Beim Pilgern auf dem Jakobsweg in Frankreich begegnet man pfingstlichem Geist in Vergangenheit und Gegenwart auf Schritt und Tritt. Charles Péguy erinnert in Orléans an den Renouveau catholique in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Einen ähnlichen Ausbruch pfingstlichen Geistes unter jungen Leuten erlebte Helmut Müller in den Pfarreien während seines Pilgerns auf dem Jakobsweg.

Beten von Kopf bis Fuß

Wir sind mit Sorgen bepackt aufgebrochen, zusätzlich mit Bitten und Anliegen anderer „im Gepäck“. So machten wir uns auf den Weg. Weil wir Leib sind, und das von Kopf bis Fuß, spüren wir auch unser Beten förmlich in jedem Knochen und allen Muskeln. Man staunt jeden Abend darüber, dass man so viele Knochen und Muskeln hat, und im Umkehrschluss ist man dann ganz erfüllt davon, wie intensiv das Beten gewesen sein muss. Beten ist ja nicht bloß sprechen in die Luft und dann auch noch keine Antwort bekommen. 

Was Beten ist und sein kann, daran erinnert der französische Schriftsteller Charles Péguy, der Wiederbegründer der Wallfahrt nach Chartres. Wir waren zwar nicht auf dem Weg nach Chartres – immerhin aber gut 180 km in Frankreich unterwegs – mit dem Fernziel Santiago. Der Geburtsort Péguys, Orléans, war unsere erste Station in Frankreich. Mit Pfingsten, dem Ende der Etappe vor Augen, pilgerten wir los. Charles Péguy hat einmal gezeigt, was es mit der Wirkung des Heiligen Geistes auf sich hat, wie er als Sturmwind von Pfingsten und nicht bloß als laues Lüftchen, wie sein Wirken manchmal kleingeredet wird – erfahren werden kann. Dazu muss man seine Lebensgeschichte kennen.  

Die Freiheit Gottes und die Gebundenheit seiner Kirche

Charles Péguy befand sich vor dem ersten Weltkrieg in einer Situation, wie sie in unserer Zeit erst durch Amoris laetita im achten Kapitel und Fiducia supplicans angegangen worden ist. Nebenbei – ein gläubiger Katholik, wie es Péguy war, konnte immer schon den Gehalt von Amoris laetitia und Fiducia supplicans entdecken. Ursprünglich Atheist, aber nach einem Erweckungserlebnis katholisch geworden, war er zivil verheiratet mit einer ebenso atheistischen Frau, die sich und auch die Kinder nicht taufen lassen wollte. In Erinnerung an seinen 150. Geburtstag 2023 heißt es in agenzia fides, dem Presseorgan der päpstlichen Missionswerke:

In diesem Umfeld entstehen die Werke, in denen Péguy auf unvergleichliche Weise die Wurzel und die Züge der modernen Vergessenheit des Christentums darlegt und Wege aufzeigt, wie das Christentum im Herzen dieser Vergessenheit wieder aufblühen kann.“

Als streng gläubiger Katholik empfindet er seine Lebenssituation als ein Leben im Konkubinat. Dass dies in den Anfängen des Christentums ganz häufig vorkam, weil gläubige Christen nicht selten gar keinen gläubigen Partner finden konnten, war ihm offenbar nicht geläufig. Péguy hat die Bedeutung von 1 Kor 7,14 für sein Leben offensichtlich nicht für sich fruchtbar machen können: Denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau ist durch ihren gläubigen Mann geheiligt. Sonst wären eure Kinder unrein; sie sind aber heilig.“ Für ihn heißt es damals sehr rigoros, dass er die Sakramente, die Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes in der Kirche, nicht empfangen kann. Er findet aber eine Lösung. Die „garantierte Gegenwart“ Christi durch das Wirken des Heiligen Geistes in den Sakramenten ist ihm verwehrt, weil die Kirche keinen Auftrag hat, ihn zu den Sakramenten zuzulassen. Die erwünschte und ersehnte Gegenwart in den Sakramentalien scheint ihm dagegen möglich. Sein Gedanke: Der barmherzige Gott sieht seine Situation und ist vollkommen frei, anders als die Kirche, ihm seine Gnade zu gewähren. Gott sähe, sagt er sich, dass er sein Bestes tue, deshalb wird er ihm die ersehnte Gegenwart in den Sakramentalien nicht verwehren. 

Mit den Füßen beten und um Gottes Heil schaffendes Dabeisein betteln

Gebet, auch Anbetung und ganz besonders Wallfahrten sind seine Zugänge: Er bittet die Heiligen um Hilfe, er pilgert nach Chartres, er wiederholt seine Gebete zu Maria: ‚Ich gehöre zu den Katholiken, die den ganzen heiligen Thomas für das Stabat mater, das Magnificat, das Ave Maria und das Salve Regina geben würden’: ‚Im Mechanismus der Erlösung ist das Ave Maria der letzte Ausweg. Damit kann man sich nicht verirren’. Péguy verzichtet darauf, Druck auf andere auszuüben. Er wartet und bittet geduldig darum, dass die Gnade Christi die Herzen berührt, so wie sie es bei ihm getan hat. Er steht an der Schwelle und wartet darauf, dass der Herr wirkt und andere an dieselbe Schwelle bringt, zu demselben Neuanfang. Katholische Intellektuelle tadeln seine Entscheidungen und halten sie für zu wenig engagiert und abwartend. Auf solche Kritik erwiderte er, dass ‚diese die Gärten der Gnade niedertrampeln’. Zuversichtlich und überzeugt lebt er daraus. Schon zu Lebzeiten wird er als Mann der Treue bezeichnet. Er gilt als Erneuerer der weltberühmten Wallfahrt nach Chartres. Charles Péguy ist eines der ersten Opfer des ersten Weltkrieges geworden. Nach seinem Tod lassen sich seine Frau und auch die Kinder taufen.

Péguy, der das Wirken des Geistes in seinem Leben wie ein Ertrinkender gesucht hat und in Marginalien, dem Kreuzzeichen, Weihwasser, Marienverehrung, Wallfahrt, Aschenkreuz u. ä. schließlich gefunden hat, erfährt Zeit seines Lebens die Sturmgewalt des Geistes nicht mehr. Doch nach seinem Tod fährt der Heilige Geist gleichsam als Sturmwind in die Herzen seiner Liebsten und verwandelt sie zu Kindern Gottes. 

Evangelisierung treibt in Frankreich prächtige Blüten

Wir sind durch ein Frankreich gepilgert, das offensichtlich unter jungen Christen einen Neuaufbruch erlebt. Über 18000 Erwachsene, darunter 7400 Jugendliche haben sich zu Ostern taufen lassen. Dagegen haben sich bei uns lediglich etwas mehr als 400 taufen lassen. Gleich zu Anfang unserer Reise fanden wir gefüllte Kirchen vor, angefangen von schwangeren Frauen, Familien mit Kleinkindern bis zur Greisin am Rollator. In jeder Pfarrei lagen Evangelisierungsprogramme aus, mit Werbematerial, das man keiner deutschen Diözese zutrauen würde.

Schließlich setzte der 19jährige Désiré Doué, Mittelfeldstürmer bei Paris Saint Germain, in München mit seinem Dank an Jesus Christus für den 5 : 0 Sieg gegen Inter Mailand ein Zeichen, dass es in Frankreich zumindest in der Jugend mit dem Christentum anders aussieht als in Deutschland.

Beim Pilgern durch Thiviers, die Stadt in der Jean Paul Sartre seine Kindheit verbrachte, wurden wir daran erinnert, dass Frankreich auch das Land Jean Paul Sartres ist, das Land, dem wir bei den olympischen Spielen in Paris die blasphemische Gestaltung des Abendmahls verdanken.

“Zaubertrank” des Heiligen Geistes

Dennoch könnte man fragen: Haben die Franzosen einen Zaubertrank wie bei Asterix und Obelix, in den statt Mistelzweige Ur-worte des Evangeliums und Heiliger Geist gemischt ist, in der Art, wie er im Leben von Charles Péguy wirksam geworden ist? Die Diözesen vor Ort unterstützen das jedenfalls. Französische Jugendliche scheinen diesem Trank mehr zuzusprechen als deutsche und können dadurch ihr Christentum besser in die Kultur der Gegenwart integrieren. Vielleicht dürfen wir mit einigen Sorgen weniger zurückkehren, bestärkt darin, dass die Ur-worte des Evangeliums (etwa vocation (Berufung) pfingstlichen Geist befördern. Dafür komme ich gerne mit schmerzenden Knochen und Muskeln zu Hause an.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag.  Helmut Müller ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.

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