. 20,
[2] Hempel-Oppenheim Schema: Ein Gesetz – ein Erfahrungswert wird mit einer konkreten Erfahrung verbunden – daraus wir ein Schlusssatz gezogen, bzw. ein Risiko angegeben: Beispiel: Ausgangspunkt: Gesetz – Rauchen verengt Herzkranzgefäße, eine Randbedingung: eine Person X raucht, Folge (Risiko) Person X erleidet einen Herzinfarkt.