Über und rund um „Fiducia supplicans“ sind bereits Unmengen geschrieben worden. Die einen haben das Dokument auseinandergedröselt und erläutert, andere haben Schreiben und Verfasser mehr oder weniger in die Mangel genommen. Während Artikel über Artikel die Medienlandschaft fluteten, verloren wir einen Aspekt völlig aus dem Blick: dass die römische Erklärung zuallererst uns selbst den Spiegel vorhält — und uns nicht zuletzt die eigene Hartherzigkeit vor Augen führt. Gedanken dazu von Dorothea Schmidt.
Stolpersteine der Sünde
Ressentiments gegen den angeblich häretischen Papst erlebten ihre Hochkonjunktur, Glaubenspräfekt Kardinal Víctor Manuel Fernández bekam ordentlich sein Fett weg; es hagelte sogar Bezeichnungen wie „Mann mit sarkastisch grinsenden Augen“ und „sexistisches Schwein“. Zwar kennen wir alle ihn noch kaum, aber er hatte gewagt, so hieß es oft, mit dem Papst „Fiducia supplicans“ herauszubringen und vor 25 Jahren ein „Sex-Buch“ zu schreiben.
Die verbalen Entgleisungen haben gezeigt, dass Menschen bei der hitzigen Diskussion um Richtig oder Falsch des Dokuments die Sachebene verlassen haben. Auf Emotionen lässt sich aber keine Debatte aufbauen, sie werden vielmehr schnell zu Stolpersteinen der Sünde. Und nur, wer „ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8,8), lehrte Jesus die Pharisäer, die eine Ehebrecherin steinigen wollten. Er selbst erbarmte sich der Frau und verurteilte sie nicht. Er gab ihr eine neue Chance. Von solchen Szenen des Erbarmens ist die Bibel übervoll.
Barmherzigkeit schenkt viele Früchte
Das wunderschöne ist, dass Barmherzigkeit nie allein kommt. Wer barmherzig ist, zeigt auch Mitleid, Geduld, Vergebung, Freundlichkeit, Sanftmut … Und kann damit Herzen öffnen für die göttliche Lawine der Freude, des Segens und der Früchte des Heiligen Geistes.
Der himmlische Vater erbarmte sich immer wieder, weil er Mitleid hatte mit dem Menschen. Den verlorenen Sohn sah er schon „von weitem, und er hatte Mitleid mit ihm“. Auch das auserwählte Volk Israel konnte noch so armselig im sündhaften Dreck kriechen, Gott hatte Mitleid und erbarmte sich. Mose gegenüber präsentierte er sich als „ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Güte und Treue“. Er sah das Elend seines Volkes, neigte sich zu ihm hinunter, verzieh unzählige Male und segnete den Menschen.
Die lebenslange Kraft des Segens
Papst Franziskus betonte den Zusammenhang von Mitleid und Barmherzigkeit 2020 in einer Generalaudienz: Mitleid habe Jesus dazu gebracht, dem bekannten Sünder Zachäus zu helfen, um dann zuerst dessen „Herz und dann das Leben des Zachäus zu verändern“. Franziskus erläuterte: Egal, wie lange jemand „in seinen Sünden verhaftet“ bleibe, Gott sei bis zuletzt geduldig und hoffe, „dass am Ende jenes Herz sich öffnet und sich verwandelt“. Der Segen besitze eine besondere Kraft, die „seinen Empfänger das ganze Leben hindurch begleitet und das Herz des Menschen bereit macht, sich von Gott verwandeln zu lassen“. Das sei die Wurzel der christlichen Sanftmut: „die Fähigkeit, sich gesegnet zu fühlen und die Fähigkeit zu segnen. Wenn wir alle das täten, dann gäbe es mit Sicherheit keine Kriege“.
Gottes Erbarmen als Aufgabe
Gottes Erbarmen ist also auch Aufgabe. Wie schon Papst Johannes Paul II. in seiner zweiten Enzyklika „Dives in misericordia – über das göttliche Erbarmen“ schrieb, fordere Christus „beim Offenbaren der erbarmenden Liebe Gottes gleichzeitig von den Menschen“, sich selbst „von Liebe und Erbarmen leiten zu lassen“. Diese Forderung gehöre wesenhaft zur messianischen Botschaft und stelle den Kern des evangelischen Ethos dar. Schon Jesus lehrte: „Seid barmherzig, wie es auch euer himmlischer Vater ist!“ (Lk 6,36).
Papst Benedikt XVI. hat dies in einer Ansprache vor dem Klerus der italienischen Diözese Aosta im Jahr 2005 in Bezug auf die Taufe im konkreten Fall durchbuchstabiert: Es könne keine allgemeine Formel geben, sondern jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden. Eine Taufe könne beispielsweise auch „im Kontext von Problemen“ gespendet werden, wenn der betreffende Mensch sich bekehrt und den Glauben der Kirche angenommen habe. Zwischen dem, was im Katechismus stehe und der konkreten Situation sei freilich oft „ein schwieriger Weg zu gehen“, gab er zu. An anderer Stelle sagte er mit Blick auf geschiedene Wiederverheiratete, die die Heilige Kommunion nicht empfangen dürften, dass sie „doch nicht von der Liebe der Kirche und der Liebe Christi ausgeschlossen“ seien.
Nichts Neues in „Fiducia supplicans“
Papst Franziskus‘ pastoraler Ansatz in „Fiducia supplicans“ ist also nicht neu. Allgemeine theologische Fragen auf den konkreten Sachverhalt herunterzubrechen ist ein moraltheologisch üblicher Ansatz. Aber während Benedikt dies nur auf Anfrage und im kleinen Kreis tat, präsentiert Franziskus einen Sachverhalt in „Fiducia supplicans“ ungefiltert gleich der ganzen Welt.
Man mag sich dadurch vor den Kopf gestoßen fühlen – das legitimiert keine Angriffe auf die Verfasser – schon gar nicht Angriffe nach Art der oben zitierten. Jemand meinte, Fernandez müsse seinen Posten räumen, selbst wenn er sich in den letzten 25 Jahren bekehrt haben sollte. (Demnach müsste auch der heilige Augustinus seinen Kirchenlehrerstatus abgeben, denn er war auch ein Bekehrter; vor seiner Umkehr hat er viele Jahre seines Lebens mit viel Sex gefüllt und Geld verprasst.)
Die gefalteten Hände der Pharisäer
Urteilen, Richten und Lästern scheinen sich in die DNA des Menschen gefressen zu haben. Unsere Kirche scheint durchdrungen zu sein vom Pharisäismus; gefaltete Hände weichen dem erhobenen Zeigefinger und Gesetzesdenken — und der Balken im eigenen Auge wird übersehen. Jesu Reaktion darauf ist hart: „Nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden“ (Mt 7,2).
Halten wir es also mit Johannes Paul II., der 2001 predigte:
„Wir wollen dem Herrn danken für seine Liebe, die stärker ist als Tod und Sünde. Sie offenbart und verwirklicht sich als Erbarmen in unserem täglichen Dasein und regt jeden Menschen dazu an, auch seinerseits gegenüber dem Gekreuzigten »barmherzig« zu sein. Ist Gott lieben und den Nächsten lieben – nach dem Beispiel Jesu sogar die Feinde – etwa nicht das Lebensprogramm jedes einzelnen Getauften und der Kirche in ihrer Gesamtheit?“
Dorothea Schmidt
arbeitet als Journalistin und regelmäßige Kolumnistin für diverse katholische Medien (Tagespost, kath.net, u.a.). Sie ist Autorin des Buches „Pippi-Langstrumpf-Kirche“ (2021). Sie war Mitglied der Synodalversammlung des Synodalen Weges und verließ gemeinsam mit weiteren Frauen Anfang 2023 das Gremium als Protest gegen die Beschlüsse des Synodalen Weges, die sich immer weiter von der Weltkirche entfernen. Schmidt ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland.
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