Die Rufe nach Abschaffung der Kirchensteuer werden immer lauter. Eine philosophische, historische sowie pragmatische Betrachtung von Helmut Müller unter Einbeziehung weiterer katholischer und evangelischer Stimmen zum Thema.
Mammon, Almosen, Klingelbeutel, Kirchensteuer
Gibt es für Glauben denn einen Wechselkurs? Viele Menschen finden die Kirchensteuer nicht mehr zeitgemäß, heißt es dieser Tage in vielen Print- und elektronischen Medien nach einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur. 74 % der Befragten gaben demnach an, dass sie das Einziehen der Kirchensteuer nicht mehr für zeitgemäß halten. Allein die Frage Ist Kirchensteuer noch zeitgemäß ist ein Unding. Woran soll man zeitgemäß messen? Gibt es denn eine Ur-Zeit, wie es ein Ur-Meter oder ein Ur-Kilo gibt? An der Planck-Zeit kann man die Ur-Zeit ja wohl nicht messen, die ist nämlich 10 hoch minus 43 Sekunden „lang“. Oder soll man sie über dem Tale Ajalon messen, als Sonne und Mond still standen auf ein Gebet von Josua hin (Jos 10,12)?
Zeitgemäß ist wohl nicht das richtige Maß der Wahl für das, was mit dem Scherflein einer Witwe (Lk 21,1 – 4) und einem Lob Jesu (ihrer Hochherzigkeit) begann und nun Kirchensteuer heißt.
Kann man Glauben überhaupt mit Geld aufwiegen?
Allein das zeigt, dass sich überlegenswerte Sachverhalte – kann man Glauben in irgendeiner Weise in ein Verhältnis zu Geld bringen – nicht bloß an der Zeit messen lassen. Zeit selber ist so rätselhaft, dass sich an unserer Unkenntnis darüber seit Augustinus nicht viel geändert hat. Ist sie eher pessimistisch gesehen chronos, ablaufende Lebenszeit, oder sollen wir sie mit aion, als „Fülle der Zeit“, dem ewigen „Ist“ Gottes vergleichen? Schon Platon hat vor diesem eher christlichen Maß im Timaios, aion als in jedem Augenblick bewegte Ewigkeit verstanden. So viel ist also schon klar. Beim Messen von Sachverhalten kann man also Zeit nicht ganz außer Acht lassen. Allerdings war zeitgemäß in Deutschland 12 Jahre lang, das sog. Dritte Reich, ein Maß des Ungeheuerlichen, aus dem dessen Macher gerne 1000 Jahre und mehr gemacht hätten. Deshalb sollte man Sachverhalte besser mit dem Begriff zeitgerecht, statt zeitgemäß beurteilen. Propheten, manches Mal heilige Unruhestifter – haben immer schon in ihrer Zeit darauf hingewiesen, was der Kairos der Zeit in der sie lebten, das Zeitgerechte sei und was eben nicht bloß als zeitgemäß angesehen wurde.
Zeitgemäß, zeitgerecht, geschlechtsgerecht, sachgerecht, woran messen?
Geschlechtergerechtigkeit ist nun sicherlich etwas, was gegenwärtig etwas mit Zeitgerechtigkeit zu tun hat. Sie sollte allerdings gegenüber dem Zeitgemäßen ein Qualitätsmerkmal aufweisen können: Wenn man etwa meint, politische Posten geschlechtergerecht, ohne Beachtung von Sachgerechtigkeit, besetzen zu können, hat die Personalie Boris Pistorius (SPD), männlich, deutlich gemacht, dass die Personalie, Christine Lambrecht (SPD), weiblich, ein krasser Fehlgriff für das Verteidigungsministerium war und nicht der erforderlichen Sachgerechtigkeit entsprach. Gerechterweise muss aber hinzugefügt werden, dass die Personalie Marie Agnes Strack-Zimmermann (FDP), weiblich, sowohl sachgerecht als auch der Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit entsprochen hätte. Diese Wahl hätte aber das grün, rot, gelbe Ampelkabinett aus dem Gleichgewicht gebracht, denn gelb durfte nach dem Koalitionsvertrag nicht rot ersetzen. Ein Skatspieler würde sagen: Sachgerechtigkeit sticht Geschlechtergerechtigkeit und Zeitgerechtigkeit Zeitgemäßheit.
Vom großherzigen Scherflein der Witwe bis zum schnöden Mammon
Was ist also nun das Maß für etwas, das als Scherflein der Witwe schon bei Jesus erwähnt, von ihm an anderer Stelle als Mammon (Mt 6,24) kritisiert wird, aber dennoch durchgehalten hat bis es jetzt in Deutschland Kirchensteuer genannt, aber als nicht mehr zeitgemäß, kritisiert wird? Ist das, was sich so lange unter vielen Begriffen und Sachverhalten gehalten hat, gemäß dem Zeitverständnis von chronos ein Auslaufsmodell oder eher dem aion vergleichbar, immer mit Kirche und Glaube verbunden? Kairos ist die Kirchensteuer offensichtlich nicht. Auch wenn Kirche mystisch der Leib Christi ist, ist Kirche, salopp gesagt, kein Gespenst.
- Sie ist sichtbar, mit Menschen aus Fleisch und Blut, besitzt Gestalt und
- bewegt sich in Raum und Zeit aus dem Abendmahlsaal heraus, durch Hauskirchen, Katakomben, Kathedralen und wird im Petersdom sichtbar zum Zentrum einer Weltkirche. Das alles ist nicht bloß durch einen Gnadenblitz vom Himmel oder einem Mausklick am PC geworden.
- Dieses Gebilde wird monetär begleitet vom Scherflein der Witwe (für den Tempel), großzügiger Unterstützung Jesu durch reiche Frauen (Lk, 8,3), dem Kommunismus der Urgemeinde (Apg 5,1–11), der Kollekte für Jerusalem, dem mittelalterlichen Stiftungswesen, dem Peterspfennig, Spenden, Abgaben, Kirchenbeiträge und Kirchensteuer nach deutschem Vorbild.
- Entscheidend ist natürlich auch Gesinnung und Haltung, wie die Kirche sich als Communio mit dem Haupt Christus, seinen Vertretern und in den Gliedern der einzelnen Gläubigen in sakramentaler Verbundenheit versteht und Gläubige ihr Christsein leben. Das kann sein: tiefe Überzeugung, Hochherzigkeit, bloße Tugendpflicht, seinen Job machen, unreflektierte, überkommene Verbundenheit oder wachsende Entfremdung. Das sind Haltungen, die sich hinter einem in Deutschland automatisierten Kirchensteuerabzug vom Lohn verbergen können und Kirchensteuerzahlende und davon Lebende betrifft.
Glaubensschwund unter Kirchensteuerzahlenden und davon Lebenden
Solange Hochherzigkeit nicht gänzlich durch Tugendpflicht, seinen Job machen und sogar Entfremdung aufgesogen wird, ist Kirchensteuer ein effizientes Mittel die finanziellen Notwendigkeiten zu gewährleisten. Damit sind die kirchlichen Grundvollzüge Martyria, Leiturgia, Diakonia und Koinonia gemeint. Ist jedoch der Pegel für Hochherzigkeit und Verbundenheit bei Kirchensteuer Zahlenden und davon Lebenden so dramatisch gesunken, wie es in der katholischen Kirche in Deutschland der Fall ist, ist das Kirchensteuersystem nicht mehr zeitgerecht, weil ihr ein Mindestmaß an Sachgerechtigkeit abhanden gekommen ist. Kirche als communio mit Christus als Haupt und sakramental praktizierenden Gliedern ist passé, gar nicht zu reden von Kirche als corpus christi mysticum.
Seltsame Rekorde: Allzeithoch bei Kirchenaustritten und Kirchensteuereinnahmen
Alexander Kissler bringt es in seiner Kolumne Der andere Blick in der NZZ auf den Punkt:
„Die Kumpanei mit dem Staat, wie sie sich in der Kirchensteuer verdichtet, erschwert die Verkündigung, schwächt das Zeugnis, steht der Mission im Weg. Sie dient als Ausrede und Stützrad, als letzter verbliebener gemeinsamer Nenner spirituell ausgezehrter Volkskirchen. Ohne die Steuer würde vieles schwerer, aber das Entscheidende leichter: das Werben für eine Botschaft, die nur dann frei machen kann, wenn sie freiwillig unterstützt wird, mit Geld oder auf andere Weise.“
Und noch ein anderer bringt es auf den Punkt, was Kirche ausmacht und unter welchen Bedingungen eine finanzielle Unterstützung sach- und zeitgerecht ist. Es ist der evangelische Gemeindepfarrer Jochen Teuffel, der die Quintessenz seines Buches Rettet die Kirche – schafft die Kirchensteuer ab in 12 Thesen einschärft. Was er aus evangelischer Sicht wahrnimmt, trifft leider auch in einer Ökumene schwindsüchtigen Glaubens, die jeweiligen Kernpunkte des Bekenntnisses betreffend, auch für die katholische Kirche zu.
Rettet die Kirche – 12 Thesen
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„Die Kirche bekennt Jesus Christus als ihren Herrn: Ihre Handlungen und Ordnungen müssen sich deshalb an seinem Wort und Werk messen lassen.
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Kirche ist kein Volk von Steuerschuldnern, sondern die Gemeinschaft aller Gläubigen, die unter und nach dem Evangelium leben.
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Kirche lebt nicht von Abgaben der Gläubigen, sondern allein durch die Selbsthingabe Jesu Christi, die wir im Abendmahl empfangen.
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Die Lebensbeziehung, die Christus schenkt, befähigt Menschen, ihm auf seinem Weg zu folgen und selbst opferbereit zu werden.
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Allein durch freiwillige Gaben können Christen den Auftrag der Kirche unterstützen und daran Anteil gewinnen.
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Freiheit der Kinder Gottes und geschwisterliche Liebe sind Grundpfeiler der christlichen Gemeinschaft. Gesetzliche Zwangsverhältnisse lassen sich nicht mit ihnen vereinbaren.
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Kirchensteuer ist eine öffentlich-rechtliche Zwangsabgabe, kein freiwilliger Mitgliedsbeitrag. Man kann sich ihr als Kirchenmitglied nicht einfach entziehen.
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Die Kirchensteuer steht im klaren Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi und zu den evangelischen Lehrbekenntnissen. (Hier ist eine katholische Ergänzung notwendig, wie sie etwa von Papst Benedikt XVI. stammt: „Ich meine damit nicht, dass es überhaupt eine Kirchensteuer gibt, aber die automatische Exkommunikation derer, die sie nicht zahlen, ist meiner Meinung nach nicht haltbar.“
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Dass getaufte Christen durch einen Austritt aus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts generell vom Abendmahl ausgeschlossen werden, ist ein Skandal. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben wird damit in Frage gestellt.
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Der Mammon droht, das Evangelium zu verdrängen: Je größer das Budget der verfassten Kirchen, desto mehr Entscheidungen werden in Abhängigkeit vom Geld getroffen.
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Das derzeitige Kirchensteuersystem macht die Landeskirchen zu Anstaltskirchen und versperrt den Weg zum nachhaltigen Gemeindebau und zur Mission.
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Ein Ausstieg aus der Kirchensteuerfinanzierung muss stufenweise erfolgen. Sein Ziel ist eine Kirche, die sich aus den freiwilligen Gaben der Gläubigen selbst finanziert und durch Umlagen übergemeindliche Dienste trägt.“
Und noch einmal Alexander Kissler:
„Die Kirchensteuer sollte abgeschafft werden – sie macht träge, feig und satt. Solange die Kirchen Steuern erheben und vom Staat einziehen lassen, sind sie unfrei. Immer mehr Menschen lehnen das System ab. Die christlichen Gemeinschaften sollten von sich aus darauf verzichten.“
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe
Bild: Das Opfer der armen Witwe, nach einem Mosaik in Ravenna (6. Jhdt)