Ganz gleich, wie provokativ dieser Satz wirkt, er muss zulässig sein und bleiben. Kritik muss sowohl an den Richtern als auch an ihren Entscheidungen möglich sein. Will man die hohe Qualität des höchsten Gerichts bewahren, sollte die begleitende Kritik niemals abreißen. Von Peter Winnemöller

Darf man eigentlich das Bundesverfassungsgericht kritisieren? 

Im Zuge der gescheiterten Wahl für neue Verfassungsrichter war sehr schnell davon die Rede, man beschädige das Gericht, wenn man es kritisiere, das Wahlverfahren behindere, die Kandidatinnen nicht wähle und noch einiges mehr. Manche Vorwürfe entpuppen sich dabei als absurd oder sogar lächerlich. Es sei verfassungsfeindlich, so der CDU-Politiker Ruprecht Polenz in einem Post auf X, dem BVerfG eine parteiliche Rechtsprechung zu unterstellen. Das untergrabe das Vertrauen in die Unabhängigkeit des höchsten Gerichts, fuhr der umstrittene Politiker fort. Polenz schlug damit in eine Kerbe, die das höchste deutsche Gericht für sakrosankt erklären möchte und es dabei gedanklich nahe einer absoluten juristischen Unfehlbarkeit ansiedelt.

Die Neigung des Politrentners Polenz, Nibelungentreue gegenüber dem höchsten deutschen Gericht einzufordern, zielt auf einen juristischen Spruchkörper, der, wenn man ihn gegen Kritik abschirmte, wirklich jede Legitimität verlöre. Polenz Postulat wirkt wie eine säkular daherkommende und dennoch nur umso religiöser wirkende unbedingte Vasallentreue. Damit kann man bei genauer Betrachtung selbst das höchste deutsche Gericht nur überfordern. Dabei muss man betonen, dass das höchste deutsche Gericht bislang jedenfalls den Ruf einer außerordentlichen Seriosität genoss. Dennoch kann jeder Jurastudent ungestraft in einer Arbeit dem Bundesverfassungsgericht einen Irrtum unterstellen, wenn er es gut begründen kann. Selbst das höchste deutsche Gericht darf vor Urteilsschelte nicht sicher sein. Alles andere wäre undemokratisch und freiheitsfeindlich.  

Deshalb ist es grundsätzlich legitim, wenn Juristen wie Reinhard Merkel, Horst Dreier oder Frauke Brosius-Gersdorf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Lebensschutz und zur Einheit der Menschenwürde im Blick auf die bloße Gattungszugehörigkeit als fehlerhaft und nicht sachgerecht kritisieren (Stichwort: „biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“), genau so, wie sie ertragen müssen, wenn man ihnen wiederum die mangelnde Schlüssigkeit ihres Arguments mit Gründen nachweist. Dennoch ist insbesondere die beständige Judikatur des Verfassungsgerichts selbst eine wichtige Instanz der Grundrechtsauslegung von hoher Stabilität. Ohne beste, evident durchschlagende Gründe widerspricht sich das Gericht nicht in seiner ständigen Rechtsprechung. In diesem Sinne wäre allerdings die Berufung von Frau Brosius-Gersdorf mit ihrer völlig anderen Sicht ein Problem – und zwar sogar ein großes. Aber: Unfehlbar ist das Gericht eben nicht.

Kritische Betrachtung des Gerichts ist erforderlich

Dennoch neigen die Träger der roten Roben zuweilen zu genau jener höchstrichterlichen Überheblichkeit, die eine kritische Betrachtung des Gerichts so unbedingt erforderlich macht. Das gilt für die Entscheidungen, für das Verhalten und nicht zuletzt für die Zusammensetzung des Gerichts. Das vom höchsten deutschen Gericht frei erfundene Recht eines jeden Menschen, sich selbst zu töten oder töten zu lassen, ist ein Urteil, von dem man nur hoffen kann, dass es baldmöglichst von einer Spruchkammer widerrufen wird. Es widerspricht nicht nur der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, es lässt sich zudem nicht seriös aus dem Grundgesetz und den Grundrechten herleiten. Ins Zwielicht gerieten die höchsten Richter, als sie sich 2021 am 30. Juni im Bundeskanzleramt zum Gedankenaustausch mit der Bundeskanzlerin und einigen Ministern trafen. Wenige Tage später hatten sie über die umstrittenen Coronamaßnahmen zu entscheiden. Die AfD unterstellte den Trägern der berühmten roten Roben Befangenheit, was diese am 20. Juli desselben Jahres höchst verschnupft zurückwiesen. Es gehört zum Wesen eines Höchstgerichtes, keine Appellationsinstanz über sich zu haben. Umso mehr gilt eben, dass diese Richter wirklich vor ihrem Gewissen entscheiden müssen. Der oben genannte verschnupfte Tonfall der Entscheidung spricht leider eine andere Sprache.

Aber: Unfehlbar ist das Gericht eben nicht.

Vergangene Kontroversen

Wie stark das Gericht inzwischen politisiert ist, zeigt sich am Streit der vergangenen Wochen. Es zeigte sich aber auch schon mit der Wahl von Stephan Harbarth, dem der Vorwurf von Verstößen gegen das Abgeordnetengesetz gemacht wurde und der ferner in die Kritik geriet, weil er vorher als Rechtsanwalt tätig war. Auch die 2023 turnusmäßig am Ende der zwölfjährigen Amtszeit ausgeschiedene Richterin Susanne Baer sorgte seit ihrer Ernennung für zahlreiche Kontroversen. Viele Fachleute sprachen der Genderforscherin schlicht die Eignung für das höchste deutsche Richteramt ab. Eine sehr starke Politisierung des Gerichts bringt auch das neue Gesetz zur Wahl der Bundesverfassungsrichter von 2024 mit sich. Zahlreiche Kritiker sehen diese Regelungen vor allem deshalb so kritisch, weil ein vom Bundestag nicht gewählter Kandidat einfach später vom Bundesrat gewählt werden kann. Kaum war das Gesetz verabschiedet und wesentliche Punkte davon in der Verfassung verankert, wurde schon wieder Kritik daran geübt, weil es am Ende Blockaden und Ränkespiele doch nicht verhindern könne. Von Forderungen, der Bundespräsident solle im Falle von Blockaden ernennen, bis hin zur Mitwirkung des Gerichts selbst, gehen weitere Vorschläge zur Bestimmung der höchsten Richter im Land. Allein diese Beispiele zeigen, wie wenig sachgerecht die Kritik von Polenz ist. Die Gefahr einer parteilichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist nicht nur virulent, es hat sie in der Vergangenheit gegeben. Nicht nur Donald Trump in den USA oder Victor Orban in Ungarn versuchen sich die jeweiligen höchsten Gerichte gewogen zu machen. Die sehr starke politische Profilierung der SPD-Kandidatinnen im Vorfeld ihrer Nominierung sollten bei jedem die Alarmglocken klingeln lassen. Nicht nur die Gefahr der Politisierung des Ernennungsverfahrens, sondern die Gefahr der Politisierung des Gerichts selbst droht uns und damit nichts Geringeres als politische höchstrichterliche Urteile. Deren Folge wären dann möglicherweise, dass der Satz: „Hier irrt das Bundesverfassungsgericht“ eine Straftat darstellte.

Kritisierbarkeit als Grundbestandteil der freiheitlichen Ordnung

Das hier Gesagte und Gezeigte, nämlich die grundsätzliche Kritisierbarkeit eines Verfassungsorgans – auch hinsichtlich seiner personellen Zusammensetzung und seiner Entscheidungen – sind und bleiben Grundbestandteile einer freiheitlichen Ordnung. Wer anfängt diese Möglichkeit zu unterminieren, unterminiert die Freiheit selbst. Nicht die Kritik beschädigt ein Verfassungsorgan, sondern wenn sich die Inhaber der Amtsgewalt oder diejenigen, die diese im Auftrag des Souveräns auszuwählen haben, sich über Kritik erhaben machen zu können glauben, dann wird das Verfassungsorgan beschädigt, weil nur die Freiheit des Souveräns der wahre Garant der Würde der Verfassungsorgane ist. 


Peter Winnemöller
Journalist und Publizist. Autor für zahlreiche katholische Medien. Kolumnist auf dem Portal kath.net. Im Internet aktiv seit 1994. Eigener Weblog seit 2005. War einige Jahre Onlineredakteur bei „Die Tagespost“. Und ist allem digitalen Engagement zum Trotz ein Büchernarr geblieben.

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