Ein Interview von Bischof Kohlgraf wird für Martin Grünewald zum Aufreger. In einem Brief stellt er Fragen zum “Kampfbegriff Neuevangelisierung”, zum verneinten Katechesebedarf und zum problematisierten Begriff der “Christusfreundschaft”. Der Autor nennt Gegenbeispiele zu den Statements des Bischofs und gibt ein persönliches Glaubenszeugnis.
Ein Brief an den Vorsitzenden der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Peter Kohlgraf
Lieber Bischof Peter Kohlgraf!
Die Zahlen sind ernüchternd bis erschütternd: Nur knapp ein Drittel (32%) der Katholiken glauben an Jesus Christus, nur 15 % beten täglich, nur 4 % fühlen sich eng mit der Kirche verbunden, nur 4 % lesen täglich oder mehr als einmal in der Woche in der Bibel. Und gerade 6 % Prozent besuchen den sonntäglichen Gottesdienst. Wohlgemerkt: unter den kirchensteuerpflichtigen Katholiken!
Das Interview, das Sie, Herr Bischof Kohlgraf, als Antwort auf diese „schonungslosen“ Umfrageergebnisse vor wenigen Tagen gegeben haben, schockiert mich. Warum, möchte ich hier darlegen:
Das Interview fängt gut an: Sie sagen, die Kirche hat klein angefangen und ist nicht einer Marktlogik gefolgt, sondern hat den Gekreuzigten verkündet. Die Kirche habe trotzdem etwas zu bieten, bei dem die Menschen merken, dass es etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Diese Verknüpfung müsse man machen. Das gehe über Erfahrungsräume und Begegnung. – Soweit, so gut. Aber auf die Frage, ob wir jahrelang eine ordentliche Katechese vernachlässigt haben, antworteten Sie: „Dass wir wirklich die Katechese vernachlässigt haben, glaube ich nicht. Ich bin jetzt 32 Jahre im kirchlichen Dienst. Den Schuh ziehe ich mir persönlich nicht an. Ich denke, so geht es auch vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Verkündigung tätig waren.“
Realitätsverweigerung
Damit leugnen Sie die Realität. Die Vernachlässigung, ja der Verzicht auf eine systematische Katechese gehört zu den größten Fehlern, die in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten unverändert gemacht wurden. Ich bin ein lebendes Beispiel: Ich habe die Sakramente empfangen, war Ministrant und Lektor, habe den Religionsunterricht besucht und zwei Teams in der katholischen Jugendarbeit geleitet. Katechese habe ich nur bruchstückhaft erlebt, wie viele andere um mich herum. Und dennoch hielten wir uns für schlauer als Papst und Weltepiskopat. Vielleicht bildete gerade der Mangel an religiöser Bildung die Ursache für eine derartige Überheblichkeit.
Die anfangs erwähnten Zahlen belegen meine Wahrnehmung: Wenn 95 Prozent der kirchensteuerpflichtigen Katholiken weder faktisch noch emotional das Angebot der Kirche annehmen, dann ist etwas schiefgelaufen. Wer dies – wie Sie – bestreitet oder schönredet, ist ein Realitätsverweigerer! Da nützt es auch nichts, dass Sie die „vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Verkündigung tätig waren“, auf Ihre Seite ziehen wollen. In der Tat müssen gutwillige Gemeindereferenten und Religionslehrer erleben, wie sie einem übermächtigen Zeitgeist nahezu hilflos gegenüberstehen. Nur: Mit einem Verniedlichen des Problems leisten Sie keinen Lösungsbeitrag, sondern liefern Sie die Motivierten an der „Front“ noch stärker einem Ohnmachtserlebnis aus!
Es gibt auch Gegenbeispiele. Warum steht die Kirche im Nachbarland Polen heute anders dar? Nachdem etwa fünftausend Priester, ein Drittel aller Geistlichen, in den Konzentrationslagern der Nazis umgekommen waren, stand eine geschwächte Kirche einem übermächtigen Kommunismus gegenüber. Allerdings entwickelte sie ein Konzept, um der Situation zu begegnen. Dabei gingen die Bischöfe tatkräftig voran. Müssen wir nicht auch heute den realen Herausforderungen ins Auge schauen und gemeinsam um Antworten ringen? Genau das habe ich übrigens vom Synodalen Weg erwartet.
Gibt es hierzulande auch diese Bereitschaft, zu widerstehen? Oder passt man sich in Deutschland lieber gesellschaftlichen Trends an, auch wenn diese im Gegensatz zur kirchlichen Verkündigung stehen?
Auf die Frage, was Sie von „Gemeinschaften, die sich explizit der Neuevangelisierung verschreiben und kirchenpolitisch eher konservativ sind“ halten, antworteten Sie: „Diese Gemeinschaften darf es geben. Ich kann mich auch freuen, dass sie Zulauf haben.“ – „Darf es geben“ – das klingt eher gequält und wenig begeistert. Und auch Ihre Freude über deren Zulauf klingt gemäßigt. Warum? Warum macht Sie dieser Erfolg und seine Faktoren nicht neugierig? Warum finden Sie nichts Lobenswertes daran?
Sind Ihnen leere Kirchen lieber?
Dann wurden Sie gefragt, ob (Neu-)Evangelisierung innerkirchlich ein Kampfbegriff geworden sei. „Zuweilen … tatsächlich“ antworteten Sie und fügten hinzu: „Ich finde, der Begriff Neuevangelisierung insinuiert, dass es einst so etwas wie einen idealen Endzustand von Evangelisierung gab. Da setze ich meine Fragezeichen dahinter. Nur dass die Kirchen voll sind, sagt ja nichts über persönliche Glaubenssituationen.“
Also, warum soll sich hinter dem Grundauftrag der Kirche ein „Kampfbegriff“ verbergen? Sie begründen das nicht und gehen auch kaum näher darauf ein; Sie unterstellen nur eine Negativ-Interpretation („idealen Endzustand“) und sehen in vollen Kirchen per se nichts Gutes, weil damit nichts über den Glauben des Einzelnen ausgesagt werde. Ich wage es nicht zu fragen: Sind Ihnen leere Kirchen lieber? Aber wie soll ich Ihre Aussage sonst verstehen? Nein, mit Evangelisierung können und wollen Sie nichts anfangen – so mein entstandener Eindruck.
Weder Katechese- noch Evangelisierungsbedarf?
Zuerst verneinen Sie im Interview den Katechesebedarf, jetzt auch noch den Bedarf an Evangelisierung. Das klingt für mich so, also sollten diese Schwachpunkte der Kirche in Deutschland nicht thematisiert werden. Sie beschwichtigen und bestreiten zentrale Problemfelder. Das bringt uns einer Lösung nicht näher.
Und dann problematisieren Sie den Begriff „Christusfreundschaft“. Sie sprechen von einer „intimen Glaubensaussage“. So, wie Sie es ausdrücken, klingt es für mich, als sei das nicht gewünscht. Diese ausgrenzende Aussage hat mich am stärksten getroffen. Nun, das hat auch persönliche Gründe. Denn bis zu meinem 24. Lebensjahr war der christliche Glaube für mich eine Weltanschauung und beruhte auf keiner echten Gottesbeziehung. Damit lebte ich faktisch als Deist. Noch vor einem Jahr hat Kurienkardinal Kurt Koch in Augsburg vor dem Deismus gewarnt. Tatsache sei, dass sich immer weniger Menschen einen Gott vorstellen können, der in der Welt gegenwärtig ist, der in ihr handelt und sich um den einzelnen Menschen sorgt. Ein solcher Deismus habe sich praktisch im allgemeinen Bewusstsein durchgesetzt. Kardinal Koch sprach von einem „innersten Infekt der heutigen Krise des Christentums“. Ein deistisch verstandener Gott tauge weder zum Fürchten noch zum Lieben. „Es fehlt die elementare Leidenschaft an Gott; und darin liegt die tiefste Glaubensnot in der heutigen Welt, die durch eine dumpfe Taubheit gegenüber Gott charakterisiert ist. Das Leben nicht weniger Menschen und manchmal selbst von Christen ist von einer weitgehenden Gottvergessenheit geprägt, und zwar bis dahin, dass sie sogar vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben.“
Also, meine Negativ-Erfahrung mit dem Deismus zählt für einen der engsten Berater des Papstes zu den Hauptursachen der heutigen Krise des Christentums. Übrigens, damals haben mich evangelische Christen mittels Evangelisierung vom Deismus befreit. Die Katholiken in meiner Umgebung wussten zu dieser Zeit vermutlich weder etwas von Deismus noch von Evangelisierung. „Die heutige Krise des Glaubens und der Glaubensweitergabe muss beim Namen genannt und analysiert werden“, so Kardinal Koch in Augsburg. Also: keine Beschwichtigung oder Verdrängung der Ursachen, sondern deren Thematisierung und Analyse als Antwort auf die Krise!
Heilige der Kirche und deren “Christusfreundschaft”
Zurück zu dem von Ihnen problematisierten Begriff der „Christusfreundschaft“. Ich möchte Sie direkt fragen: Können Sie sich einen Paulus ohne Christusfreundschaft vorstellen? Oder einen anderen, von der Kirche anerkannten Glaubenszeugen? Nur zwei Beispiele: Was macht Therese von Lisieux aus außer ihrer Christusfreundschaft? Sie wurde nur 24 Jahre alt, lebte fast nur im Kloster, aber wurde eine der ersten Kirchenlehrerinnen und zur Patronin der Missionare. In ihrer Zelle hatte die heilige Therese geschrieben: „Jesus ist meine einzige Liebe“, und bei der Analyse ihrer spirituellen Erfahrung stellte Papst Franziskus fest, dass ihre Begegnung mit Jesus sie zur Mission berufen hat, so dass sie „ihre Weihe an Gott nicht begreifen konnte, ohne das Wohl ihrer Brüder und Schwestern zu suchen.“ Sie war in den Karmel gekommen, „um Seelen zu retten“. Papst Franziskus widmete ihr ein eigenes Apostolisches Schreiben.
Außerdem möchte ich Teresa von Avila nennen, mit ihrem Bekenntnis: „Gott allein genügt!“ Sie schrieb wörtlich: „Meiner Meinung nach ist inneres Beten nichts anderes als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach, um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.“ Sie war die erste Frau in der Geschichte der katholischen Kirche, die zur Kirchenlehrerin erhoben wurde.
Viele, vielleicht alle großen Glaubenszeugen konnten sich etwas unter Christusfreundschaft vorstellen. Schade, dass Sie damit Probleme haben.
Das Wesentliche für einen Priester
Das Direktorium für Dienst und Leben der Priester (Kongregation für den Klerus, Neuauflage 2013) beschreibt in seinem Vorwort „das Phänomen der Säkularisierung – die Tendenz, das Leben rein horizontal zu sehen“ und die „Aufgabe der religiösen Praxis“ als entscheidendste Herausforderungen. In Nr. 1.1 wird betont, dass Gnade und Weihe den Priester also in eine personale Beziehung zur Dreifaltigkeit stellen. Diese Beziehung werde „im anbetenden und liebenden Dialog mit den drei göttlichen Personen“ gelebt. Und Abschnitt II beginnt mit den Worten: „Die Spiritualität des Priesters besteht in erster Linie in einer tiefen Beziehung der Freundschaft zu Christus.“ Nun bin ich kein Theologe und habe mich auch nicht in Pastoraltheologie habilitiert. Aber muss ich als Laie Sie darauf hinweisen, was für jeden Priester wesentlich ist?
Anstelle der Evangelisierung, die Sie vor allem problematisieren, sehen Sie im „gelebten Alltag viele Chancen, das Evangelium praktisch erfahrbar zu machen“. Ihr Plädoyer: „Wir haben unsere Kitas, unsere Schulen, die Bildungsarbeit, wir haben verschieden Formen von Gottesdiensten. Das alles sind Möglichkeiten, zu zeigen, dass der christliche Glaube keine Sonderwelt ist, die sich in sich verschließt.“ Nur, dass diese Angebote allein offenbar nicht mehr hinreichend zeitgerecht sind, denn sonst wären die Kirchen voller und der Glaube christusbezogener, als in den eingangs genannten Zahlen deutlich wird. Ihr Hinweis allein auf die seit Jahrzehnten genutzten Instrumente erscheint mir als Aufforderung, so weiterzumachen wie bisher.
Sonderwelten
Was meinen Sie eigentlich mit der von Ihnen abgelehnten „Sonderwelt“? Sind Kirche und Welt aus Ihrer Sicht identisch und deckungsgleich? Jesus verkündete (Mk 1,15): „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Landet nicht jeder, der Jesus nachfolgt, automatisch in einer Sonderwelt?
Kurienkardinal Kurt Koch zeigt eine andere Sichtweise als Sie. Er betonte in Augsburg, Papst Benedikt XVI. habe die Neuevangelisierung als Leitperspektive in die Mitte des kirchlichen Lebens gestellt. Die Neuevangelisierung unterscheide sich dabei vor allem in einem wesentlichen Punkt von der missio ad gentes, also der Erst-Evangelisierung. Die Neuevangelisierung sei an jene Menschen gerichtet, die in „Gebieten alter christlicher Tradition“ leben, „wo das Licht des Glaubens schwach geworden ist, und die sich von Gott entfernt haben, ihn nicht mehr als für das Leben wichtig ansehen“.
Papst Benedikt gründete übrigens einen eigenen Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung. Aus der Analyse der Krise des Glaubens und der Glaubensweitergabe folgt nach Ansicht des Kurienkardinals Koch „von selbst“ die Glaubenstherapie, nämlich das Aufwerfen der Frage nach Gott und nach dem Christusbekenntnis. Es sei allererste Priorität, Gott gegenwärtig zu machen und den Menschen den Zugang zu Gott zu öffnen. In neuer Weise müsse wahrgenommen werden können, dass das Christentum in seinem innersten Kern Glaube an Gott und das Leben einer persönlichen Beziehung mit ihm sei und dass alles andere daraus folge.
Lieber Bischof Kohlgraf! Es überrascht hier nicht, dass ich große Differenzen entdecke zwischen Ihrer und der römischen Sichtweise. Und dass ich froh bin, ein römisch-katholischer Christ zu sein! Bitte denken Sie über die Impulse aus der Weltkirche und aus den geistlichen Aufbrüchen in Deutschland noch einmal nach!
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Martin Grünewald
Beitragsbild: Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
Copyright: epd-bild/AndreaxEnderlein
Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
Martin Grünewald ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.

