Ansprachen auf Weihnachtsfeiern scheinen nur noch möglich unter Vermeidung des eigentlichen Festgeheimnisses. Helmut Müller versucht sich an einer kleinen Weihnachtsgeschichte für Nichtgläubige und Skeptiker. Er steht immer wieder staunend in der Nähe seines Wohnorts an einem Römerkastell bei Hillscheid im Westerwald und schaut nach Südosten – in der Weihnachtszeit in Gedanken bis nach Bethlehem – und meditiert darüber, wie das, was dort geschah, bis in den Westerwald gekommen ist und darüber hinaus.

Zu einer Zeit als alles Ägyptische der letzte Schrei war

Imperium Romanum, 753 ab urbe condita, ein Feld am Rande der judäischen Wüste.

Unglaublich, was von dort erzählt wird. Das ist beinahe die längste Distanz im Imperium Romanum, wenn ich an einem späteren Überbleibsel aus der damaligen Zeit, an Mauerresten bei Hillscheid im Westerwald stehe und nach Südosten schaue. Wie viele Kulte, wie viele Götter und Göttinnen können einem in dieser Distanz begegnen, wenn man sich über eine der Allwetterstraßen –  es gab davon ein Netz von 80.000 km im gesamten Imperium – in diese Richtung bewegt. Zum Beispiel:

Am Ende der Welt brodelt die Gerüchteküche

Es gab Kulte für Männer und es gab Kulte für Frauen. Nichts mehr ist davon übrig!
Und weshalb macht gerade diese seltsame Geschichte am Rande der judäischen Wüste, die auf freiem Feld beginnt, eine solche Karriere, dass die Religion, die dort ihre Ursprünge hat, nach knapp 400 Jahren Staatsreligion des Imperiums wird? Wenn es bloß ein Gründungsmythos gewesen wäre!? Jedenfalls hört man 30 Jahre lang nichts mehr von diesem Kind, das da auf freiem Feld das Licht der Welt erblickt haben soll. Und dann drei Jahre lang – manche meinen nur ein Jahr lang – brodelt die Gerüchteküche weiter in dem Stil, in dem es angefangen hat: Das jetzt erwachsen gewordene Kind soll in dieser kurzen Zeit übers Wasser gelaufen sein, Scharen von Menschen in einer unwirtlichen Gegend mit ein paar Broten und Fischen versorgt haben und es soll mehr übrig geblieben sein als vorher da war. Kranke sollen mit ihrem Bett nach Hause gegangen sein, Lahme ihre Krücken weggeworfen haben und Blinde wie verrückt herumgesprungen sein. Und noch eine ganze Reihe anderer peinlicher Dinge für einen vernünftigen Zeitgenossen – die gab es damals auch – wurden erzählt. Ein Frauenschwarm ist er wohl gewesen, nach allem, was berichtet wird. Typisch. Von einem kommenden Reich soll er erzählt haben. Das hat wohl auch ein paar Männer in seinen Bann gezogen. Und etwas ganz und gar Verwunderliches: Ein paar Messerstecher und wenigstens einen Kollaborateur mit der Besatzungsmacht zählte er zu seinem engeren Kreis. Er suchte keine Konflikte, war aber auch nicht konfliktscheu. In Fallen, die man ihm stellte, tappte er nicht hinein. Irritieren ließ er sich nicht. Und faule Kompromisse waren erst recht nicht seins. Er lebte für seine Botschaft und war der festen Überzeugung, dass mit seinem Tod das Ganze nicht zu Ende sei. Es kam dann, wie es kommen musste: Jüdische Tempelaristokratie und römische Militärmacht machten ihm in einem undurchsichtigen Komplott den Garaus: Das Schlimmstmögliche geschah: Augenscheinlich scheiterte hier ein religiöses Genie am Galgen der Antike, noch bevor es irgendwelche Strukturen und Schriften hinterlassen konnte; es sei denn, am Abend davor gab er Anweisungen zu einem Minimalkult:

Tut dies zu meinem Gedächtnis“.

Das wars dann. 

Die Gerüchteküche brodelt weiter, jetzt im ganzen Imperium Romanum

Am Tag danach wurde er als offensichtlicher Blender entlarvt und unter Schmährufen durch Jerusalem getrieben. Außerhalb der Stadt starb er dann am frühen Nachmittag einen schmählichen Verbrechertod. Ein erbärmlicheres Scheitern mit seiner Ankündigung eines neuen Reiches ist wirklich nicht möglich. Nur ein paar Frauen weinten und trauerten um ihn. Aber das war in der Antike alles andere als ein Gütesiegel. Die Männer um ihn herum suchten das Weite, einer nahm sich sogar aus Verzweiflung das Leben. Nun könnte man wiederum meinen: Das war`s.

Aber die Gerüchteküche hörte nicht auf zu brodeln. Es wurde behauptet, dass er gesehen wurde. Und das Verwunderliche: Die Hasenfüße, die stiften gegangen sind, ließen sich von Frauen, die ihm die Treue gehalten haben, überzeugen, dass er lebt. Und nicht nur das: Aus diesen Hasenfüßen sind todesmutige Bekenner geworden. Sollte man bis dahin alles für eine der Geschichten gehalten haben, wie sie später ein paar hundert Kilometer weiter östlich in den Geschichten aus tausendundeiner Nacht erzählt wurden, dann muss man sagen, für keine dieser Geschichten ist jemand den Märtyrertod gestorben, weil er sie für wahr gehalten hat. 

Die Zeit der harten Fakten beginnt

Und dann geschieht das Unglaubliche. Trotz der reichen Auswahl an Kulten, die einfach alle Wünsche bedienten von erotischen Phantasien angefangen, über Festgelage, Männerfreundschaften, frauentypischen Themen, politischen Karriereleitern und geheimnisvollen Mysterienfeiern, setzt sich ausgerechnet die Geschichte, die mit der Geburt eines Kindes begann, erstaunlicherweise durch.
Es wurde auch weiter geschmäht, was Graffiti im alten Rom belegen, und auch gemordet. Intellektuelle haben versucht, die Phantastereien zu entlarven. Auch staatliche Macht blieb nicht untätig. Aber das war alles vergebliche Mühe. Um den Minimalkult und die Geschichten, die von ihm erzählt wurden, bildeten sich im ganzen Imperium Romanum Gemeinden. Auch eine vierteilige Sendereihe der evangelisch-theologischen Fakultäten in Bern und Bonn, die akribisch aufzeigt, wie im Imperium Romanum das Christentum das geworden ist, was es heute ist, ist der Auffassung, dass es ein Geheimnis bleibt. Diese Sendereihe ist nämlich – wie diese kleine Weihnachtsgeschichte – offensichtlich für Skeptiker und Nichtgläubige konzipiert worden.

Gott blickt mit den Augen eines Kindes in SEINE Welt

Ich will es aber dabei nicht belassen: Vernünftig wird hier über Glauben reflektiert. Wenn man mit Vernunft beginnt, endet das Ganze, wenn es gut geht, geheimnisvoll. Wenn es schlecht geht, wird der Glaube paralysiert. Mein Tipp: Man sollte mit Glauben beginnen. Und zwar so:

Auf dem leeren Feld am Rande der judäischen Wüste hat sich Gott angeschickt, das Licht der Welt zu erblicken, nicht aus seinem Himmel, sondern mit den Augen eines Kindes und hat sich dann das ganze Programm zugemutet, das jeder von sich selbst kennt. Mit dem Glauben, dass es so gewesen ist, sollte man anfangen und erst dann die Vernunft hinterher schicken. (Anmerkung für Skeptiker: Man kann den Glauben ja immer noch stoppen). Erst dann wird klar: Weil Gott selbst der Initiator der Geschichte ist, wird erkennbar, weshalb das Christentum sich im Imperium Romanum von der einen Ecke der judäischen Wüste bis zur anderen Ecke bei Hillscheid im Westerwald durchgesetzt hat.

Und da stehe ich immer wieder, blicke staunend nach Südosten, und sinniere darüber, wie das alles geworden ist und hoffentlich auch so bleibt und nicht durch einen vorzeitigen Vernunfteinsatz paralysiert wird. Denn wir leben in einer Zeit, in der nicht jeder mehr die Freude und das Lob versteht, das einen erfassen kann, wenn man seiner Stimme oder seinem Herzen Ausdruck verleihen will, über die Freude und Dankbarkeit, wie schön es ist, dass Gott damals Mensch geworden ist.


Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor a. D. am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Helmut Müller ist Mitautor des Buches Urworte des Evangeliums“. Zuletzt ist von ihm erschienen: Menschsein zwischen Himmel und Erde – Dominus-Verlag mit einer eindrücklichen Illustration von Peter Esser, in der der Wanderer nicht mehr seine Hand in das leere Räderwerk hinter dem Horizont streckt, sondern in das Deckengewölbe der Wieskirche schaut mit dem auf sein Herz zeigenden Christus. Die Spannung des Hineingenommenseins in die Liebe und das Hinaushängen Heideggers ins Nichts bestimmt die Thematik des Buches.

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