Die grandiosen Bilder des James Webb-Teleskops machen Helmut Müller nachdenklich. Lässt Gott sich von den Astrophysikern in die Karten schauen und was bedeutet das für den christlichen Gott, seine Schöpfung, seine Offenbarung und diverse Theologen, die über Freiheit nachdenken?
Hat der Schöpfergott seine Werkstatt nur hinter der Planck’schen Mauer – wie diverse Freiheitstheologen es eigentlich gerne hätten? Und schafft er auch noch vor der Planck’schen Mauer? Hat er sogar noch was von sich preiszugeben, was er beim Werkeln hinter der Mauer noch nicht getan hat? Fragen über Fragen, die mir bei den Bildern des James Webb Teleskops aus mehr als grauer Vor-Zeit, nämlich vor 13 Milliarden Jahren gekommen sind. Es liegen da gerade noch mal 800 Millionen Jahre für Bild gebende Verfahren im Dunkeln. Immerhin zeigen sich jetzt 13 Milliarden Jahre in nie gekannter Klarheit im Lichtkegel unserer Vernunft. Nicht nur nach Charles Sanders Peirce wächst damit die Wirklichkeit unseres Denkens, und das universale Forschungs- und Denkkollektiv der Menschheit kann eine weitere Tür nicht nur spekulativen Denkens aufstoßen.
Zurück auf Anfang, zur Werkseinstellung des Universums
Aber zurück auf Anfang, der Werkseinstellung des Universums, soweit es sich unserer Wissbegier prinzipiell öffnet: „Für den allerersten Moment des Kosmos, für die ersten 10 hoch minus 43 Sekunden, gibt bis heute keinerlei physikalische Theorie – das entspricht 0,0000… und nach 42 Nullen kommt endlich die 1 – keine Antwort. An dieser ‚Planck’schen Mauer’ zerschellt alle Wissenschaft. Die Welt war damals vielleicht „ein bizarrer Quantenschaum, in dem es weder Raum noch Zeit gab“, so formuliert man beim Deutschlandfunk. Immerhin!
So könnte man mit gesundem Menschenverstand sagen, den Rest schenken wir uns. Weit gefehlt, Physiker zerbrechen sich den Kopf, weil sie „nur“ so weit rechnerisch kommen und nicht weiter, d.h. für Physiker und astrophysikalische Berechnungen bestehen weiterhin ein Falsifizierungskriterium, mehr aber auch nicht. Und seit dem 11. Juli 2022 kommen wir sogar bis auf 800 Millionen Jahre an diesen Nullmeridian unseres bisherigen Denkens heran. Das ist für unseren gesunden Menschenverstand noch eine ganze Ecke. Aber die Physiker sind aus dem Häuschen – wobei ich keinem einen gesunden Menschenverstand absprechen möchte: Nur noch 800 Millionen Jahre bis zur Planck’schen Mauer, der Grenze ihres Rechnenkönnens, wenn es um diese Naturkonstante geht! Soweit sind sie schon in einem bildgebenden Verfahren vorgedrungen, sodass auch Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller über die Bilder aus dem All staunen können!
Schöpfung ist Schaffen aus Nichts. Evolution nur Wandel vom Sosein zum Anderssein
Aber was heißt das schon, wenn unser Raum- und Zeitdenken sowohl im Mikro- als auch im Makrokosmos maßlos überfordert wird. Wenn Schöpfung (griechisch genesis) ein Hervorgehen aus dem Nichts in ein „Etwas“ meint, das bedeutet nämlich creatio ex nihilo, dann spielt sich Schöpfung gänzlich vor der Planck’schen Mauer ab, also zwischen einer absoluten Null und 1-43sec.. Das ist weniger als jedes Fingerschnippen. Fingerschnippen kennt die Bibel allerdings nicht. Dort heißt es: Und Gott sprach (וַיֹּ֥אמֶר אֱלֹהִ֖ים wajomer Elohim). Evolution begegnet uns erst nach der Planck’schen Mauer und damit kann nur der Wandel (griechisch alloiosis) von dem schöpferischen Etwas, einem Sosein in ein Anderssein gemeint sein. Evolution kann nämlich im Gegensatz zu einem Zauberer nichts aus dem Hut zaubern.
Menschwerdung zwischen Quanten, Quarks und Quasaren
Viele Religionen glauben nun, ein Gott hätte diese Welt geschaffen, die wir immer schon im Begriff sind zu vermessen. Gerade hat der Lichtkegel unserer Vernunft sie wieder in einem sogar bildgebenden Verfahren um 13 Milliarden Jahre weiter erhellt. Hat Gott sie bloß hinter der Planck’schen Mauer erschaffen oder werkelt er auch noch davor, nötig hätte sie es ja, da sie nicht nur wegen uns so schlecht rund läuft, auch wegen Wetter- und Klima-Eskapaden oder Erdplattentektonik?
Für die traditionelle Schöpfungstheologie war klar, es handelt sich nicht nur um eine creatio ex nihilo, sondern Gott erhält sie auch in einer creatio continua. Vielleicht ist Gott auch The Superforce (die Urkraft) des Physikers Paul Davies, der sich wie viele Physiker darum bemüht, die vier bekannten Kernkräfte in einer einzigen zu vereinigen, die postuliert und noch gesucht wird. So lange David Hume noch reformierter Christ war, hätte er genau so etwas gerne geglaubt, wenn Paul Davies damals schon gelebt hätte. Aber bei dem Wunsch der Physiker, alle bekannten Kräfte in einer zu vereinen, ist es geblieben.
Klüger ist es, denke ich, wenn man das göttliche Schaffen nicht nur unabhängig von der Planck’schen Mauer, sondern ebenso unabhängig von der Davies’schen Superforce versteht. Christen glauben nun auch noch – als ob es nicht schon genug Probleme gäbe mit einer Welt, die so schlecht rund läuft – daran, dass dieser Gott sich selbst zwischen Quanten, Quarks und Quasare begeben hat.
Das erste Zuhause – der Uterus einer Frau und der erste Blick in die Welt als Mann
Für einige Theologen ist das ganz besonders ärgerlich, weil zu dieser kosmischen und planetarischen Bedingtheit menschlicher Freiheit, der Mensch werdende Gott sich genau im Lebensmilieu dieser Theologen platziert,
- nicht in einer fremden Galaxie, es gibt ja wahrlich genug davon, wie wir jetzt noch genauer wissen und auch
- nicht auf dem Mars oder der Venus, auf denen C.S. Lewis in seiner Perelandra-Trilogie eine von Erbsünde freie Welt literarisch konzipiert hatte.
- Damit nicht genug, Gott benutzt geradezu in empörender Weise die Asymmetrie der Geschlechter,
- wählt den Uterus einer Frau als erstes Zuhause in dieser Welt aus, quält sich wie wir alle durch einen engen Geburtskanal,
- und kommt zu allem Überfluss nicht als Zwitter auf die Welt,
- sondern wählt die Gestalt des anderen Geschlechts zu dieser Frau, den Mann.
Freiheit als Gabe, aber auch ohne den Geber denkbar?
Dann lebt er nach dem Zeugnis der Schrift 33 Jahre, von denen er bloß – drei Jahre den Mund aufmacht, nichts selbst schriftlich hinterlässt – obwohl er der Schrift mächtig ist und vertraut alles, was er gesagt hat, einer Truppe an – die alles andere als eine Blütenlese war. Diese Truppe behauptet dann die Menschwerdung Gottes und in direkter Nachfolge, dass durch ihn alles geschaffen ist.
Irgendwie ist es dann eigentlich nicht möglich, das, was er gesagt, getan und geschaffen hat, zu ignorieren. Eine Gruppe von Theologen macht aber genau das. Sie beruft sich auf eine lange Geschichte menschlicher Vernunft – setzt sich von der ersten Truppe und deren Nachfolgern ab und behauptet als Schöpfungsgabe, Vernunft mit Freiheit bekommen zu haben. Sie meinen aber, dass diese Gaben erst immer mehr begriffen werden, seit kritische Philosophie, wie Odo Marquard, der Spaßvogel der Philosophie, einmal bemerkte, „streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781“ gebraut werde.
Die Emanzipation bezeichneter Theologen vom Geber dieser Gabe geht stellenweise sogar so weit, dass behauptet wird, Freiheit und Vernunft sei die Ausstattung des Menschen, ganz unabhängig davon, ob es den Mensch gewordenen Gott überhaupt gegeben hat. Wenn es ihn denn tatsächlich gegeben hat oder hätte, hätte er genau das gemacht: Den Menschen mit Freiheit und Vernunft ausgestattet. So weit zu der Platzierung des Mensch gewordenen Gottes in eine zunächst vornehmlich kosmisch und physikalische Welt, die Raum und Zeit quantitativ messbar versteht und die asymmetrischen Anfänge des Menschseins.
Zeit und Raum im Wassertropfen
So weit so gut. Raum und Zeit der Physiker im Kosmos sind nicht unsere Zeit und unser Raum, auch nicht diejenige alles Lebendigen. Zeit entsteht überhaupt erst, wenn sie von Lebendigem erfahren wird. Ohne irgendein Lebendiges ist Zeit eine nackte Rechengröße, sofern es dann überhaupt einen Rechner gibt. Das Zuhause alles Lebendigen ist schließlich an die planetarischen Maßstäbe unseres Heimatplaneten gebunden. Raum und Zeit etwa eines Pantoffeltierchens spielen sich in Wassertropfengröße ab. Da ist es zu Hause und flüchtet vor basischen und sauren Substanzen, wenn sie in seinen Wassertropfen eindringen.
Die neuseeländische Pfuhlschnepfe dagegen hat wohl eines der größten „Zuhause“, die es auf unserem Planeten gibt. Dieses Zuhause ist der östliche Pazifik zwischen Antarktis und Arktis, mit einer Station auf Hawaii. Sollte sie einmal ihr Zuhause inspizieren wollen, und das macht sie zweimal im Jahr – dann verbringt sie den arktischen Sommer in Alaska und den antarktischen in Neuseeland. Das sind Raum und Zeit, das Zuhause der neuseeländischen Pfuhlschnepfe. Die Pfuhlschnepfe kann vermutlich nicht von Feuerland bis Alaska fliegen, weil sie nur den östlichen Pazifik als Zuhause kennt.
Raum und Zeit in unserer 37 Grad Welt
Wie sehen Raum und Zeit bei uns Menschen aus? Wir können sie sogar dahin transferieren, wo sie gar nicht in dem Sinne sind, wie wir sie kennen. Der Physiker Stephen Weinberg redet sogar von den ersten drei Minuten des Weltalls. Zeit und Raum sind dabei nur rechnerische Größen. Ohne ein Vergrößerungsglas oder ein Teleskop erstreckt sich unser Raumerlebnis vom Sandkorn bis zum Andromedanebel. Das ist die weiteste Entfernung, die wir mit bloßem Auge wahrnehmen können, ohne allerdings ursprünglich gewusst zu haben, dass der Andromedanebel sehr viel weiter entfernt ist als die Wolke, die ihn vielleicht abends, wenn er bei völliger Dunkelheit zu sehen ist, bedeckt.
Das ist also unser Zuhause. Dabei denke ich nicht einmal an das Darmbakterium in meinem Darm, das denselben auch als sein Zuhause – mit erheblichen Abstrichen zu meinem Zuhause-Erlebnis – erfährt. Diese Raum- und Zeiterlebnisse haben wir etwa rund um eine Körpertemperatur von 37 Grad. Bei zwei oder drei Grad mehr sehen wir schon weiße Mäuse, die es gar nicht gibt, und die Zeit dehnt oder kürzt sich ohne Rücksicht auf das, was unsere Armbanduhr misst. Bei genauso vielen Graden unter 37 sind wir tot oder werden es bald sein.
Durch seine Menschwerdung adelt und normiert Gott unsere Zeit und unseren Raum!
Warum um alles in der Welt begibt sich Gott, im Begriff eine Gestalt dieser Welt anzunehmen, in das Korsett einer 37 Grad-Welt, in genau diese Raum- und Zeitmaße, die schon bei geringer Erhöhung verschwimmen und darunter und darüber sogar aufhören? Er will kein Elefant, kein Adler und kein Paradiesvogel werden, er wollte Mensch werden. Genau in diesen Raum und diese Zeit zwängt sich der Mensch werden wollende Gott, zusätzlich zu den alles andere als komfortablen astro- und geophysischen Bedingungen.
Warum tut er sich das alles an? Er hat offensichtlich diesen Raum und diese Zeit gewählt, um die Beschwernisse dieser Welt mit uns zu teilen und uns schlussendlich auch davon zu erlösen.
Seine Botschaft: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben
Nichts anderes überliefern die Zwölf und die in unmittelbarer Nachfolge stehenden Anderen uns als sein Evangelium. Er will auch nicht mit uns Blinde Kuh spielen, indem nachfolgende Generationen ihn mit zugebundenen Augen suchen müssen. Nein, wer es hören will, dem lässt er sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6). „Wer mir nachfolgt wird nicht im Finstern wandeln“ (Joh 8, 12).
Dem geht allerdings eine Forderung voraus, dass wir so nicht einfach weitermachen sollten, was uns vielleicht mächtig in den Gliedern steckt. Nach Paulus will er uns von diesen Elementarmächten erlösen (Kol 2,8) und uns so für sein Evangelium frei machen. So scheint er offenbar Freiheit zu verstehen.
Was alles zur Auswahl stand, eine Gestalt dieser Welt anzunehmen
Wenn das so ist, dann ist unsere Zeit und unser Raum aus allen möglichen Dimensionen, die es in der Welt und im Universum gibt,
- der Echolotwelt der Fledermäuse und
- dem elektrischen Feld des Zitteraals herausgehoben, gar nicht zu erwähnen, dass er offenbar
- ein Leben in Gasriesen wie Jupiter und Saturn nicht gewählt hat
- die Gluthölle der Venus wohl auch nicht.
- Die Galaxien, die wir mit dem James Webb Teleskop, allen voran das Hubble deep field, jetzt in ungeahnter Schärfe sehen können, sind dann nicht mehr als Blümchenmuster in der Tapete an den Wänden unseres Zuhauses.
- Im Bereich des Lebendigen hat er sich in die Asymmetrien der Geschlechter begeben,
- im Uterus einer Frau,
- als Mann in die Welt gebären lassen,
- über alle rätselhaften Gebrochenheiten der Welt hinweg.
Auf dem Boden von Asymmetrien ist es dem Menschen aufgegeben, aufgrund dieser Andersartigkeit, in ethischer Verantwortung Symmetrien von Würde, Freiheit, Achtung und Wertschätzung zu gewähren und zuzulassen. Und in der personalen Zuwendung des Mensch gewordenen Gottes zu jedem einzelnen, hat dieser sich in seiner frohen Botschaft an uns alle gewendet.
Meinen Willen schreibe ich mir auf meine Tafeln (Nietzsche)
Wenn die oben genannte Theologengruppe, von eben genannten physisch und biologischen Bedingungen völlig absieht oder sie gar nicht oder nur marginalisiert thematisiert und Freiheit transzendentalpragmatisch, Leibvergessen und in Vernunftdiskursen erklären und zu begründen versucht, natürlich, wie sie immer wieder sagen hochkomplex, scheint mir das dann doch sehr unterkomplex zu sein.
Warum sind sie so seltsam blind? Sie wollen weder dem vor noch dem nach der Planck’ schen Mauer wirkenden Schöpfergott folgen, egal wie groß unser Wissen werden wird und dem sich offenbarenden Gott, manchmal mit windigen Ausreden, auch nicht folgen. Sie folgen einem anderen Propheten: „Meinen Willen möchte ich auf meine Tafeln schreiben.“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Von der Seligkeit wider Willen).
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von Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe
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