Bürgerkrieg in der Kirche? Ein Wechselbad der Gefühle für Konservative und Modernisten gleichermaßen. Der Papst: Menschenfeind oder Häretiker? Die Kirche: Wachstum oder Zusammenbruch? Es brennt lichterloh in der Kirche. Chaos scheint ausgebrochen. Bernhard Meuser wagt einen Blick aus der Vogelperspektive.

Über Papsttreue in schwierigen Zeiten

Noch vor wenigen Wochen hatte ich den Eindruck: Da baut sich eine Welle der Orthodoxie auf. Endlich erwacht eine in fünfzig Jahren eingeschlafene Kirche aus ihrem Phlegma. Von Tag zu Tag schien sie stärker zu werden, die Phalanx derer, die sich ein neuerliches Schisma, eine zweite, von deutschem Boden ausgehende „Reformation“ nicht gefallen lassen wollten. Endlich – in der Stunde eines nahezu kollektiven Versagens von Bischöfen – kommt Lumen Gentium zur Entfaltung; endlich schlägt der „übernatürliche Glaubenssinn des ganzen Volkes“ durch. Endlich übernehmen einfache Gläubige ihren Job für die „Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche“ und tragen bei zum „Wachstum und zur ständigen Heiligung der Kirche.“

Mittlerweile denke ich: Wir stehen nicht nur vor einem Schisma von links („Der Papst ein Menschenfeind!“); es kommt noch eines von rechts hinzu („Der Papst ist ein Häretiker!“). Bald bleibt uns die freie Wahl zwischen drei „Kirchen“: zwei gegen den Papst, und eine zerzauste mit Papst. Die Welt brennt. Und als gäbe es nicht genug Krieg in der Welt, führt auch die Kirche noch Bürgerkrieg um ein Stück Papier aus Rom. Zerschlägt das Thema Homosexualität die größte Religionsgemeinschaft der Welt?

Einmal Flughöhe gewinnen

Wenn irgendwo das Chaos ausbricht ist die Vogelperspektive die hilfreichste. Man übersieht das Getümmel besser.

  1. Global gesehen, sieht sich die Welt mit einer zentralen säkularen Großideologie konfrontiert, die alle bisher in der Menschheitsgeschichte aufgetretenen kulturellen, anthropologischen, sozialethischen und religiösen Sortierungen der Geschlechterverhältnisse über den Haufen wirft. Diese Großideologie tritt unter verschiedenen Namen auf; einmal heißt sie „Sexuelle Revolution“, ein andermal „Gender“. Die Gewalt der Strömung resultiert aus dem Zusammenfluss von Psychoanalyse (Triebstruktur als „Herr im Haus“), feministisch gewendetem Neo-Marxismus (Sex ist Macht), antiessentialistischem Existenzialismus (der Mensch hat nicht Vorgegebenes – er ist, was er autonom bestimmt, zu sein) und fortgeschrittener Technik. Tatsächlich segmentiert die Erfindung der Antikonzeptiva die menschliche Sexualität, macht sie primär zu einer Lustfunktion mit Zusatznutzen wie Liebe und Fortpflanzung.
  1. Wir haben es mit einer wirklichen „Ideologie“ zu tun, nämlich einer interessengesteuerten Welt-Anschauung. Das gemeinsame Interesse besteht im Willen zur perfekten Inthronisation des Individuums. Das vereinigende Merkmal aller Zuflüsse in die Großideologie ist ihr atheistisch-humanistischer Grundzug. „Gott“ – und was immer er sein könnte: Schöpfer, Geber, Lenker, Ordner, Erlöser, Richter – erscheint als herumirrender Fremdkörper in einem System der Moderne, das keine Leerstelle mehr für ihn hat. Deshalb ist sein Schicksal heute die Organabstoßung. Im Horizont eines absoluten Freiheitsbegriffes ist Gott das „Toxische“ schlechthin.
  1. Dabei geht es den Menschen nach dem Ende der Scham, dem Abschied von den Wesensbegriffen Mann, Frau, Ehe, Familie, der Delegitimierung fast aller sozialen Regeln und Konventionen und der Leugnung der binnenlogischen Zusammenhänge von Sexualität, Liebe und Fruchtbarkeit schlechter denn je. Am Anfang aller Individualisierungsprozesse steht die Aufspaltung der Liebe in kleine Münze; an deren Ende steht die Einsamkeit. Dazwischen haben wir Dating-Apps, damit Verlassende zu Verlassenen finden. Die Kinder haben keine App, die ihnen ihre realen Eltern schenkt.

Die eigentliche Antwort der Kirche steht noch aus

  1. Auf diese Großideologie hat die Kirche noch keine angemessene Antwort gefunden. „Humanae vitae“ (1968), „Deus caritas est“ (2005), „Amoris laetitia“ (2016) und die nicht unverbindliche Skizze „Fiducia supplicans“ (2023) ersetzen keineswegs eine seit Jahrzehnten ausstehende große anthropologische Enzyklika, in der die Kirche sich den Realitäten der Liebe in den Zeiten ihres Ausverkaufs stellt, das Gute integriert und das Falsche verwirft. Jede Ideologie ist eine überzogene Reaktion auf ignorierte oder vergessene Wahrheiten. In dem, was alle tun, weil es alle tun, ist nicht alles falsch oder krass schuldhaft, sondern oft tragisch bedingt. Zudem darf sich eine Kirche, die vielerorts den Dienst authentischer Lehre (Katechese) nicht erbracht hat, nicht wundern, wenn auch Getaufte sich an den Parametern der gerade herrschenden conditio humana orientieren.
  1. Es mischen sich in der herrschenden Großideologie legitime Elemente mit fatal dehumanisierenden Annahmen. Tatsächlich sind Frauen in der Geschichte der Kirche in ihrer Würde missachtet worden. So war es beispielsweise nicht die Kirche, die das Wahlrecht für Frauen erfand. Tatsächlich hat sie sich zudem an der gesellschaftlichen Diskriminierung homosexueller Menschen beteiligt. „Out in church!“ kann man auch als Antwort darauf lesen, dass die Kirche in vielen katholischen Ländern für betroffene Getaufte in konfliktären Lebensumständen nur ein „Out of the church!“ parat hat. Tatsächlich hat man Ehepaaren das Recht auf die verantwortliche Bestimmung der Zahl ihrer Kinder bestritten. Tatsächlich betonte die Kirche über Jahrhunderte mehr ein Pflichtenkorsett, als dass sie zur Liebe befreite. Tatsächlich ging die Kirche zeitweise und vielerorts pharisäisch und bigott mit den „irregulären Situationen“ um. Es hilft den Menschen nicht, allein (und schroff) die unabänderliche Geltung der Lehre und die Sündigkeit der Verstöße zu betonen, wenn man gleichzeitig feststellen muss, dass sich 98 Prozent der Gläubigen – warum auch immer – daraus verabschiedet haben. Nüchtern betrachtet kann man auf ein Volk ohne Orthodoxie nicht mit einer Orthodoxie ohne Volk antworten. Zudem gibt es eine „Kirche der Reinen“ nur als fiktionale Sekte; das sollten wir spätestens in der Missbrauchskrise gelernt haben.

Die „Verkehrsregelungen des Synodalen Weges

  1. Das erkennend hat der deutsche „Synodale Weg“ in einem epochalen Fehlschluss einer Lösung das Wort geredet, wonach man die Lehre ändern wollte, weil man glaubte, das Leben nicht ändern zu können oder es nicht ändern wollte. Mit merkwürdig schriftfernen theologischen Konstrukten und unter Zuhilfenahme von unzureichenden „humanwissenschaftlichen“ Begründungen setzte man den Status quo (und oft genug die eigene biographische Betroffenheit) absolut, um in Schritt zwei noch nach stützenden Argumenten im traditionellen Material zu fahnden. Den unaufgelösten Rest vom Wort Gottes blendete man aus. Diese „Lösung“ wurde mit hinreichender Klarheit und kirchenrechtlich bindend vom Lehramt der Kirche zurückgewiesen. Der Rubikon katholischer Identität wird überschritten, wo geleugnet wird, dass der authentische Ort menschlicher Sexualität die unauflösliche, für die Fruchtbarkeit offene Ehe von Mann und Frau ist. Das zu leugnen ist häretisch, – linkshäretisch sozusagen.
  1. Der deutsche Versuch, die „Verkehrsregeln“ den Verkehrsgewohnheiten der westlichen Moderne anzupassen, gruppierte sich immer monotoner um die Frage nach dem göttlichen Wohlgefallen an homosexuellem Sex. Gegen die eindeutige Aussage des Römerbriefes an zentraler Stelle (nämlich in Röm 1,26-28), wo Paulus in gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen den sprechenden Ausdruck für die „Verfinsterung“ der natürlichen Vernunft und den Ausstieg aus den „Werken Gottes“ erkennt, suggerierte man der kirchlichen Öffentlichkeit, jede Form von „Liebe“ sei gottgewollt und gesegnet; es handle sich bei der Vielfalt sexueller Selbstverwirklichungen (worunter man sich vieles vorstellen darf) in Wahrheit nur um zu Unrecht verfemte Normvarianten aus dem schöpferischen Reichtum Gottes.
  1. Konsequent landete die theologische Fälschung bei dem, was man in der Kunst eine „Kontrafaktur“ nennt: unter Beibehaltung bestimmter Formelemente des Originals sollte ein neues Kunstwerk hervortreten: in sanften Annäherungen über unverdächtige liturgische Formulare sollte die „Ehe für Alle“ vor dem Traualtar der Katholischen Kirche etabliert werden. Das Lehramt der Kirche durchschaute das Stück und verbaute mehrmals, zuletzt in „Fiducia supplicans“, ex auctoritate und für immer jeden Versuch der Ergatterung einer eheanalogen Segenshandlung. In Wahrheit ging es nie um Segen, sondern um rituelle Absegnung, um eine schleichende Ermächtigung durch die Hintertür. Nicht wenige LGBTQI-Protagonisten machten keinen Hehl daraus, dass es aufs Ganze gesehen um die symbolische Stürmung der letzten Burg gegen die globale Sexuelle Revolution ging: … dass es da noch eine Instanz in der Welt gibt, ein letztes gallisches Dorf, das sich dem pansexuellen Dogma widersetzt.

Theologischer Frontalangriff auf das Zweite Gebot

  1. Über dem Mitleid für die armen Betroffenen, über die man doch bitte einen Segen fegen lassen könne wie sonst über Autos, Pferde und Kanonen, übersah man den theologischen Frontalangriff auf das Zweite Gebot und das Wesen dessen, was ein Segen ist. Der Segen ist eine Anrufung Gottes, die zur strikten Voraussetzung hat, dass der Segnende und die Gesegneten mit der Gnade Gottes das (und nichts Anderes) erlangen, was Gottes Wille ist. Kein Segen, der keine göttliche Intention in sich trägt. Dazu ist die Brandmauer des Zweiten Gebots errichtet: „Du sollst den Namen JHWHs, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn JHWH lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.“ (Ex 20,7/Dtn 5,11) Wer seinen Namen in falscher Absicht und unter falschen Vorzeichen (also blasphemisch) anruft, missbraucht den Gottesnamen; er sündigt direkt gegen Gott, und zieht das Gericht auf sich. Aus Segen wird Fluch.
  1. Im Zwielicht der laufenden Ereignisse war es hochgradig sinnvoll, ja notwendig, dass Papst Franziskus über sein „Glaubensdikasterium“ eine Präzisierung möglicher und unmöglicher Segenshandlungen von kirchlichen Amtsträgern ergehen ließ. Diese Präzisierung musste in zwei Richtungen erfolgen: Es mussten einerseits jede, eine „Eheschließung“ simulierende Segenshandlungen zurückgewiesen werden; zugleich musste der Eindruck vermieden werden, gleichgeschlechtliche Freundschaften seien in sich Sünde und fielen per se aus dem Raum göttlicher Gnade. Dem widerspricht schon KKK 2359, wo 1992 bereits vom Wert der Freundschaft die Rede ist – wo überdies (mit dem Segen des hl. Johannes Paul II.) die tugendethische Brücke gebaut wurde für einen legitimen Segen im pastoralen Kontext. Wer mit Betroffenen (und nicht über sie) spricht, erfährt von der größten Not der Betroffenen – nämlich ihrer Einsamkeit – und er erfährt von der Gnade einer Freundschaft, was häufig den ersten Schritt aus süchtigem Verfallensein an anonymen Sex bedeutet. Hier können sich zwei Menschen „durch das Gebet und die sakramentale Gnade Schritt um Schritt“ (KKK 2359) weiterentwickeln, um aus einer die Grenze des Gebots überschreitenden Freundschaft mit Sex in eine stimmige Freundschaft zu finden, die Wärme und Halt gibt, aber keinen Sex mehr braucht. In FS heißt es, dass der Segen für Menschen bestimmt ist, „die darum bitten, dass alles, was in ihrem Leben und in ihren Beziehungen wahr, gut und menschlich wertvoll ist, durch die Gegenwart des Heiligen Geistes investiert, geheilt und aufgerichtet wird“ (Nr. 31). Welcher wirkliche Priester würde nicht segnen wollen, dass Gott die Herzen der Freunde aufschließt und sie mit der helfenden Gnade Gottes führt, wohin sie geführt werden sollen?

Den „Tucho“ schlagen, um den Papst zu töten …

  1. Wer notorisch behauptet, der Papst habe den Boden des Lehramts verlassen, er segne die Sünde, sei somit ein Häretiker, hat das Dokument noch immer nicht gelesen oder er beweise den ungeheuerlichen Vorwurf endlich in ruhiger theologischer Sacharbeit aus dem Text. Die sich in dieser Weise gegen den Papst erheben, lasten sich eine schwere Bringschuld auf, – denn können sie die Anklage nicht belegen, sind sie Schismatiker und agieren auf dem gleichen Level wie die Schismatiker von der anderen Seite, die den Papst als „Menschenfeind“ beschimpfen. Beide Parteien verwechseln den nach vorne (in die menschliche und spirituelle Entwicklung und ins Heil) reißenden Segen, den die Kirche niemals Menschen verweigern darf auf welcher Etappe des Weges sie sich immer befinden, mit einer statuarischen Absegnung. Die gleiche Verkennung des Segens rechtsschismatisch wie linksschismatisch!
  1. Orthodoxie in der Kirche ist etwas Lebendiges und nicht der Schwarze Stein in der Kaaba, das Lehramt kein überzeitlicher Richtplatz für missliebige Inhaber des Petrusamtes, die „Tradition“, so Gustav Mahler, auch nicht „die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“. Niemand nimmt dem aktuellen, konkreten Papst die ungeheure Last ab, den Spagat zwischen dem Bekenntnis zur vollen Lehre der Kirche und der jesuanischen Forderung nach einer grenzenlosen missionarischen Hinwendung zu allen (!) Menschen zu versuchen. „Fiducia supplicans“ ist eine kühne Gratwanderung der Orthodoxie; der Papst fällt rechts nicht herunter und erst recht nicht links, obwohl ihn sein Weg mitten durch das Feldlazarett der Verwundeten führt. Er begegnet ihnen als Hirte. Wer jetzt meint, man müsse nur den „Tucho“ schlagen, um den Papst zu töten, wer gar meint, offene Rechnungen (etwa in Sachen „Traditionis custodes“) begleichen zu müssen, irrt sich in der Gelegenheit. Und wer denkt, es sei die Stunde gekommen, Papst Benedikt zur Inkarnation ewiger Unfehlbarkeit zu stilisieren und Papst Franziskus zur Mensch gewordenen Häresie, der beschädigt die Kirche und beschwört die übelsten Schwaden von Papsthass in den Sozialen Medien herauf. Ich bin mir sicher, dass die beiden zuletzt verstorbenen Päpste sich mit Grausen wenden würden, sähen sie, was derzeit gerade von denen betrieben wird, die sich sonst vor Papsttreue nicht einkriegen.

Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.


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