Apokalypsen ereilen uns manchmal über Nacht mit Krieg und Umweltkatastrophen. Andere kommen langsam, wie schleichendes Gift. Helmut Müller über das Verschwinden der katholischen Kernkompetenz, als die moderne Bedrohung unserer Kirche.

Die Welt scheint aus dem Geleise gesprungen und den Fugen geraten zu sein. Putins Krieg hat eine Zeitenwende eingeläutet. Egal wo man hinschaut, in die Gesellschaft, die Politik und auf die Politiker, in die Kirche, ins eigene Herz, in die Zukunft, selbst wenn man auf die Wetterkarte schaut, überall kommt Angst auf, die man als Christ eigentlich nicht haben darf.
Vor Jahrzehnten schon sprach Eugen Biser von einem Zeitalter der Angst, das auch die Kirche befallen hätte, ohne die reale Gefährdung dieser Tage auch in unseren Breiten, insbesondere jene der Christen überhaupt, geahnt zu haben. An dieser Stelle abseits von ARD-Brennpunkten soll aber von einer anderen Angst die Rede sein – der Angst vor dem Verschwinden der Kernkompetenz des Katholischen.

Gute Ängste, schlechte Ängste

Andererseits darf man heute durchaus auch Angst haben, die Moderne hat aber offenbar ihre Unterscheidung in die richtigen und falschen Ängste. Besonders geschätzt wird, als Mann zu bekunden, nicht immer mutig und stark, sondern auch mal ängstlich und schwach zu sein. Auf keinen Fall aber darf man hingegen als Christ Angst haben vor der modernen Gesellschaft und ihrem Geist; erst recht nicht vor Kirchenmännern- und frauen, die von diesem Geist kaum noch zu unterscheiden sind.
Das Etikett Modernisierungsverlierer, ewig Gestriger usw., wartet auf alle, die es wagen, diese Angst dennoch zu zeigen. Ich bin nun mutig und gestehe: Ich besitze diese Angst. Halt in meiner Ängstlichkeit finde ich aber bei Jeremia, der in seiner Zeit ebenfalls ein Modernisierungsverlierer gewesen sein muss. Denn vor der modernen Theologie seines Widerparts Hananja – am Vorabend der hereinbrechenden babylonischen Apokalypse – muss es ihm gegraut haben.

Apokalypseblindheit der Neuzeit? (Günther Anders)

Hananja verkündete nämlich plakativ das Heil, eine Frohe Botschaft, eine angstfreie Zukunft und den Beistand eines menschen(israel)freundlichen Gottes, alles Termini auch gegenwärtiger Theologie. Jeremia dagegen verkündete das Heil durch Gericht hindurch, nach einer Zukunft in Ketten, verborgen in einer Drohbotschaft – und hat damit Recht behalten.
Jeder Vergleich hinkt, auch der eben konstruierte. Was an diesem Vergleich stimmt, ist der Hinweis, dass das gerade Moderne nicht immer schon das Wahre, und Angst nicht immer ein schlechter Ratgeber sein muss. Schon der Philosoph Günther Anders beklagte in den fünfziger Jahren den platten Fortschrittsglauben seiner Zeit als Apokalypseblindheit.
Und Hans Jonas wies darauf hin, dass das Unheil nicht immer mit Brachialgewalt durch die Tür brechen müsste, wie Putins Krieg es gerade jetzt zeigt und es deshalb vor ARD-Brennpunkten und ZDF-Spezials nur so hagelt, sondern sich auch heimlich auf tausend Wegen verschwiegen durchs Fenster hereinstehlen könne. (Also nicht durch Krieg, politische oder Naturkatastrophen, aber vielleicht heimlich durch säkularen Geist und die fundamentalistische Reaktion darauf, wie Gilles Kepel in seinem Buch Die Rache Gottes andeutete.)
Wie Jeremia waren Anders und Jonas Juden, sowie der gegenwärtige Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, übrigens auch. Wenn jemand apokalypse-erfahren ist, dann sind es Angehörige dieses Volkes.

Die verborgene Apokalypse – das Schwinden der Kernkompetenz des Katholischen

Jede Zeit hat ihre verborgene Apokalypse, die irgendwann zu Tage tritt. Wenn man tatsächlich daran glaubt, dass der Glaube an Christus das Heil ist, ist dann der rasante Verfall des Glaubens in westeuropäischen Gesellschaften und neuerdings auch in den USA nicht apokalyptisch zu nennen? Und sind nicht gerade dort, wo die Theologie am modernsten ist oder war, zum Beispiel in Holland und in evangelischen Landeskirchen, die Austrittszahlen am höchsten und die christliche Vitalität am geringsten?

Wir sind in Deutschland gerade dabei uns diesem Trend anzuschließen: Kirchenaustritte gehen regelrecht durch die Decke. Aber katholisch.de berichtet nahezu antizyklisch und unverdrossen: „105 Bewerber auf 45 Plätze. So viele ZdK-Kandidaturen wie noch nie“.
Die Katholikenzahl weltweit steige, ist auch zu lesen. Was ist eigentlich in Deutschland los? In ihrer Kernkompetenz wird Kirche nicht mehr gesucht. Das hat ein Virus aus China ganz unübersehbar gezeigt. Dafür gibt es aber einen Run auf Posten in ihrer Laienvertretung, ihre Bischöfe sind hingegen kompromittiert.

Ein des Konservatismus ganz unverdächtiger Zeuge hat dies Schwinden der Kernkompetenz schon vor Jahren bemerkt und vorhergesagt. Die Rede ist von Karl Rahner: „Unsere größte Sorge, dass Gott angebetet und geliebt wird.“[1] Den gegenwärtigen Tiefpunkt der Glaubenskrise hat das aktuelle Bunte-Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing gerade gezeigt, eine kaum zu überbietende, populistische Verbeugung vor dem Zeitgeist.

Sich fürchten oder Angst zu zeigen muss also nicht schon, wie Biser zu vermitteln sucht, von vorneherein offenbaren, dass man auf der falschen Seite steht. Wenn gewisse Gläubige meinen, dass das hölzerne Joch Roms, wie Hananja bei Jeremia, durch Franziskus zerbrochen worden sei und in Deutschland erst gar nicht getragen wird – könnte nicht eher ein eisernes Joch von woanders her drohen, das sich nicht zerbrechen, sondern nur noch ertragen lässt?

Wenn Modernisierungsgewinner den Glauben der Kirche verlieren

Was tut die Mehrheit der deutschen Bischöfe dagegen, dass das Salz des Heiligen schal wird und der säkularen Gesellschaft auf ihrem Weg in den Abgrund des nur noch Profanen folgt? Ist es nicht bedenklich, wenn immer mehr zeitgenössische Theologien, moderne Agnostiker wie Derrida, Foucault und Judith Butler als Paten haben? Nichts gegen Alt-Agnostiker wie Heidegger und Bloch, solange sie nicht die westlichen und östlichen Kirchenväter, die zum Beispiel im Zentrum der Theologie Hans Urs von Balthasars und Henri de Lubacs stehen, ersetzen. Was ist eigentlich damit gewonnen, wenn man sich einerseits Modernisierungsgewinner nennen kann, aber andererseits den Glauben der Kirche verliert?

Ein wenig Apokalypse – um mit Jonas zu sprechen – stiehlt sich so durch die heutige Ausbildung unserer Theologen bis ins Herz der Kirche. Ist das nicht ein Grund, Angst zu haben?

Katholische Kirche im alten Wortsinn, „der Wiederkunft des Herrn entgegenreifend“ (I. F. Görres)

Ich bin jedenfalls so sehr Christ, dass ich nicht der Angst das letzte Wort lassen will und daher mit den ermutigenden Worten Ida Friederike Görres (+1971) enden möchte:

„Wie, wenn den Rebellen wirklich die Zukunft gehörte?…Leben wir auf einem lecken, zollweise versinkenden Schiff, von dem nicht nur die Ratten, sondern einfach die Vernünftigen, Nüchternen rechtzeitig abspringen? Wer gibt uns Antwort in solchen Stunden? Wen dürfen wir noch fragen? Nur die Kirche selbst. … Die Kirche: das Wort freilich im alten Vollverstand gebraucht, der nicht bloß den zeitlichen Ausschnitt der heute lebenden Katholiken meint, nicht ein System, eine Idee, eine Ideologie, eine Struktur, eine Gesellschaft, sondern das ungeheure Lebens-Gebilde, das von den Aposteln bis heute existiert, seine Geschichte erfüllend von Jahrhundert zu Jahrhundert, wachsend, sich entfaltend, kämpfend, erkrankend, genesend, sein Schicksal bestehend und der Wiederkunft des Herrn entgegenreifend“.

 

[1] Kapitelüberschrift in: Karl Rahner: Sämtliche Werke, Band 31, bearbeitet von Albert Raffelt. Freiburg 2008

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von Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag.

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