Trägt der Glaube in den Irrungen und Wirrungen der Gegenwart oder ist Glaube eine überholte Mär von gestern? Martin Grünewald, der aus eigenen lebendigen Christuserfahrungen schöpfen kann, ermutigt uns, im Evangelium und in unserem Leben nach dem lebendigen Christus zu suchen und damit Brücken und Wege zu einem tragfähigen Christentum zu finden.
Faszination Jesus Christus
Ein tragfähiges Christentum beginnt mit der Faszination von Jesus Christus. Das erleben bereits seine ersten Jünger. Sie begegnen ihm und werden von ihm angezogen. Viele können sich später noch genau an die Situation oder Uhrzeit erinnern. Das erleben ebenfalls die an Leib und Seele Verwundeten, die ihm begegnen und Heil bei ihm suchen. Jesus geht auf jeden von ihnen ein, kein Umstand ist zu lästig oder abstoßend, und es gibt kein Problem und keine Herausforderung, die Jesus nicht meistert.
Und er ist nicht wählerisch, sondern nimmt jeden an – mag er oder sie noch so verhasst bei den Zeitgenossen sein, ganz gleich, ob Zollbetrüger oder stadtbekannte Dirne. Jeder Mensch findet bei ihm Annahme, Heil und Geborgenheit.
Gelten diese Erfahrungen nur für die Zeit der unmittelbaren Verkündigung? Nur damals, als Jesus als Mensch unter uns lebte? Oder machen Menschen zu allen Zeiten diese Erfahrung, dass Jesus für sie zum Retter und Erlöser wird? Eine entscheidende Frage, deren Antwort auf der Hand liegt. Natürlich ist es so! Jesus ist auch heute erfahrbar als der Heiland, der aus aussichtsloser Lage errettet.
Glaube durch Erleben: Gott ist nah!
Aber darin liegt der entscheidende Punkt: Viele Menschen schauen nur von weitem zu, ohne Jesus an sich und ihre eigenen Lebensfragen heranzulassen. Sie bekommen aus der Ferne nicht mit, was da interaktiv und kommunikativ passiert. Und deshalb fehlt ihnen ein tragfähiges Momentum.
Jesus zieht umher und reagiert auf Situationen, in die er hineingerät. Er ist eher ein Mensch der Tat, weniger der Worte. Meist spricht er öffentlich in anschaulichen Gleichnissen und erklärt Näheres im kleinen Kreis.
Am Anfang des Markus-Evangeliums (1, 15) heißt es: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“. Darin bestand die Mitte seiner Verkündigung: Gott ist nahe! Aber wer sich das bewusst macht, bleibt nicht stehen, sondern überprüft sich selbst und die eigenen Denkmuster. Stimmen sie mit dem Willen Gottes überein? Wenn nicht, gilt die Aufforderung: Habe den Mut, Dich zu ändern!
Die Seligpreisungen enthalten eine Umkehr der Werte. Dem in der Antike verbreiteten Denken wird jedes Mal ein Gegenpol vorgehalten. Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
Mit Jesus auf der Gewinnerseite
Diese Werteumkehr macht nur Sinn, wenn Gott wirklich dieses Wesen und Handlungsmuster hat, das Jesus voraussetzt und verkündet. ER ist bei uns, immer und überall. Er schließt Freundschaft mit uns und steht uns bei. Wer so handelt, wie Jesus es sagt, ist kein Verlierer, sondern gewinnt das, worauf es wirklich ankommt!
Tragfähig wird der Glaube aber nicht nur durch die Faszination von Jesus, durch das Bewusstsein seiner unbedingten Annahme und durch die eigene Bereitschaft zur Werteumkehr. Erst nachdem sie dem Auferstandenen begegnet sind, werden aus den verzagten Jüngern, die sich aus Angst einschließen oder enttäuscht in ihr altes Leben zurückkehren, entschiedene Nachfolger, die sich z.B. auch unter Todesgefahr dem Hohen Rat widersetzen. Nicht nur das frühe Christentum lernte diese Erfahrung kennen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden! Das erleben heute auch die stillen (An)Beter vor der Monstranz oder dem Tabernakel. Das erfahren heute die Menschen im Lobpreis bei Gemeinschaftstreffen oder der persönlichen Gebetszeit. Und das erleben Rosenkranzbeter, wenn ihre Anliegen und Bitten, die sie im Herzen mit dem Gebet verbunden haben, in Erfüllung gehen. „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja!“ So lautet der österliche Jubelruf bis heute.
Verheißungen aufgrund des Glaubens
Einen Automatismus gibt es zu keiner Zeit: Das Markus-Evangelium beschreibt es am Schluss ungeschminkt und sehr deutlich: „Später erschien Jesus auch den Elf, als sie bei Tisch waren; er tadelte ihren Unglauben und ihre Verstocktheit, weil sie denen nicht glaubten, die ihn nach seiner Auferstehung gesehen hatten. Dann sagte er zu ihnen: Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden. Und durch die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; wenn sie Schlangen anfassen oder tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden; und die Kranken, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden. Nachdem Jesus, der Herr, dies zu ihnen gesagt hatte, wurde er in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes. Sie aber zogen aus und predigten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung durch die Zeichen, die er geschehen ließ.“ (Mk 16,15-20)
Das Leben auf Christus bauen
Das ist die Konsequenz bis heute: Wer die Erfahrung mit dem Auferstandenen gemacht hat, kann nicht schweigen von dem, was er gehört und erlebt hat. Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Glaubenszeugnis bildet ein untrügliches Kennzeichen: Der Glaube ist tragfähig! Bekenntnis setzt allerdings ein Erleben voraus, ein Vertrauen, dass Gottes Wort lebendig und heute gültig ist. Und dass Jesus wirklich der Christus ist, der von Gott gesandte Retter! Dass seine Zusage für mich heute gilt und tragfähig für mein Leben wirksam ist: Ich kann meine ganze Existenz darauf aufbauen!
Spätestens beim Lesen der Apostelgeschichte und -briefe wird das Ringen der frühen Kirche um die gemeinsame Umsetzung dessen deutlich, was Jesus grundgelegt und hinterlassen hat. Er, der Auferstandene, macht es sich nicht gemütlich in entrückten Welten, sondern seine Zusage gilt:
„Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20).
Jesus hat die Kirche den Aposteln und ihren Nachfolgern anvertraut; Petrus übernimmt dabei eine besondere Verantwortung. Die frühe Kirche kennt keine Minute des Ausruhens: Verfolgung, Selbstfindung und Klärungsprozesse für unendlich viele Fragen gehören dazu. Wer die Schriften des Neuen Testamentes mit den Schilderungen der nachösterlichen Zeit aufmerksam liest, spürt darin das ständige Ringen um die Werteumkehr und die Ablösung vom Mainstream-Denken – sowohl für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft der Gläubigen. Bezeichnend dazu die Aufforderung von Paulus:
„Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12, 2).
Christus gestern, heute und in Ewigkeit
Das ist eine Mahnung, die bis heute aktuell bleibt: Worin geben uns die Maßstäbe dieser Welt eine gute Orientierung? Und wann ist es umgekehrt: Worin müssen wir uns als gläubige Christen unterscheiden? Worin dürfen wir uns gerade nicht anpassen, sondern müssen der Welt eine Alternative bieten? Das ist kein immer einfacher Prozess. Allerdings befähigt das Leben in der Gegenwart Jesu und in der Kraft des Heiligen Geistes zu einer wirklichen Unterscheidung. Das lässt sich nicht im Handumdrehen erlernen, sondern bedarf einer beständigen Kommunikation mit dem Herrn unseres Lebens, dem der Gläubige alles unterordnet, getreu der Aufforderung: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst” (Lk 10, 27).
Der christliche Glaube lässt sich tragfähig verwirklichen, wenn Jesu Botschaft nicht als unwesentliche Bagatelle abgetan, sondern vertrauensvoll aufgenommen wird. Sein Wort gilt heute genauso wie in den Anfängen. Er begegnet den Menschen heute wie damals. Das gilt es im Blick zu behalten. Darin besteht der Auftrag an die Kirche.
Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
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