Weil der Mensch als Geschöpf vor Gott steht, bejahen Christinnen und Christen die liberale Demokratie und sorgen sich um ihren Erhalt. Denn die Lebensform des Glaubens ist nur möglich, wenn für ALLE Menschen das politische Gemeinwesen in Freiheit geordnet ist. Diese Logik legt Martin Brüske frei.

Biblisch ist der Mensch kein Neutrum, sondern steht „vor Gott“

Der Mensch vor Gott: Das ist eine biblische Positionsbestimmung des Menschen. Sie gibt seinen Ort an. Und dies ganz grundsätzlich: Der Mensch steht einfach, insofern er Mensch ist, in der Beziehung „vor Gott“. Der Mensch ist Mensch vor Gott. Die Bibel kennt den Menschen weder als ein geschlossenes und in dieser Geschlossenheit vollständiges, in sich abgeschlossenes Wesen, noch kennt sie die Vorstellung einer Gott gegenüber gleichsam „neutralen“ Plattform menschlichen Lebens, von der aus sich der Mensch allererst entscheiden könnte, ob er vor Gott sein will oder ob er in „reiner“ Weltlichkeit existieren möchte.

Die Notwendigkeit einer freien Gesellschaft

Letzteres, die neutrale Plattform, ist nicht letzte Bestimmung des Menschseins, sondern vielmehr die notwendige Rechtsgestalt einer Gesellschaft in der Personen als Personen und damit als Träger einer absoluten Bestimmung, die sich im Gewissen artikuliert und als Würde zeigt, anerkannt werden. Gerade weil sich in Gewissen und Freiheit etwas Unbedingtes anzeigt, tritt der Staat zurück und gestaltet sich menschliches Zusammenleben als pflegliche Abgrenzung der Sphären der Selbstbestimmung. Dies ist nicht nur auf der Ebene von Staat und Gesellschaft dem biblischen Menschenbild kongruent. Vieles spricht historisch dafür, dass – leider durch viele Fehlleistungen der Vertreter des Christentums hindurch und deshalb nicht ohne Brüche, Kämpfe und Verwerfungen – die Entdeckungsgeschichte einer solchen Form des Zusammenlebens in der Wirkung der biblisch bezeugten Offenbarung Gottes wurzelt. Und dass sie gefährdet ist, wenn sie ihre Wurzeln gänzlich vergisst – wie es heute drohend im Raum steht. Denn die gegenwärtige Gefährdung der Demokratie hat essentiell mit dem Verlust dieser christlichen Wurzeln zu tun (darüber demnächst mehr). Christinnen und Christen werden deshalb für die Erhaltung der Demokratie kämpfen, aber genauso für die Präsenz dieser Wurzeln. Ihr Gedächtnis darf nicht verloren gehen.

Die Grundstruktur geschöpflicher Freiheit

Mit dem Stichwort „Gedächtnis“ und dem zugehörigen Akt des „Gedenkens“ finden wir uns aber sofort wieder mitten in biblischen Zusammenhängen vor. Eine auf Selbstbestimmung beruhende Gesellschaft spielt den Personen den Raum des Innewerdens ihrer letzten Bestimmung zu. Sie ersetzt sie nicht. Fatal also – nur dies sei angemerkt – wenn eine im deutschsprachigen Raum derzeit modische „Theologie“ eine formal, leer und absolut begriffene Autonomie zum letzten Ausgangspunkt der theologischen Reflexion macht und damit die vorletzte Ortsbestimmung des Menschen in der Gesellschaft mit seinem letzten Seinsort vor Gott verwechselt, der allein Ausgangspunkt solcher Reflexion sein kann.

Tatsächlich ist die biblische Bestimmung des Menschen vor Gott durchgreifend. Sie ist keine Randbestimmung, kein „auch noch“. Denn dem „vor Gott“ entspricht das „aus Gott“ seiner Geschöpflichkeit. Sie kennzeichnet den Menschen der Bibel radikal, also von seiner letzten Wurzel her. Sie ist aber gerade so keine bloß faktische, bare, platte Selbstverständlichkeit, sondern sie ist dem in der Zeit werdenden und darin zu sich kommenden Menschen als Gabe geschenkt und als Aufgabe zugemutet. Er darf und soll sich annehmen als von Gott sich in jedem Augenblick in die Hand gegebene Gabe, in der Gutheit seines Seins. Das ist Grundstruktur geschöpflicher Freiheit, die bei sich ist, wenn sie bei Gott ist, jenseits der Alternative von Heteronomie und Autonomie, die hier keinen Sinn mehr hat. Alles andere ist Entfremdung. Biblisch entspricht solcher Entfremdung die Gottvergessenheit. Gottvergessenheit ist zugleich Unaufmerksamkeit, metaphysische Schläfrigkeit und Trägheit. Das Gegenteil wäre Wachheit, Gottgedenken, Gebet. Der Mensch der Bibel steht zwischen Gottesgedächtnis und Gottvergessenheit. Den Weg des Wachens und Betens zu gehen, heißt, den Weg des Gottgedenkens zu gehen und so immer tiefer und inniger zu realisieren, dass der Mensch Mensch vor Gott ist. Dieser Weg beginnt biblisch mit der Anrufung des Namens Gottes und schließt das Gedächtnis seiner Taten ein. Solcher Anrufung ist die Gegenwart Gottes verheißen: Der Mensch vor Gott geht seinen Weg im Licht seines Angesichts. Um der Freiheit seines Weges aber bedarf es der politischen Ordnung der Freiheit. Christinnen und Christen aber dienen dieser Freiheit, wenn sie gegen die Gottvergessenheit das Gottesgedächtnis in der Gesellschaft wachhalten.

Gebet

Herr, lass mich vor dich kommen, eintreten in das Licht deines Angesichts, in deine Gegenwart, die Freude schenkt und Lob hervorruft. Lass mich eintreten in das Jerusalem des Himmels voll Licht und Schönheit. Schenk mir die selige Teilhabe am Lobpreis der himmlischen Scharen. Du bist allen Lobes würdig und dir will ich dienen in Freude. Lass wachsen, Herr, die Gemeinschaft derer, die dich in Freude preisen, lass immer mehr das Licht entdecken, das das Herz jubeln lässt. Lass uns deine Wege gehen, vor dir, im Licht deines Angesichts.


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.


Beitragsfoto: pixabay

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