Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Der erhöhte Menschensohn
Evangelium zum Fest der Kreuzerhöhung Joh 3, 13-17
Fünf Verse aus dem Johannesevangelium liest die Kirche am Fest der Kreuzerhöhung. Sie umschließen das Geheimnis des Heils. Himmel und Erde, Menschwerdung und Erhöhung, Verlorenheit und ewiges Leben. So strahlt das Kreuz des Menschensohns auf, der gekommen ist, zu retten und nicht zu richten. Glauben wir dem Vater, der uns so seinen Sohn schenkt!
Der Menschensohn
Der „Menschensohn“ ist eine geheimnisvolle Gestalt aus dem Buch Daniel (Kap. 7). Einer, „wie ein Menschensohn“ wird zu dem Uralten, von Ewigkeit her Thronenden, auf den Wolken des Himmels erhöht, um ewige Herrschaft auszuüben:
„Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.“ (Dan 7, 13f.)
Ist das eine einzelne Gestalt oder ein Kollektiv? Ihm voraus gehen vier tierische Gestalten, die die Macht weltbeherrschender Imperien repräsentieren. Der Tiercharakter weist buchstäblich auf die Un-Menschlichkeit dieser Herrschaft hin. Im Menschensohn nimmt Herrschaft menschliche Züge an, sie bleibt und sie hat ihren Ursprung in dem „Uralten“ – in Gott. Der Menschensohn ist also eine himmlische Gestalt, die menschlich herrscht und dabei den „Uralten“ endgültig repräsentiert. Sie ist der Gegenentwurf Gottes zur Unmenschlichkeit der Tiergestalten.
Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht der Anbruch von Gottes königlicher Herrschaft, der Herrschaft seines Vaters, die er, der Sohn, zu verwirklichen beginnt. Sie ist genau so offenbar und genau so verborgen, dass die durch sie Berührten in der durch Gnade befreiten Freiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung darauf antworten können. So ist sie durch das Menschsein, das Jesus angenommen hat, vermittelt. Der Mensch Jesus ist selbst das Sakrament von Gottes königlicher Herrschaft. In ihm und durch ihn gelangt sie wirksam zu uns Menschen. Und so verwundert es nicht, dass, wenn Jesus von sich redet, er oft in geheimnisvoller Weise in dritter Person vom „Menschensohn“ geredet hat: Gottes königliche Herrschaft ist in ihm zugleich zutiefst menschlich, offenbart endgültig den Menschen und bringt die Menschlichkeit des Menschen zur Blüte.
Allerdings offenbaren sich in der Begegnung mit ihm auch unsere Abgründe und die Verlorenheit, in der wir ohne ihn leben. Sie werden ihn ans Kreuz bringen. So bekommt der Titel des Menschensohns, der sein „Lieblingstitel“ ist, im Mund Jesu neue Dimensionen. Er ist nicht nur himmlische Herrscher- und Richtergestalt, sondern auch der Menschensohn, der etwa keinen Ort hat, wo er sein Haupt niederlegen kann – und eben auch der, der durch die Hand der Menschen Leiden und Tod erfahren wird. Das trägt eine Kontrapunktik in die ohnehin geheimnisvolle Gestalt, die ihr Geheimnis noch viel größer macht: Die himmlische Herrschergestalt wird durch den abgründigen Missbrauch irdischer Macht zu Tode kommen. Was bedeutet das? Aber auch das ist noch nicht das letzte Wort: Denn die Liebe des Vaters zu dieser verlorenen Welt und zu jedem Einzelnen darin wird größer sein als die mörderischen Abgründe ihrer Verlorenheit – und sie wird am Ende siegen. Davon handelt unser Evangelium. Die Verse sind dem Nachtgespräch mit Nikodemus entnommen. Und dort, wo die Verse einsetzen, wird Jesus visionär und grundsätzlich. So hat man diese Passage schon den „Monolog über den Menschensohn“ genannt.
Der Menschensohn zwischen Himmel und Erde
Viele schon haben den Himmel auf Erden versprochen, den Himmel, wo göttliches Leben, göttliche Fülle und göttlicher Sinn ihr Zuhause haben – aber nur einer öffnet ihn wirklich: Der, der wirklich aus der Verborgenheit und Vorbehaltenheit Gottes herabgestiegen ist, er allein vermag auch hinaufzusteigen. Das ist eine ganz grundsätzliche Aussage: Niemand ist hinaufgestiegen, außer dem, der aus dem Himmel kam: Jesus, der Menschgewordene, ist der einzige Mittler zwischen Himmel und Erde, den Menschen und Gott.
Der Menschensohn am Kreuz erhöht
Aber um den Himmel zu öffnen, muss der Menschensohn ganz und gar eingehen in die Verlorenheit dieser Welt. Und an den gewalttätigen Abgründen ihrer Verlorenheit sterben. Auch in den ersten drei Evangelien schwebt dieses geheimnisvolle „Muss“ (griech. dei) des väterlichen Plans über der Existenz Jesu. Im Johannesevangelium ist die Erhöhung am Kreuz ebenso geheimnisvoll verschränkt mit Jesu Erhöhung zum und beim Vater. Diese Erhöhung ist – analog zur erhöhten Kupferschlange in der Wüste, die schon im Buch der Weisheit Heilszeichen wird – Erscheinung der Liebesherrlichkeit Gottes. Im Menschensohn Jesus begibt sich Gott ganz real in die letzten Abgründe der Verlorenheit – und bricht sie auf zum ewigen Leben. Wer glaubt, gewinnt Anteil an diesem Leben. So schließt die Mittlerschaft des Menschensohns den Weg in den Abgrund ein, um inmitten der Todesverlorenheit des Menschen wirksam zu werden: Inmitten der Verlorenheit steht am Kreuz Jesu der Himmel wieder offen!
Die Liebe des Vaters durch den einzigen Sohn
Jetzt wechselt die Perspektive! In zwei Begründungsgängen, jeweils durch „denn“ eingeleitet, wird der Blick auf Gott, den Vater, gerichtet. Dieser Perspektivwechsel wird auch darin sichtbar, dass jetzt nicht mehr vom „Menschensohn“ die Rede ist, sondern vom „einzigen Sohn“ und von „seinem Sohn“. Der Menschensohn ist der ewige Sohn Gottes – und Menschwerdung und Kreuz haben ihren Ursprung in und geschehen aus der Intimität von Vater und Sohn. Motiv, Mittel und Ziel des väterlichen Handelns werden hier in einer einmaligen Dichte und Klarheit ausgesprochen: Motiv ist die unbegreifliche Liebe zu dieser verlorenen Welt, das Mittel Hingabe und Sendung des einzigen Sohnes, das Ziel die Rettung aus der Verlorenheit zur Fülle des ewigen Lebens für die, die glauben.
„Welt“ ist im Johannesevangelium der in der Sünde verfinsterte Kosmos, „Welt“ ist das, was in seiner Gewalttätigkeit am Ende den Sohn tötet – und dennoch sendet und gibt der Vater den Sohn, lässt ihn als Menschensohn hineingehen bis in die tiefste Verlorenheit, nicht entrückt, sondern in innerster Beteiligung der Liebe. Nicht zu richten sendet er ihn, sondern zu retten, weil er diese verlorene Welt liebt, die doch seine Schöpfung ist und alle seine Kinder darin, die er nicht aufhören kann zu lieben. Spüren Sie, liebe Leserinnen und Leser, das Wunder und das Geheimnis?
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.

