Ein neues Buch sorgt für Diskussionsstoff: Heute hat sich damit die Initiative „Neuer Anfang“ in der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) den Fragen von Journalisten gestellt. Der Titel der Neuerscheinung im Verlag Herder lautet „Urworte des Evangeliums“.

Nur sechs Prozent der Katholiken nehmen sonntags am Gemeindegottesdienst teil, nur knapp ein Drittel der katholischen Kirchensteuerzahler in Deutschland glaubt an Jesus Christus. Ist das normal oder schicksalhaft? Worin liegen die systemischen Ursachen? Gibt es Wege aus dem Niedergang? Dieser Frage geht das neues Buch nach, das auf außergewöhnliche Weise entstanden ist.

Auf Einladung der Herausgeber trafen sich 20 Personen in der Benediktinerinnen-Abtei Mariendonk am Niederrhein. Katharina Hauser (29 Jahre), eine der Autoren, berichtete begeistert: „In Mariendonk haben wir eine Kirche erlebt, wie ich sie liebe: vielfältig, hoffnungsvoll und dynamisch.“ Viele Akteure hätten sich zuvor noch nie gesehen, „und doch waren wir uns alles andere als fremd. Denn alle verbindet eines: die Liebe zu Jesus Christus und der Kirche – und die tiefe Sehnsucht nach Erneuerung“.

Dieses gemeinsame Fundament habe trotz aller Verschiedenheit und anfänglicher Fremde eine erstaunliche Harmonie erzeugt. „Diese Woche war ein Experiment des Zuhörens, des Fragens und des Suchens. Wir teilten uns in Kleingruppen ein, in welchen wir uns intensiv jeweils zu einem der „Urworte des Evangeliums“ ausgetauscht haben. Hier saß dann der Theologieprofessor mit einem Journalisten, einer älteren Nonne und dem jungen Laien zusammen.“ Ihre Bilanz: „Die Woche in Mariendonk war radikal hoffnungsvoll.“

Die Wesensmerkmale der Kirche

Was weckte neben der unerwartet konstruktiven Gemeinschaftserfahrung im Kloster ihre Begeisterung? Katharina Hauser: „Die Urworte des Evangeliums schauen auf die Anfänge und Wesensmerkmale der Kirche. Aber nicht, um vergangenen Zeiten nachzutrauern, sondern als Lernende zu erkennen, was heute wichtig ist bzw. was neu entdeckt werden muss. Es ging nicht um das Beklagen des Untergangs, sondern um das gemeinsame Verkosten dessen, was den Christen von heute trägt.“

Und das sei keine bloße Theorie, versichert Katharina Hauser, die im Bistum Passau tätig ist: „Eine wachsende, blühende, freudige Kirche – danach sehnen wir uns, und sehen sie schon da und dort.“ Und sie bekennt: „Ich liebe die Kirche. Ich liebe sie nicht, weil sie perfekt wäre. Ich liebe sie, weil sie der Ort ist, an dem ich Jesus Christus begegne. Weil ich hier freier und froher und ganz ich selbst werde. Weil ich hier Teil von etwas bin, das größer ist als ich selbst.“

 

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Entfremdung der Kirche

Bernhard Meuser, einer der drei Herausgeber, betonte vor den Journalisten: „Wir leiden unter der fundamentalen Entfremdung der Kirche von ihrem Ursprung – einer Kirche, die sich sowie ihre aktuellen Wünsche und gesellschaftliche Reputation wichtiger nimmt als ihre Botschaft und ihren Herrn. Wir engagieren uns für die anspruchsvollere Erneuerung, die Papst Franziskus in Evangelii Gaudium proklamiert hat. Sie sucht nach der verlorenen Liebe zu Gott und beginnt mit der Bekehrung unseres eigenen Herzens.“ Meuser ist einer der Gründer der Initiative „Neuer Anfang“. Bekannt wurde er als Initiator und Mitautor des Jugendkatechismus „Youcat“, der inzwischen weltweit in 70 Sprachen erschienen ist.

Die Initiative „Neuer Anfang“ entstand – so berichtete er – im Jahr 2021 aus der Verwunderung einiger katholischer Anthropologen, Philosophen und Theologen über die Aufarbeitung von Missbrauch in der Katholischen Kirche in Deutschland. Nach der Veröffentlichung der MHG-Studie im Jahr 2018 sei nicht sachgerecht über die wirklichen Ursachen von Missbrauch debattiert worden, „sondern die Gläubigen wurden mit einem feststehenden Ergebnis konfrontiert“. Die allgemein verbreitete Erzählung bestehe in der Behauptung, der sexuelle Missbrauch in der Katholischen Kirche sei kein Zufall, sondern die systemlogische Folge einer auf allen Ebenen herrschenden strukturellen Gewalt einer zölibatär-klerikalen Männerherrschaft. Einige könnten die real existierende Kirche nicht fies genug zeichnen, selbst innerhalb der eigenen Reihen.

Viele Gläubige übernahmen weite Teile der klassischen Religionskritik, bis daraus eine Art von „Religionsterror-These“ entstand, so Meuser, der in seiner Jugend selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs in der Kirche geworden war. Aber: Die Gleichsetzung von „Katholisch“ und „Missbrauch“ habe sich spätestens nach der evangelischen Missbrauchs-Studie „ForuM“ als krachender Irrtum herausgestellt. Denn: „Rein quantitativ gibt es keinen Unterschied zwischen Missbrauch in der katholischen wie in der evangelischen Kirche.“ Damit sei die Religionsterror-These geplatzt und die falsch ansetzende Missbrauchsaufarbeitung gescheitert.

Kritik vom Papst ernst nehmen

Vielmehr forderte Meuser dazu auf, die Kritik, mit der Papst Franziskus von Anfang an den deutschen Vorstellungen von Reform begegnete, ernst zu nehmen. „Sie setzte in einer anderen Tiefe an, nämlich bei der erschütternden Erosion von Glauben als der wahren Ursache ihres spirituellen und ethischen Niedergangs.“ In einem 19-seitigen, handgeschriebenen Brief an die deutschen Katholiken habe der Papst eine „Einladung, sich dem zu stellen, was in uns und in unseren Gemeinden abgestorben ist, was der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf“, formuliert. Das verlange einen Mut, der „viel mehr“ sei, „als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel.“ Die ernsten Worte von Papst Franziskus fanden bei den unmittelbaren Adressaten leider keine Beachtung, resümierte Meuser. Der „Neue Anfang“ habe sich diese Linie von Anfang an zu eigen gemacht.

Seine Kritik richtet sich an eine verbürgerlichte Kirche: „Wir ärgern uns über Kirchenvertreter, die im Politischen dilettieren und im Spirituellen versagen. Wir schämen uns der kirchlichen Wortführer, die im gleichen Moment ihre Apparate retten wollen, in dem sie unfähig geworden sind, ihren Sinn zu benennen, ihren Zweck zu beschreiben und ihre Inhalte zu lehren.“ Er warnte vor einer Bürokratie, die weder an sich, noch wirklich an Gott glaubt, aber unter allen Umständen den Menschen gefallen und als unersetzlich angeschaut werden möchte.“

Mit Papst Franziskus fragte er: „Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen?“ Vor den Journalisten versicherte er: „Jeder, der an diesem Buch mitgeschrieben hat, hat mehr erlebt als den grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags.“

Analyse der Sozialgestalt

Der Mitherausgeber und Theologe Martin Brüske analysierte anlässlich der Buchvorstellung die Sozialgestalt der Großkirchen des Westens in der Neuzeit. Sie hätte sich zu einer Religionsverwaltung entwickelt, die mit Disziplinierung einhergehe. Sie verlasse sich auf Sozialisation, anstatt den Glauben plausibel zu machen. Wie alle Bürokratien leide sie an einer Tendenz zur Selbstbezogenheit. Vor genau dieser Selbstreferenzialität habe Papst Franziskus bereits im Vorfeld seiner Papstwahl gewarnt. Bereits Jesus habe dazu gesagt: „Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren. Wer es aber um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ Dieser sozialwissenschaftlich präzise rekonstruierbarer Satz gelte sowohl für Individuen als auch für ein soziales System wie die Kirche.
Brüske: „Die Missbrauchskrise offenbarte Selbstreferenzialität in ihrer brutalsten und perversesten Gestalt – Täter, deren nicht integrierte Sexualität nur noch die eigene Bedürftigkeit kennt, und disziplinierte Funktionäre, die eine Institution repräsentieren, die nur noch am eigenen Selbsterhalt interessiert ist.“

Aber nicht nur das: „Der Synodale Weg war der verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, durch eine gewaltige Anpassungsleistung, die faktisch einem Verrat am historischen Christentum gleichkommt, Religionsverwaltungskompetenz zu stabilisieren und noch einmal gesellschaftlich zu legitimieren. Die Selbstbezüglichkeit dieses Systems wurde dabei nicht aufgebrochen, sondern noch gesteigert“, so Brüske.

Für ihn gebe es nur zwei Fragen von Bedeutung: „1. Wie gelangen Menschen heute in höchstpersönlicher Weise in die Beziehung zu Jesus Christus und können dann darin wachsen? 2. Wie werden sie darin zu geistlich selbständigen Subjekten ihres Glaubens?“ Diese Fragen habe der deutsche Synodale Weg nicht nur nicht beantwortet, sondern nicht einmal gestellt.

Eine Kirche der Jüngerschaft

Wenn Papst Franziskus als Alternative von einer evangelisierenden Kirche und von einer Kirche der missionarischen Jüngerschaft spreche, dann meine er damit nicht eine bloße zusätzliche Aufgabe pastoraler Art, sondern eine grundsätzlich andere Sozialgestalt von Kirche. Eine solche Kirche sei nicht mehr geprägt von Betreuern und Betreuten, von Verwaltern und Verwalteten, sondern gemeinsamer Jüngerschaft. Ihr Dienstcharakter sei strikt ausgerichtet auf geistliche Selbständigkeit und Subjektwerdung im Glauben. Eine solche Kirche sei „dezentriert“ (Papst Franziskus). Sie lebe aus der Quelle ihres transzendenten Grundes und geh in die Sendung bis an die vielfältigen Ränder. So und nur so werde ihre Selbstbezogenheit grundsätzlich aufgebrochen, indem sie zugleich kontemplativ und missionarisch sei.

Brüske: „Diese evangelisierende Kirche missionarischer Jüngerschaft ist zugleich zutiefst mystagogisch.“ Sie weise ein in eine gemeinsame Lebensform, in der das Leben vor, in und mit Gott gelingen könne und unterstütze bei der Bewältigung des kulturellen Drucks, unter dem das Christentum heute stehe. Im gelingenden Leben vor Gott leuchte so die Attraktivität des Christentums neu auf. Brüskes Fazit: „Eine dezentrierte Kirche lebt, wächst und hat ihre beste Zeit noch vor sich.“

Der Beitrag erschien zuerst auf CNA deutsch.


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de

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