Kaum ist die vatikanische Erklärung über die Würde des Menschen erschienen, ertönen in Deutschland allerhand oberlehrerhafte Erklärungsversuche zur Erklärung, Deutungen sowie Missdeutungen und Belehrungen. Bernhard Meuser beleuchtet einige davon, ordnet sie ein und erinnert die eifrigen deutschen Kommentatoren, die fleißig Haltungsnoten verteilen, an die fast vergessene Todsünde der Hoffart.
Hier die Haltungsnoten aus Deutschland
„Unterkomplex“. Ich liebe es. Man weiß dann sofort, was kommt. Zum ersten Mal wurde ich bei „Mission Manifest“ auf den Terminus aufmerksam. Da hatte es eine Gruppe von Theologen gewagt, eine Behauptung in die theologischen und kirchlichen Routinen zu werfen, die Skandal machte: „The church must send, or the church will end.“ Eine unglaubliche Provokation, die Magnus Striet, Ursula Nothelle-Wildfeuer, Gunda Werner, Christiane Florin und andere so ärgerte, dass diese Gruppe ein ganzes Gegenbuch aus dem Boden stampfte: „Einfach nur Jesus?“ Das machte den Mission-Manifest-Leuten seinerzeit die Antwort leicht: „Ja!“ Der zentrale Vorwurf lautete damals: Der Aufruf zu einem missionarischen Aufbruch in der deutschen Kirche sei „unterkomplex“, ahnungslos, was die Vielgestaltigkeit und Mehrdeutigkeit theologischer Ansätze in der Heiligen Schrift beträfe, von den Schwierigkeiten der Vermittlung in die Moderne gar nicht zu sprechen, usw.
Unterkomplex und obergescheit
Nun taucht „unterkomplex“ wieder auf. „Kirche + Leben“ lässt den Mainzer Moraltheologen und Striet-Kampfgefährten Stephan Goertz zu Wort kommen: „Unterkomplex bis ärgerlich: Experte Goertz analysiert ´Dignitas infinita´.“ Anlass genug, sich mit dem Wort einmal näher zu befassen. Man wird vielleicht sehen, wie Sprache als Machtspiel funktioniert. „Unterkomplex“ ist eine Zentralvokabel im Wörterbuch des Oberlehrers. Mit „unterkomplex“ unterteilt jemand die Welt in Wissensbesitzer und Unterbelichtete. Wer einen Sachverhalt in seiner ganzen Komplexität wahrzunehmen im Stande ist – das heißt: wer die Dinge hinreichend in der Schwebe hält und sich bei keiner positiven Aussage erwischen lässt – der ist der eigentliche Besitzer seines Gegenstandes. Und der ist demjenigen überlegen, der sich zu sagen entblößt: Das ist so.
„Ambiguität“ (= Vieldeutigkeit) ist in Teile der neueren Theologie eingezogen und eine ganze Heerschar von Theologinnen und Theologen warnt vor „vorschnellen Vereindeutigungen.“ Der methodische Skeptizismus, mit dem man sich von der Masse der naiven Gläubigen abhebt, scheint dem Wahrheitsdenken überlegen. Die Offenbarung besteht nun aber einmal im eindeutig ergangenen Wort Gottes, das im Ganzen der Kirche in solcher Sicherheit erkannt wird, dass man dafür gegebenenfalls das Martyrium auf sich nehmen kann. Der Theologe, so Papst Benedikt, „darf nicht seine eigenen Ideen verkünden, sondern muss – entgegen allen Versuchen von Anpassung und Verwässerung sowie jeder Form von Opportunismus – sich und die Kirche immer zum Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes verpflichten.“ Er darf nicht zum Herold der Verunsicherung werden, soll über der vernunftgemäßen Betrachtung seines Gegenstandes nicht vergessen, dass auch er Zeuge ist (oder es zu sein hat oder eben nichts zu sagen hat).
„Denn wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe … und ihr tut gut daran, es zu beachten, wie ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen.“(2 Petr 1,16-19)
Wer hat das Sagen?
Der große evangelische Theologe Karl Barth (1886-1968) beklagte schon 1923 in einem Offenen Brief an seinen liberalen Widerpart Adolf von Harnack die Betriebsamkeit von Theologen, denen „der Begriff eines maßgeblichen Gegenstandes vor lauter Maßgeblichkeit der Methode fremd und ungeheuerlich geworden“ sei. Im Konflikt Wissenschaft/Lehramt ereignet sich nicht erst heute ein verdecktes Machtspiel um die Frage: Wer besitzt den Gegenstand? Wobei – von Besitz sollte theologisch tunlichst nicht die Rede sein. Wer aber besitzt das Recht einer verbindlichen Ansage am Ende oder in der Mitte einer Debatte? Als Heinrich Schlier, der zum Katholizismus konvertierte Exeget, in der Auseinandersetzung mit den „Deutschen Christen“ stand, rief er seinen Studenten zu:
„Überlegen Sie einen Augenblick, was besser ist: daß die Kirche in geordneter Weise und nach reiflicher Überlegung einem Theologen das Lehramt wegen falscher Lehre wieder abnimmt oder daß der einzelne in unverbindlicher Weise diesen oder jenen einen falschen Lehrer nennt und vor ihm warnt. Man darf ja doch nicht meinen, daß das Verurteilen aufhöre, wenn man jeden nach Gutdünken urteilen lässt. Hier ist konsequent nur die liberale Ansicht, daß es so etwas wie eine Entscheidung über die Wahrheit einer Lehre überhaupt nicht gibt und deshalb jede Lehre ein bisschen wahr und alle Lehre in der Kirche zu dulden sei. Aber diese Ansicht teilen wir nicht. Denn sie leugnet, daß Gott wirklich unter uns entschieden hat.“
Die Haltungsnoten bitte!
Nun hat sich die Katholische Kirche nach jahrelangen Beratungen, in Anbetracht einer 1500 Jahre alten Denktradition, unter Berücksichtigung der Heiligen Schrift, der Konzilsdokumente und im Einklang der nachkonziliar lehrenden Päpste zu einer verbindlichen Lehräußerung entschlossen, mit denen die wesentlichen Leitlinien einer christlichen Anthropologie wie ein Gerippe in den theologischen Diskurs unserer Tage eingezogen werden – die Weltkirche applaudiert, doch die Katholische Kirche in Deutschland rümpft oberlehrerhaft die Nase. Überaus maßgebliche Instanzen wie „katholisch.de“ lassen einen Herrn Hartmann feststellen, „Zwischen Floskeln und ideologischen Scheuklappen“ sei da nicht viel zu holen. Die Strietianerin Gunda Werner mokiert am gleichen Ort, dass doch tatsächlich „eine vom Schöpfer vorgegebene Natur des Menschen abgeleitet wird, … die zweitens nur in Mann und Frau als Ebenbild Gottes geschaffen interpretiert wird und drittens diese zwei in eine rein binäre Komplementarität gesetzt werden.“ Na, na, na, – wo die „Humanwissenschaften“ die Priesterschrift doch längst auf den aktuellen Stand gebracht haben! Bei ZEIT online darf der feinsinnige Münsteraner Theologe Michael Seewald “Techniken zur Errichtung von Kontinuitätsfassaden“ diagnostizieren. Beim Domradio darf der theologisch unbeleckte, dafür um so agilere Textproduzent Brüggenjürgen kritisch bemerken: „Maria war und ist Jungfrau… – aber doch bitte nicht Leihmutter – oder? Wer die göttlichen Geheimnisse niemals abschließend erklären kann, der sollte zumindest seine irdischen Möglichkeiten nicht aus den Augen verlieren.“
Und das katholische Online-Magazin „Kirche + Leben“ lässt eben jenen Moraltheologen Stephan Goertz von der Leine, der kundtut, wie läppisch und vormodern er das vatikanische Geschreibsel findet – „ärgerlich“ sei es – und eben „unterkomplex“. Ja nun: „Von einer Autonomie-Würde im neuzeitlichen Sinne ist keine Rede.“ Man kann finden: Mit guten Gründen teilt die Kirche nicht den Autonomismus Münsteraner und Freiburger Provenienz. Hier bringt sich eine Theologie ins Gespräch, die sich mit dem Weltgeist und der Aufklärung im Bunde weiß und sich schon lange avant la garde einer intellektuell nicht satisfaktionsfähigen Kirche fühlt. Besonders clever reagiert Bischof Bätzing. Unter römischer Beobachtung stehend, lobt er das Dokument über den grünen Klee, während er es gleichzeitig von den Seinen hinrichten lässt. Er weiß natürlich genau, dass Dignitas infinita die komplette Entsorgung aller anthropologischen Ansätze, Optionen und Wunschträume auf dem „Synodalen Weg“ ist.
Nun kann man sich natürlich in die Gefühlslage der theologischen Wortführer hineindenken. Dignitas infinita ist eine Breitseite gegen den Rechtspositivismus, eine Verteidigung des Naturrechts und der Schöpfungsordnung, sowie eine Klarstellung zu autonomen Überdehnungen des Freiheitsbegriffes. Mehr noch: Das Dokument ist gewissermaßen der Boden der Tatsachen, auf dem die synodalen Gespräche der Weltsynode stattfinden werden. Da ist nichts von dem Traum, man könne die klassische christliche Anthropologie in die Tonne treten, um sukzessive eine neue moralische Weltordnung aller Vernünftigen auf die Beine stellen.
Von der Aktualität einer vergessenen Todsünde
Sie ist sogar eine der Sieben Todsünden – die Hoffart – von der kaum noch jemand weiß, was das ist. „DWDS“ (Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute) erklärt den Begriff mit: „übersteigerter Stolz, überheblicher Hochmut, Dünkel.“ In den Sprüchen Salomos kommt die Hoffart „vor dem Sturz, und Hochmut kommt vor dem Fall“ (Spr 16,18) Unsere Mütter und Väter beichteten das häufig, wovon eine Vielzahl von sprichwörtlichen Redensarten zeugt:
„Die Hoffart steiget in die Höh‘, damit man ihren Hintern seh‘.“
Diejenigen unter den deutschen Theologen, die gerade respektlos über ein kirchenrechtlich verbindliches Dokument und voller Hoffart über das kirchliche Lehramt herziehen, sollten sich ernstlich mit der Frage befassen, warum sie in Rom niemand sonderlich liebt und warum man sie derzeit in der Weltkirche am liebsten von hinten sieht.
Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.