Islamistischer Terroranschlag in München. Am Tag danach stirbt eine 37- jährige Mutter und ihr zweijähriges Kind. Das veranlasst Bernhard Meuser einmal gründlich über “gute” und “böse” Religion nachzudenken. Viele tun nämlich so, als müsste man nicht nur “religiös” motivierten Terror, sondern gleich alle Religion ausrotten, – sozusagen als gesellschaftsrettende Maßnahme. Er kommt zum überraschenden Schluss, dass wir nicht weniger, sondern mehr Religion brauchen.
Sonntagmorgen. Frühstückskaffee. Wir haben das Radio an, freuen uns – wie an jedem Sonntagmorgen – auf die Bachkantate. Da bricht mit der neutralen Stimme des Nachrichtensprechers das Entsetzen in unsere Frühstückswelt ein. Uns bleibt der Bissen im Hals stecken. Das Schlimme ist noch einmal schlimmer geworden. Jetzt ist Beten dran. Wir empfehlen die Mutter und das Kind (und die Menschen, die sie hier auf der Erde zurücklassen) in die Hände Gottes. Und wir nehmen auch den 24-jährigen Asylbewerber Farhad N. mit hinein, dem in der U-Haft nun wohl mitgeteilt wird, dass er zu allem Schrecklichen, das er angerichtet hat, auch noch ein Mörder ist.
Missbrauch von Religion
Nach dem ersten Schock kommt mir hoch, dass im Bayerischen Rundfunk einmal mehr davon gesprochen wurde, es handle sich um eine „religiös“ motivierte Tat. Nein, das ist falsch. Das Verbrechen geschah unter groteskem Missbrauch von Religion. Wäre der Täter „religiös“ gewesen – hätte er sich an den absolut Guten gebunden, von dem her alles Gute kommt und der das Gute für alle will – so hätte er nicht Unschuldige getötet.
Für einen Mord „Religion“ in Anspruch zu nehmen, ist etwa so sinnlos, wie eine Vergewaltigung mit Liebe zu begründen.
Mit Schrecken erkennen wir: Viele leben in etwas, das sie für Religion halten, das aber in Wahrheit eine Ausgeburt der Hölle ist. Franz Kafka hat die Tragödie hinter diesem jungen Afghanen erkannt:
„Der Böse weiß nicht, dass er böse ist, sondern glaubt, das Gute zu sein.“
Farhad N. – und die Anderen von seiner verführten Sorte – hat es nun in eine Welt verschlagen, die es nicht mit einer falschen Religion hat, sondern mit gar keiner.
Religion als Kern aller Übel?
Jetzt kommen die Stimmen wieder hoch, die „Religion“ als den Kern allen Übels in der Welt ausmachen. Sie glauben, Frieden, Glück, Sicherheit würde erst dann am Horizont erscheinen, wenn alle Religion unter dem Eishauch der Säkularisierung erfroren ist und wir endgültig in einer religionslosen Welt angekommen sind.
Ob nun der Terminus Religion von ´religare´ (= zurück-, auf-, anbinden, befestigen’) herkommt, wie Augustinus meint, der das Heilbringende in der Welt in der „Bindung des Menschen an Gott“ erkannte, oder ob Cicero recht hat, der Religion von ´relegere´ (= wieder lesen, das Prinzipielle von neuem in Gedanken durchgehen) her deutete, – eines ist in jedem Fall klar: Religion bezieht sich auf die Differenz von heiliger Ordnung und heilloser Unordnung. Nach der Sentenz der Alten ist der Mensch in Ordnung, wenn er Religion hat, – wenn er besonnen ist und ein gerechtes Leben führt, wenn er das Terrain der Götter achtet und ihm die Gebote heilig sind, wenn man ihn seiner Sorgfalt, Verlässlichkeit und Vertragstreue halber rühmt, wenn er nach seinem Gewissen handelt und Schönheit ausstrahlt, weil er in Demut um sein Elend und seine Sterblichkeit weiß und sein Herz zum Ewigen erhebt.
Irrational Bindungslose und irrational Gebundene
Uns ist die Einsicht in das, was gesellschaftliches und individuelles Chaos auslöst, nicht verschlossen: Mit dem Abschied von Gott haben wir den klaren, universell geltenden Begriff vom Guten verloren, damit zugleich die Koordinaten und den Zusammenhang der Werte. Die Alten würden sagen: Wir haben uns pragmatisch darin eingerichtet, religionslos zu leben. Die Signatur unserer westlichen Gesellschaften ist von Menschen geprägt, die sich im Kern als bindungslos definieren, es sei denn in Form einer strengen Selbstbindung an das eigene Ego. Durch das Münchner “Minicooper”-Attentat wird die Wattewelt der Guten erschüttert, die sich an einer einzigen letzten Tugend – der Toleranz für alles und sein Gegenteil – festklammern und irgendwie gegen Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung sind. Ihr narzisstisches Agreement mit dem Nichts wird plötzlich mit dem Absoluten in Gestalt fataler, zu allem entschlossener „Religion“ konfrontiert. Irrational Bindungslose prallen auf irrational Gebundene. Beide – die mit dem falschen Gott und die ohne Gott – leiden an der gleichen Krankheit; sie wissen es nur noch nicht.
Die Frage ist: Kann sich eine Gesellschaft auf Dauer selbst erhalten, deren Zusammenhalt im trivialen Kitt derer besteht, die nicht gestört werden wollen in ihren Selbstprojekten? Kann die unverbundene Koexistenz von leidenschaftlich an sich selbst Interessierten neue, von außen kommende Menschen integrieren? Was ist, wenn ein dämonisch falsches, aber starkes Ethos eine Toleranzgesellschaft herausfordert, die sich den Luxus leistet, ethisch illiterat, respekt- und gewissenlos zu leben?
Respekt bezieht sich auf gutes Leben mit dem Anderen. Gewissen ist Mit-Wissen um das objektiv Gebotene, oder um es mit Papst Benedikt zu sagen:
„Die Stimme der großen Werte ist in unser Sein eingeschrieben.“
Warum Religion noch Vernunft, Natur und Naturrecht braucht
Religion ist die gute Anlage in Menschen, sich in vernünftiger Freiheit an das absolut Gute – sprich: an Gott – binden zu können. Bewegt von Wahrheit und glaubwürdigem Zeugnis, ist es sinnvoll und heilbringend, sich an den Gott zu binden, der sich in Jesus Christus offenbart hat; er hat seine Liebe bis ans Kreuz bewiesen.
Philosophisch gesprochen sind Gott und das absolut Gute identisch – oder es gibt weder das Gute, noch Gott. Was das Gute ist, weiß jedes Kind, aber nicht mehr jeder Erwachsene. Die sind oft verbogen, fehlgesteuert, abhängig, indoktriniert. Menschen zur Bindung an den christlichen Gott einzuladen, ist die Einladung zur Konversion in das Gute schlechthin, die unkonditionierte Wahrheit und das wahrhaft Schöne. Sonst wäre es die Einladung, von einem falschen Gott zum anderen zu konvertieren. Deshalb haben Christen die Freiheit, einen Gott abzulehnen, der für das Unvernünftige steht, und würde er auch nur einen Millimeter von der eigenen Norm abweichen. Das tut der wahre Gott nicht.
Die schöpferische Vernunft Gottes hat „sich“ geistvoll in alles eingezeichnet, was geschaffen wurde; sie hat genügend deutliche Striche hinterlassen, – so, dass wir hinter allen Verfremdungen noch die wahren Konturen der Wirklichkeit und den Willen Gottes erkennen können. Erst auf dem Hintergrund von Vernunft, Natur und Naturrecht ist wahre Religion möglich. Der christliche Gott würde sich selbst durchstreichen, würde er das Unvernünftige, das Unnatürliche oder das Widerrechtliche verlangen, oder würde er sich gar als numinoser Tyrann und gnadenloser Sklavenhalter erweisen. Von dem Gott, den Farhad N. in Dari, einer afghanischen Amtssprache angerufen hat („Oh Allah, beschütze mich immer“), weiß man das nicht.
Religion und Integration im Ungefähren der Moderne
Wer im warmen Auto an überquellenden Asylantenunterkünften vorbeifährt, wem dann Magdeburg, Aschaffenburg und München in den Sinn kommt, wer auf allen Kanälen von Nachrichten über marodierende Horden junger Männer überfallen wird, die unsere Großstädte unsicher machen, wer gar noch Reportagen über drogen- und menschenhandelnden Klans gesehen hat, vor denen sich die Polizei fürchtet, – wer sich all diese so unterschiedlichen, ins Land gespülten, in manchen Fällen leider unliebsamen Gäste vor Augen führt, wird ein Komplettversagen unseres politischen Systems nicht leugnen können. Und er wird sich nicht wundern, wenn unsere ohnehin religionsvergessene Gegenwart verstärkte Abwehrreflexe gegen Religion entwickelt.
Da werden alle in einen islamistischen Topf geworfen werden – diejenige, die unseren stressfesten Anstand und unserer lebensrettenden Hilfe bedürfen, diejenigen, die unsere Sozialkassen plündern und diejenigen, die hier mit einer religionspolitischen Agenda unterwegs sind. Man wird sich nicht darüber wundern, dass plötzlich auch Christen der „Religion“ angeklagt und als gefährliche Subjekte vor Gericht geschleppt werden. Man wird auch nicht darüber staunen, dass an den extremen Rändern unserer Gesellschaft wieder der Ruf nach Durchgreifen in Sachen Religion, gar nach jenen rabiaten ethnischen Selektionsmethoden laut wird, die aus der deutschen Geschichte hinlänglich bekannt sind. Plötzlich erscheint das „Écrasez l’infâme“ in neuem Licht. Die Eliminierung von Religion als gesellschaftsrettende Maßnahme?
Fakt ist: Weil wir Deutschen selbst nicht genug Kinder bekommen, um unser Wirtschaftssystem auch nur einigermaßen stabil zu erhalten, brauchen wir dringend Zuwanderung von Fachkräften und jungen Familien. Ohne kulturelle Beheimatung der Fremden in etwas, das identifizierbar Heimat für alle ist, zerfällt jede Gesellschaft. Heimisch wird man nicht im Ungefähren. Nahezu geräuschlos finden sich Osteuropäer, Südeuropäer, Koreaner, Vietnamesen, Chinesen bei uns ein, – dankbar vor allem für Arbeit, Bildungschancen und materielle Annehmlichkeiten. Oft liegt hier auch eine echte religiöse Anschlussfähigkeit vor. Nicht wenige katholischen Gemeinden leben heute bereits von der gläubigen Präsenz von kroatischen oder koreanischen Familien.
Beheimatung funktioniert, funktioniert mit Friktionen, scheitert oder produziert Katastrophen, weil Muslime nicht gleich Muslimen sind. Es gibt sie in großer Zahl, – die friedfertigen, fleißigen Muslime, deren Frömmigkeit und Rechtschaffenheit manchem Katholiken die Schamröte ins Gesicht treiben sollte. Es gibt Muslime, die sich zum Preis ihres traditionellen Glaubens an Gott dem zivilen easy living unserer Gesellschaft anpassen. Es gibt sie, die zündelnden, Hass predigenden Koranschulen; es gibt aber auch solche, in denen klassisch (und mit Respekt vor dem Grundgesetz des Gastlandes) gepredigt wird. Es gibt „die Liebenden Gottes“, nämlich im achtunggebietenden Sufismus. Es gibt aber auch Moscheen, von denen man aus guten Gründen annimmt, dass sie – von außen gesteuert – klammheimlich unser Rechtssystem und unsere Begriffe von Freiheit und Menschenwürde unterlaufen. Nicht einmal die „Scharia“ – Richterrecht, das sich in den verschiedenen Schulen ständig fortentwickelt – ist simpel auf den Begriff zu bringen. Das Dilemma kann man häufig – auch nicht immer – an Herkunftsländern festmachen, in denen der Islam kulturelle und soziale Verbindungen eingegangen ist, die wiederum in unterschiedlichem Ausmaß offen sind für eine dschihadistische Interpretation des Islam, – will sagen: für die Gleichsetzung von Staat und Religion, nachfolgend für Religionszwang, Händeabhacken, Ehrenmorde und Eroberungskriege. Angst machen kann, was gerade an Radikalisierung in Social Media vor sich geht: Hübsche Kopftuch-Influencerinnen um die Zwanzig auf Flirtfishing für den Heiligen Krieg. Das ist in Umrissen der komplexe Kontext, in dem sich der Kontrollverlust durch massenhafte illegale Einwanderung ereignet.
Mehr Religion, bitte!
Zuwanderung ist nicht kostenlos. Sie bedeutet einerseits die klare Unterscheidung und den entschlossenen Schnitt zu denen, die nicht integrierbar sind, weil sie nicht integriert werden wollen. Sie bedeutet dann: echte, tiefgreifende Prozesse der Integration mit denen, mit denen gemeinsam „das Gute für alle“ angestrebt werden kann. Ein Gottesglaube (welcher Religion auch immer), der diese Offenheit besitzt, ist ein Gewinn für alle. Der „Frume“ ist im Althochdeutschen der Nüchterne, Tüchtige, Frische, Tapfere, Rechtschaffene, – eben, weil er der Gott ergebene, der vom Herzen her Gebundene ist, von dem nur das Gute erwartet werden kann; er ist ja fromm – und kein unberechenbarer Faktor. Haltlose Menschen sind eine Belastung für jede Gesellschaft.
Zu widersprechen ist der Ansicht, unsere Gesellschaft sei umso anschlussfähiger, je weniger sie von „Religion“ bestimmt ist und als gäbe es den großen kulturellen Merger auf Basis einer immer radikaleren Säkularisation, – sozusagen unter Ausschluss des Kostbarsten, des Heiligsten. Religionslose Gesellschaften sind in der Höhe ohne Werte und in der Tiefe ohne Bindung. In ihnen ist das Recht schwach, der Zusammenhalt äußerlich, die Feindlichkeit dauerhaft; dafür muss man die Kinder psychiatrieren, die Polizei aufrüsten, die Gefängnisse erweitern.
Wer tiefer nachdenkt, dem müsste das sagen: Befassen wir uns neu mit Religion! Mit der Religion derer, die kommen, dazu mit der eigenen Religion oder Nichtreligion! Haben wir schon vergessen: das Herz der Kultur ist immer der Kult. Wen oder was beten wir an? An was fühlen wir uns gebunden? Was „lesen“ wir gemeinsam? Der friedliche Dialog um richtige Religion könnte am Ende das einzige Mittel sein, die globale Unordnung an der Wurzel anzugehen. Das würde dann bedeuten, dass wir nicht weniger Religion, sondern mehr Religion brauchen. Religion, die diesen Namen verdient.
Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral. Er ist auch Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.