Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.

Wann ist ein Gebet ein Gebet?
Auslegung des Evangeliums vom 30. Sonntag im Jahreskreis C Lk 18, 9-14

Pharisäer und Zöllner im Tempel. Bin ich froh, dass ich nicht so bin, wie dieser Pharisäer da? Wie komme ich aus dieser Falle heraus, die die Fehlhaltung nur eine Schraube weiter dreht? Was geht beim Pharisäer schief? Was „gelingt“ beim Zöllner? Nur einer geht „gerechtfertigt“ nach Hause – Gottes Urteil. Was lehrt uns Jesus damit über das Gebet?

Die Fortsetzung der Gebetskatechese

Lukas zeigt uns besonders den Jesus, der betet und seine Jüngerinnen und Jünger zum Beten anleitet. Am letzten Sonntag ging es um das eindringliche, nicht nachlassende Beten: Der gute Gott wird seinen Erwählten Recht in ihrer Bedrängnis verschaffen – zuletzt durch das Kommen des Menschensohns. Und die Frage Jesu lautete: Wollen wir den vertrauenden Glauben wagen? Oder wird dieser Glaube erstorben sein, wenn Jesus kommt? Die Offenheit der Frage stellt uns in die Entscheidung für das Wagnis des Glaubens. Das Gleichnis vom ungerechten Richter ermutigt uns, den Weg des Gebets zu gehen.

Am 30. Sonntag des Lukasjahres wird diese Gebetskatechese fortgesetzt. Jesus macht uns aufmerksam, wieder einmal in einer kurzen Beispielszene, die er in meisterhafter Ökonomie und Prägnanz erzählt, auf zwei völlig unterschiedliche Haltungen im Gebet. Man darf es schon hier vorwegnehmen: Die eine blockiert, die andere ermöglicht die Gottesbeziehung. Dabei geht es aber nicht allein um den Hinweis auf die Regeln und Normen rechten Betens und ihre Verfehlung. Wer sagen würde, es gehe um Demut und Hochmut, falsche Selbstgerechtigkeit und Sündenbekenntnis, religiöses Leistungsdenken und die Rechtfertigung des Sünders, der, im Gegensatz zum religiösen „Leistungsträger“, nichts vorzuweisen hat außer seine Sünde – der hat wesentliche Themen unseres Evangeliums völlig richtig benannt. Und doch dringt Jesus noch tiefer: Durch seine meisterlich-göttliche Erzählkunst offenbart er uns die existentielle „Logik“ hinter diesen Worten, zeigt uns zwei Weisen des Existierens (einschließlich der Leiblichkeit) und des Bewusstseins, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Gott kann an der einen Haltung in schöpferischer Vergebung handeln, die andere Haltung verstellt genau dies. Hier wäre Handeln letztlich Vollzug des Gerichts (so lange es dabei bleibt), vorerst aber nachgehende Geduld. Das Paradox: Der religiöse „Leistungsträger“ ist letztlich unfähig zum rechten Gebet, blockiert durch eben seine „Leistungen“. Den religiösen „Habenichts“ führt gerade seine Armut in die Haltung, in der Gott „rechtfertigend handeln“ kann, d.h. dem Sünder die lebenstiftende Beziehung zu ihm neu schenkt.

Gerechtigkeit, Selbstvertrauen und Verachtung

Der einleitende Satz des Lukas benennt mit der Gruppe der durch Jesu Erzählung Adressierten zugleich den thematischen Brennpunkt: Wie ist oder wie wird man gerecht – und zwar vor Gott? Und woher weiß ich, dass ich es bin? Wenn hier das Stichwort „Gerechtigkeit“ fällt, dann geht es nicht allein um eine ethische Haltung, die rein horizontal wäre. Sondern – aus dieser Haltung und nicht davon zu trennen – um das rechte Gottesverhältnis: Dass ich durch mein Handeln treu in der Gemeinschaft des Bundes stehe, die Gott mir als Glied des Gottesvolkes (sozusagen „vertikal“ und „horizontal“) geschenkt hat. Die besonders Angesprochenen sind nun solche, „die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren“. So übersetzt die Einheitsübersetzung durchaus sinngemäß. Der griechische Text ist noch viel sprechender, aber schwer elegant zu übersetzen. „Die, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren“ sind – ziemlich wörtlich – „Vertrauende auf sich selbst, dass sie gerecht seien“ und „Verachtende die übrigen“. Tatsächlich bringt Lukas hier die Haltung des einen Protagonisten in Jesu Erzählung exakt auf den Punkt: Hinsichtlich der Gerechtigkeit vor Gott vertraut der Pharisäer auf sich selbst – und verachtet die anderen. Beides – bis in die grammatische Konstruktion im griechischen Original – scheint parallel miteinander gegeben zu sein: Das Selbstvertrauen hinsichtlich der Gerechtigkeit vor Gott und die Verachtung letztendlich aller anderen Menschen.

Ernstfall Gebet

Die Frage der Gerechtigkeit vor Gott hat in der Gleichniserzählung aber ihren ganz besonderen Ort im Gebet. Denn das Gebet ist der Ernstfall der Gottesbeziehung. Und das Gebet betrifft den ganzen Menschen, weil die Beziehung zu Gott nicht ein Nebenthema ist, sondern die alles bestimmende Herausforderung für jeden Menschen. Auch wenn er das erst entdecken muss und es nicht eine selbstverständliche Gegebenheit ist. (Indifferenz ob dieser Herausforderung entsteht allerdings dann ganz sicher, wenn die Verkündigung der Kirche ihre Botschaft in Banalität ertränkt, und damit die Herausforderung völlig unsichtbar wird und somit überhaupt nicht mehr als fordernd und zugleich unendlich lohnend wahrgenommen werden kann. Wen soll das dann interessieren? Man mag mir widersprechen und meine Erfahrung „bloß anekdotisch“ schimpfen. Aber leider ist dieses Ersticken in Banalität dann doch eine so breite Erfahrung, die nicht nur ich mache, dass alles dafür spricht, dass es nicht Zufall ist. Ich hätte es gern anders. Aber die These, wir wären „bestens aufgestellt“, stießen aber dennoch auf Indifferenz, kann ich nicht teilen. Meine tägliche Kirchenerfahrung ist leider durchgehend anders. Nur das zur falschen Rezeption des klugen und lesenswerten Buchs von Jan Loffeld.) Gebet soll immer mehr die ganze Existenz vor Gott bringen. Das ist Wachstumsweg aus Übung und Gnade zugleich. Das ist ein Weg der Integration, der Sammlung und der immer tieferen Ausrichtung auf die Gegenwart Gottes. Ein Weg, der Herz (die Mitte der leib-geistigen Person) und Hirn, Zunge und Leib zusammenbringt. Ein Weg, auf dem Gott wirkt und wir Verwandlung erfahren. Und in dem eben der ganze Mensch da ist. In wachsender Integration und Sammlung vor Gott – oder in bleibender Desintegration und Zerstreuung bei sich selbst. Der Pharisäer (übrigens: dieser Pharisäer und nicht alle Pharisäer, genau so, wie dieser Zöllner und nicht alle Zöllner) bleibt in erschreckender Weise bei sich selbst. Und deshalb scheitert der Repräsentant der damaligen „Hochreligiösen“, den ich zugespitzt einen „religiösen Leistungsträger“ genannt habe, am Ernstfall des Gebets.

Woran scheitert der Pharisäer? Wieso kann der Zöllner gerechtfertigt werden?

Die Erzählung Jesu lädt uns zur genauen Beobachtung ein: Was passiert hier eigentlich? Am besten, wir sammeln und vergleichen unsere Beobachtungen!

  • Pharisäer und Zöllner wollen im Tempel beten. Der Tempel ist der Ort, wo Gott seinen heiligen Namen wohnen lässt und deshalb in besonderer Weise anrufbar ist. Der Tempel ist auch Ort der Sündenvergebung.
  • Pharisäer wie Zöllner sind repräsentative Figuren:
    Der Pharisäer als Mitglied einer hochreligiösen Elite, die sich um der Heiligung Israels willen einer besonders intensiven Form des Toragehorsams verschrieben hatte; Der Zöllner als Mitglied einer Gruppe, deren Angehörige schon auf Grund ihres Berufs als öffentliche Sünder verachtet waren, weil sie die Lizenz dazu von den Römern, der Besatzungsmacht, pachten mussten und ihren eigenen Lebensunterhalt durch zusätzliche Abgaben über den festgesetzten Tarif hinaus verdienten – mit dauernder Tendenz zu Willkür und Ausbeutung. 
  • Nur ganz knapp, aber sehr sprechend, wird die Gebetshaltung des Pharisäers charakterisiert. Ausführlich dagegen ist die Charakterisierung beim Zöllner. Umgekehrt ist sein Gebet denkbar kurz, beim Pharisäer dagegen im Verhältnis ziemlich ausführlich.
  • Bei der Gebetshaltung heißt es beim Pharisäer nur, dass er sich hinstellte. Stehend zu beten war üblich. Dennoch ist, gerade wieder im Vergleich mit dem Zöllner, diese knappe Charakterisierung wirklich sehr sprechend. Man wird – motiviert durch das, was  und wie er es dann sagt – vielleicht nicht so weit gehen, hier ein besonderes Selbstbewusstsein, ja eine gewisse „Breitbeinigkeit“ zu erkennen. Aber man kann sicher sagen: Der Pharisäer nimmt mit großer Selbstverständlichkeit im Heiligtum „seinen“ Platz ein, denn er geht davon aus, dass er einen hat, der ihm auch zukommt. Der Zöllner dagegen weiß nicht, wohin mit sich und seinem Blick. Er sucht den Ort der Vergebung. Aber er fühlt, dass er in seiner Sündhaftigkeit im Bereich des Heiligen eigentlich keinen Ort hat, seine Gegenwart „unangemessen“ ist. So bleibt er so weit wie möglich zurück, wagt nicht den direkten Blick zum Himmel als dem Ort des heiligen Gottes. Im Niederschlagen der Augen drückt sich das Bewusstsein aus, dass er kein Anrecht auf den direkten Kontakt hat, dass er ihm erst gewährt werden muss. Und im Schlagen an die Brust wird auf jede Selbstbehauptung vor Gott von vornherein verzichtet.
  • Bleiben wir zunächst beim Gebet des Zöllners. Es ist sehr einfach. Ein Satz: die Anrufung Gottes und die Bitte um Gnade für ihn, den Sünder. Das Gebet zerfasert nicht. Es ist ungeheuer konzentriert. Der Zöllner versammelt die ganze Not seiner Existenz in diesen einfachen Satz. Und so kommt er über sich hinaus und hält sich dem lebendigen und heiligen Gott hin. Er bleibt nicht bei sich, sondern öffnet sich auf den in seiner Gnade und verzeihenden Zuwendung freien Gott. 
  • Auch sprachlich drückt sich das aus: In seiner Anrufung des gnädigen Gottes ist Gott Subjekt. Dagegen ist im Gebet des Pharisäers ausschließlich er selbst Subjekt: Ich, Ich, Ich! Der anfängliche „Dank“ geht in dieser Ich-Orgie geradezu unter – und erweist sich als leere Floskel. Denn eigentlich führt der Leistungsträger „seine“ Leistungsbilanz vor. Sein Gebet ist nicht gesammelt auf Gott hin, sondern zerfasert in Aufzählungen: Alles, was er nicht ist, und die Werke der Übergebühr, die er leistet. Tatsächlich gehen die Werke des Fastens und der Verzehntung über die Tora hinaus. Man hat das Gefühl: Wie einen Bauchladen trägt er seine „religiösen“ Leistungen vor sich her.
  • Schließlich, aber nicht zuletzt: Bei unserem Pharisäer ergibt sich das „Vertrauen auf sich selbst“ (von dem Lukas eingangs gesprochen hat) durch Vergleich. Um seiner selbst als gerecht vor Gott sicher zu sein, muss er sich abgrenzen. Er muss Gott sagen, was er alles nicht ist: kein Räuber, Betrüger und Ehebrecher. Und auch nicht „wie dieser Zöllner dort“. Das ist der Höhepunkt der Erzählkunst Jesu in diesem Gleichnis! Wir sind urplötzlich im realen Raum. Der Pharisäer grenzt sich nicht nur von abstrakten Klassen von Sündern ab. Sondern seine Augen finden den Zöllner. Und seine Verachtung trifft ihn, den konkreten Menschen. Das ist absolut entlarvend. Nicht nur, weil deutlich wird, dass sein Vertrauen auf sich, gerecht vor Gott zu sein, tatsächlich von der Verachtung lebt, von der negativ-lieblosen Abgrenzung, sondern auch weil man fragen muss: Wo sind Deine Augen? Wo ist Deine Aufmerksamkeit? Wo eigentlich bist Du?

Das Gebet des Zöllners und das Pseudo-Gebet des Pharisäers 

Wenn man so will: Das demütige Gebet des Zöllners durchdringt pfeilschnell die Wolken und gelangt vor den Thron Gottes. Es führt ihn wirklich über sich hinaus, in die Offenheit gegenüber dem freien Gott der Gnade. Es hält sich in diese Freiheit hinaus. In seiner Sündennot hat der Zöllner seine ganze Existenz in dieses Gebet hineingelegt. So kann Gott an ihm handeln, kann ihn schöpferisch gerechtsprechen, ihn in die Gemeinschaft des Bundes neu aufnehmen. Der Zöllner schaut nicht rechts und nicht links. Er schaut auch nicht auf sich selbst. Er schaut auf Gott und erhofft seine Barmherzigkeit. Er vertraut dieser Barmherzigkeit und nicht sich selbst.

Der Pharisäer lebt aus der Abgrenzung und aus der religiösen Leistung. Beides hält er Gott entgegen. Die Abgrenzung steigert sich bis zur Lieblosigkeit der Verachtung. Die Leistung trägt er wie einen Bauchladen vor sich her. Kann man so Gott und den Nächsten lieben? Oder verstellt man sich so gerade die Beziehung zu Gott und zum Nächsten? Der Pharisäer bleibt im Versuch zu beten völlig auf seine Selbstrechtfertigung fixiert. Er bleibt in seinem „Ich“ verstrickt und kommt nicht von sich los. Deshalb scheitert er im und am Gebet.

Deshalb: Schau nicht rechts und links, wenn du betest. Schau auch nicht auf dich. Schau auf Gott, schau auf Jesus. Vergleich dich nicht. Wisse: Du bist ein unnützer Knecht. Wisse: Du hast es gar nicht nötig, auf dich selbst zu vertrauen. Du kannst vor Gott absolut ehrlich sein. Denn Gott ist heilig und barmherzig und er will dich rechtfertigen und dir in der Gemeinschaft des Bundes immer neu Leben schenken. Halt dich ihm im Gebet hin, deine ganze Existenz. Denn er ist einfach nur gut und er liebt dich. 

Der Pharisäer ist fast karikaturhaft gezeichnet. Jesus tut dies, damit wir die Struktur der Fehlhaltung, die das Gebet des Pharisäers letztlich zum Pseudogebet macht, möglichst plastisch wahrnehmen – oder uns schmunzelnd (Jesus lächelt auch) selbst bei ihr erwischen: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie der Pharisäer im Evangelium bin ….


Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


Um weitere Beiträge aus der Serie Fridays for FAITH zu lesen, klicken Sie hier

Melden Sie sich für unseren Newsletter an