Immer weniger Menschen glauben an Gott und vertrauen der Kirche. Und immer mehr möchten, dass sich die Kirche konform an die Gesellschaft anpasst. Das zeigt eine neue Umfrage. Martin Grünewald erinnert daran, dass Papst Franziskus die Situation bereits vor vier Jahren ursachengerecht analysiert und zu einem Wandlungsprozess aufgerufen hat.

Die Entfremdung vom christlichen Glauben und die Entkoppelung von der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland erfolgt weit schneller als erwartet. Bereits im Jahr 2040 – und nicht erst, wie bisher vermutet, im Jahr 2060 – wird sich die Zahl der Mitglieder in der katholischen Kirche halbieren. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der christlichen Kirchen, die am 14. November von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) vorgestellt wurde. Die Zahlen sind alarmierend, können aber leichter eingeordnet werden, wenn die religiöse „Großwetterlage“ in Deutschland betrachtet wird.

Die Mehrheit der Bevölkerung interessiert sich demnach überhaupt nicht mehr für einen Gottesglauben – insgesamt 56 Prozent. Ihnen stehen aber nur 13 Prozent kirchlich-religiöse Menschen in der Bevölkerung gegenüber. Weitere 25 Prozent zeigen einerseits ein wenig Kirchennähe, sind aber gleichzeitig distanziert.

Nur vier Prozent sind gläubig und kirchennah

Die Glaubenssubstanz ist gleichzeitig gering. Nur 19 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben, „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“. Abstrakt von einem „höheren Wesen“ gehen weitere 29 Prozent aus. Auch bei katholischen Kirchenmitgliedern betrachten sich nur vier Prozent als gläubig und zugleich eng mit der Kirche verbunden.

Bischof Peter Kohlgraf, der Vorsitzende der DBK-Pastoralkommission, zeigte sich bei der Vorstellung der Umfrage wenig überrascht.

„Wir kennen den Rückgang der kirchlichen Bindung seit den 60er Jahren. Das ist nichts Neues“,

sagte er zur Negativtendenz.

„Die Studie zeigt ein ungeschminktes und sehr facettenreiches Bild der aktuellen Lage von Religion und Kirche in Deutschland. Sie liefert uns die häufig beschworenen Zeichen der Zeit, die es im Lichte des Evangeliums zu deuten gilt,“

so der Mainzer Bischof.

Die Umfrage ermittelte: Vom Kirchenaustritt würden sich 82 Prozent der Katholiken und 70 Prozent der Protestanten abhalten lassen, wenn ihre Kirche deutlicher bekennen würde, wie viel Schuld sie auf sich geladen habe. Gemeint könnte damit die fehlende Glaubwürdigkeit bei der Aufarbeitung von Missbrauch und Vertuschung sein.

Abschieben von Verantwortung verstört

Glaubwürdigkeit bildet den Kern für das nötige Vertrauen: Verantwortung ist eine höchst persönliche Angelegenheit, und das Abschieben auf Strukturen und Systeme wirkt dazu äußerst konträr, ja sogar abstoßend. Die Fehler in der Aufarbeitung sind aber bislang kaum ein Gegenstand der innerkirchlichen Diskussion. Das gilt es aufzuholen.

Da die Zahl der Abständigen von Glaube und Kirche ungleich höher ist als die Zahl der loyal Verbundenen, wächst der gesellschaftliche Konformitätsdruck. Die Mehrzahl wünscht sich eine Kirche, die ihr eigenes Profil zurücknimmt und sich dem gesellschaftlich Üblichen anschließt. Nur: Ein solcher Trend stärkt nicht den Glauben, sondern relativiert ihn. Die Kirche hatte ihr stärkstes Wachstum in den ersten 250 Jahren ihrer Existenz – unter Verfolgung und im Widerspruch zur Ethik der antiken Gesellschaft, die nicht nur Abtreibung, Euthanasie und Herabwürdigung der Frau praktizierte, sondern Erfolg und Stärke verherrlichte, den schwachen Menschen aber verachtete.

Papst Franziskus lädt ein zu Mut und Realismus

Papst Franziskus hat die Entwicklung in Deutschland sehr aufmerksam beobachtet und den Katholiken einen eigenen Brief gewidmet. Mit Datum vom 29. Juni 2019 schrieb er dem „pilgernden Volk Gottes in Deutschland“:

„Heute indes stelle ich gemeinsam mit euch schmerzlich die zunehmende Erosion und den Verfall des Glaubens fest mit all dem, was dies nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf sozialer und kultureller Ebene einschließt.… Die derzeitige Situation anzunehmen und sie zu ertragen, impliziert nicht Passivität oder Resignation und noch weniger Fahrlässigkeit; sie ist im Gegenteil eine Einladung, sich dem zu stellen, was in uns und in unseren Gemeinden abgestorben ist, was der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf. Das aber verlangt Mut, denn, wessen wir bedürfen, ist viel mehr als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel.

Ein wahrer Wandlungsprozess verlangt eine pastorale Bekehrung

Ich erinnere daran, was ich anlässlich der Begegnung mit euren Oberhirten im Jahre 2015 sagte, dass nämlich eine der ersten und größten Versuchungen im kirchlichen Bereich darin bestehe zu glauben, dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei, dass diese aber schlussendlich in keiner Weise die vitalen Punkte berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen.

«Es handelt sich um eine Art neuen Pelagianismus, der dazu führt, unser Vertrauen auf die Verwaltung zu setzen, auf den perfekten Apparat. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen» (vgl. Evangelii gaudium, 32). …

Ein wahrer Wandlungsprozess beantwortet, stellt aber zugleich auch Anforderungen, die unserem Christ-Sein und der ureigenen Dynamik der Evangelisierung der Kirche entspringen; ein solcher Prozess verlangt eine pastorale Bekehrung. Wir werden aufgefordert, eine Haltung einzunehmen, die darauf abzielt, das Evangelium zu leben und transparent zu machen …

Die so gelebte Evangelisierung ist keine Taktik kirchlicher Neupositionierung in der Welt von heute.“

Wer will die Säkularisierungswelle aufhalten?

Papst Franziskus beweist mit diesen Worten eine fundierte Kenntnis der Situation in Deutschland und beschreibt zugleich den Ausweg, der ein spezifisch christliches Verhalten erfordert und eher an der Haltung als am Erfolg gemessen wird. Denn wer will sich anmaßen, die seit Jahrzehnten stattfindende Säkularisierungswelle kurzfristig aufhalten zu können? Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) führt die zitierte Umfrage zur Kirchenmitgliedschaft regelmäßig seit 1972 durch. Gewiss hat sie die Ergebnisse ernst genommen. Aber konnte sie mit den erfolgten Anpassungen den Trend umkehren? Im Ergebnis hat sie seitdem mehr Mitglieder verloren als die katholische Kirche.

Nicht Anpassung, sondern mehr Hinwendung zum Evangelium

Deshalb sind die Hinweise des Papstes zur Situation in Deutschland hilfreich. Er setzt nicht auf Anpassung, sondern auf die tiefere Hinwendung zum Evangelium, das uns der Auferstandene anvertraut hat. Ja, es ist ein Weg voller Herausforderungen und Zumutungen. Aber was war in der Kirchengeschichte wirksamer als die authentische Nachfolge Jesu?


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt bis heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de

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