Dekonstruktion der Menschenwürde
Ein Erzbischof entschuldigt sich, weil er auf eine Falschinformation hereingefallen ist. Eine Juristin, die Verfassungsrichterin werden will, steht in zentralen Rechtsfragen im Gegensatz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. Martin Grünewald lädt ein, einen genaueren Blick in die Veröffentlichungen von Frauke Brosius-Gersdorf zu werfen und ihre Aussagen mit den Standpunkten der Bundesrichter zu vergleichen.
Die Kunst eines guten Juristen besteht darin, eine ununterbrochene logische Argumentationskette aufzubauen, die in sich schlüssig und deshalb unangreifbar ist. Diese Kunst beherrscht Frauke Brosius-Gersdorf weitgehend, aber nicht durchgängig. Sie wurde von der SPD für das Amt der Richterin am Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen, die Abstimmung wurde allerdings aufgrund von Einwänden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verschoben.
Inzwischen ist eine lebhafte Debatte um ihre Kandidatur entstanden. Ein Erzbischof hat sich gar entschuldigt. Ist er auf eine Desinformation hereingefallen?
Zur besseren Information lohnt ein näherer Blick auf ihre beiden wichtigsten Veröffentlichungen: Ihre Stellungnahme vom 15. Juli, an die Medien geleitet von der Anwaltskanzlei Redeker/Sellner/Dahs, und der von ihr verantwortete Teil im Bericht der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ der rot-grünen Bundesregierung, Seiten 198 bis 270, vom 10. Februar 2024.
War „die Berichterstattung“ pauschal falsch?
Unter Nr. 3.1. schreibt Frauke Brosius-Gersdorf am 15. Juli: „Die Berichterstattung über meine Position zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs entbehrte der Tatsachengrundlage. Der Hauptvorwurf in den Medien ist, dass ich dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspräche und für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt sei. Das ist falsch. Dem menschlichen Leben steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu. Dafür bin ich stets eingetreten. Die Aussage, ich wäre für eine Legalisierung und eine (hiervon zu unterscheidende) Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt, ist unzutreffend und stellt eine Verunglimpfung dar.“
Wenn Frauke Brosius-Gersdorf „die Berichterstattung“ generell als tatsachenfremd bezeichnet, macht sie sich bereits angreifbar: Gab es nicht auch Journalisten, die korrekt berichtet haben? Steht ihr diese Pauschalverdächtigung und die damit verbundene Opferrolle überhaupt zu?
Sie schreibt weiter: „Der Hauptvorwurf in den Medien ist, dass ich dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspräche und für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt sei. Das ist falsch.“ Der erste Satz besteht aus zwei Tatsachenbehauptungen. Ihr Vorwurf („Das ist falsch“) trifft bereits zu, wenn die erste der beiden Behauptungen richtig, die zweite aber falsch ist. Im Ergebnis entsteht beim Leser der Eindruck, beide Aussagen seien falsch. Zu ihrer Einordnung der Menschenwürdegarantie beim ungeborenen Menschen kommen wir deshalb noch.
Keine Einschränkungen bei der Menschenwürde
Zunächst zur Menschenwürde. Sie kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität (vgl. BVerfGE 88, 203). Damit untrennbar verbunden ist das Lebensrecht als elementares und unveräußerliches Recht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht. Die Tötung eines Menschen, der Würde und das Recht auf Leben hat, darf der Staat, der beides zu achten und schützen hat, nicht ohne Weiteres erlauben. Er muss die Tötung vielmehr grundsätzlich verbieten.
Dieser Logik folgt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das in zwei Grundsatzurteilen zum Lebensschutz der ungeborenen Menschen Wegweisendes entschieden hat. Im ersten Urteil vom 25. Februar 1975 (BVerfGE 39, 1) erklärte es die sogenannte „Fristenregelung“ mit einer Straffreiheit innerhalb der ersten drei Lebensmonate für verfassungswidrig. Prägnant und wuchtig in ihrer Aussagekraft sind die Leitsätze dieser Entscheidung:
Wuchtige Aussagen zum Lebensschutz
- Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.
- Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.
- Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.
- Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.
- Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.
- Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.
Eindeutige Bestätigung nach 18 Jahren
Diese Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht im zweiten Urteil vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) bekräftigt und Reformen im Strafgesetzbuch sowie in der Sozialgesetzgebung für nichtig erklärt. Hier ein Auszug aus den Leitsätzen:
- Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu.
- Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein.
- Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. …
- Der Schwangerschaftsabbruch muss für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44]). Das Lebensrecht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden.
- Die Reichweite der Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben ist im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts einerseits und damit kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen. …
- Der Staat muss zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, dass ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot).
- Grundrechte der Frau tragen nicht so weit, dass die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes – auch nur für eine bestimmte Zeit – generell aufgehoben wäre. Die Grundrechtspositionen der Frau führen allerdings dazu, dass es in Ausnahmelagen zulässig, in manchen dieser Fälle womöglich geboten ist, eine solche Rechtspflicht nicht aufzuerlegen. … Dafür müssen Belastungen gegeben sein, die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, dass dies von der Frau nicht erwartet werden kann (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [48 ff.]).
- Das Untermaßverbot lässt es nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten.
- Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat ferner, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.
- Ein solches Beratungskonzept erfordert Rahmenbedingungen, die positive Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen. Der Staat trägt für die Durchführung des Beratungsverfahrens die volle Verantwortung.
- Das Grundgesetz lässt es nicht zu, für die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs, dessen Rechtmäßigkeit nicht festgestellt wird, einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren.
Übereinstimmung mit kirchlicher Sichtweise
Das BVerfG hat in seiner zweiten, bekräftigenden Grundsatzentscheidung festgestellt: „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen.“ Die Katholische Kirche sieht das ähnlich. Das Dikasterium für die Glaubenslehre erklärte am 25. März 2024: „Eine unendliche Würde (Dignitas infinita), die unveräußerlich in ihrem Wesen begründet ist, kommt jeder menschlichen Person zu, unabhängig von allen Umständen und in welchem Zustand oder in welcher Situation sie sich auch immer befinden mag. Dieser Grundsatz, der auch von der Vernunft allein voll erkannt werden kann, ist die Grundlage für den Vorrang der menschlichen Person und den Schutz ihrer Rechte.“
Grundsatzurteil stellt Mindestanforderungen
Das BVerfG hat in seinem zweiten Grundsatzurteil auch Mindestanforderungen zur Ausgestaltung des Schutzes durch die Rechtsordnung festgelegt:
- Hierzu zählt, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich verboten ist (vgl. BVerfGE 39, 1 [44]).
- Grundrechte der Frau greifen gegenüber dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nicht durch. Zwar haben diese Rechte auch gegenüber dem Lebensrecht des Nasciturus Bestand und sind entsprechend zu schützen. … Die Grundrechtspositionen der Frau führen allerdings dazu, dass es in Ausnahmelagen zulässig, in manchen dieser Fälle womöglich geboten ist, eine solche Rechtspflicht nicht aufzuerlegen.
- Um dabei das Untermaßverbot nicht zu verletzen, muss der Gesetzgeber allerdings in Rechnung stellen, dass die miteinander kollidierenden Rechtsgüter hier nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden können, weil auf der Seite des ungeborenen Lebens in jedem Fall nicht ein Mehr oder Weniger an Rechten, die Hinnahme von Nachteilen oder Einschränkungen, sondern alles, nämlich das Leben selbst, in Frage steht. Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des Nasciturus gewährleistet als auch der schwangeren Frau ein Recht zum Schwangerschaftsabbruch einräumt, ist nicht möglich, weil Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens ist.
Aussagen weichen von den Grundsatzurteilen ab
In dem von Frauke Brosius-Gersdorf verantworteten 72-seitigen Teil des Berichts der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ gibt es entgegenstehende Aussagen und Schlussfolgerungen. Häufig sind sie nur vage formuliert, zum Beispiel: „Ob und inwieweit der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs regeln darf, bemisst sich nach dem durch die Verfassung eröffneten Gestaltungsspielraum.“
In der „Zusammenfassung“ des Kommissionsberichts formuliert Frauke Brosius-Gersdorf weitere Aussagen, die von den Grundsatzurteilen des BVerfG erheblich oder grundsätzlich abweichen. Laut BVerfG-Urteil (s.o.) genießt der Lebensschutz der Leibesfrucht grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Die Empfehlungen von Frauke Brosius-Gersdorf stellen den Menschenwürde-Anspruch (Art. 1 GG) des menschlichen Embryos und Fetus infrage, ersetzen ihn durch das in Art. 2 garantierte Lebensrecht, das allerdings durch jedes einfache Gesetz eingeschränkt werden kann und deshalb einen weit geringeren Schutz bietet. Das BVerfG hat dagegen festgestellt: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu.“ Sie bildet den entscheidenden Angelpunkt!
Stufenmodell soll ungebrochenen Schutz ersetzen
Frauke Brosius-Gersdorf stellt ein Stufenmodell zum Lebensrecht des Ungeborenen vor. Dieses Dreiphasenmodell basiert auf der Annahme eines pränatal gestuften, anfangs ganz schwachen, allmählich anwachsenden und erst mit der Geburt zum Vollrecht erstarkenden Lebensrecht. Wörtlich heißt es:
„Bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs hat der Gesetzgeber Schutzpflichten für das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des Embryos/Fetus, das (jedenfalls) ab Nidation gilt. Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen. Im Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus (außerhalb des Mutterleibes) gilt entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts, dessen Schutz sich am jeweiligen Entwicklungsstadium des Embryos/Fetus orientiert. Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus hat sein Lebensrecht starkes Gewicht. Ab Geburt gilt das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit vollwertigem Schutz.“ Dieser abgestufte Lebensschutz des Ungeborenen steht im absoluten Gegensatz zu den Urteilen des BVerfG, das durchgängig den ungebrochenen Schutz der Menschenwürde verlangt.
„Existenzielle Angewiesenheit“ vertreibt Menschenwürde?
Dann folgt eine Aussage, die nicht näher begründet wird, aber von größter Tragweite ist: „Ein geringerer Lebensschutz des Embryos/Fetus ist widerspruchsfrei zum Lebensrecht des geborenen Menschen.“ Auch diese Behauptung steht im Gegensatz zum BVerfG, das festgestellt hat: „Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.“ Das höchste Gericht sieht nur „Ausnahmelagen“, in denen die Schutzbedürftigkeit der Mutter überwiegt.
Begründung durch Frauke Brosius-Gersdorf: „Beim geborenen Menschen besteht keine vergleichbare existenzielle Angewiesenheit auf eine leibliche Einheit mit anderen Grundrechtsträgern wie beim Ungeborenen.“ Und weiter formuliert die Juristin, die ausdrücklich im Bericht als Autorin genannt wird: „Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zugutekommt, ist fraglich. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“
Für den Entzug des Menschenwürde-Status und die vorgeschlagene Abschwächung des Lebensschutzes des ungeborenen Menschen gibt es bei Frauke Brosius-Gersdorf – außerhalb des Erwähnten – keine Begründung. Angesichts der Tragweite des Menschenwürde-Schutzes und dieser Argumentation bildet diese Aussage einen Vorgang, der Leser nahezu sprachlos machen kann.
Ein konstruiertes Dilemma
Frauke Brosius-Gersdorf schreibt weiter und konstruiert ein angebliches Dilemma: „Für die Auflösung des grundrechtlichen Güterkonflikts zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und den Grundrechten der Schwangeren ist Folgendes maßgeblich: Dem Lebensrecht des Embryos/Fetus kommt geringeres Gewicht zu als dem Lebensrecht des Menschen nach Geburt.“
Das BVerfG hat dagegen festgestellt (s.o.): „Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des nasciturus (Ungeborenen) gewährleistet als auch der schwangeren Frau ein Recht zum Schwangerschaftsabbruch einräumt, ist nicht möglich, weil Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens ist.“ Die bisherige, seit 50 Jahren vom BVerfG vertretene Rechtsprechung wird somit von der Richteramtskandidatin ins Gegenteil verkehrt.
Frauke Brosius-Gersdorf fährt fort: „Den Grundrechten der Schwangeren kommt im Rahmen der Abwägung mit dem Lebensrecht des Embryos/Fetus zu Beginn der Schwangerschaft starkes Gewicht und mit Fortschreiten des Gestationsalters geringeres Gewicht zu. Denn mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft und entsprechender Verantwortungsübernahme für das Ungeborene steigt die Zumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft.“
Neupositionierung ohne argumentative Untermauerung
Weiter beschreibt sie in dem Bericht, wie sie das Recht auf Leben des ungeborenen Menschen einschränken will, verzichtet dabei allerdings weitgehend auf eine argumentative Untermauerung der Neupositionierung: „Unterschiedlicher Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in verschiedenen Phasen der Schwangerschaft: Unter Berücksichtigung dieser Abwägungsgesichtspunkte ist zwischen verschiedenen Phasen der Schwangerschaft zu differenzieren:
- „Frühphase der Schwangerschaft: In den ersten Schwangerschaftswochen nach der Nidation treten die Belange des Embryos/Fetus hinter den Grundrechten der Schwangeren zurück. In der Frühphase der Schwangerschaft hat das Lebensrecht des Ungeborenen eher geringes Gewicht; gleichzeitig genießt das Verlangen der Frau nach einer Beendigung der Schwangerschaft starken grundrechtlichen Schutz. Der Frau steht in dieser Schwangerschaftsphase ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu. Der Schwangerschaftsabbruch ist daher in der Frühphase der Schwangerschaft – anders als bislang – rechtmäßig zu stellen.
- Spätphase der Schwangerschaft: Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus ist es umgekehrt, dann kommt dem Lebensrecht des Fetus grundsätzlich Vorrang vor den Grundrechten der Schwangeren zu. Denn in dieser Spätphase der Schwangerschaft gilt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit starkem Schutz, während die grundrechtlichen Belange der Schwangeren wegen der kürzer verbleibenden Dauer der Schwangerschaft vergleichsweise geringes Gewicht haben. Der Fetus ist in dieser späten Schwangerschaftsphase grundsätzlich weiter bis zur Geburt auszutragen. Der Gesetzgeber muss den Schwangerschaftsabbruch in dieser Spätphase daher grundsätzlich als rechtswidrig erachten.
- Ausnahmen gelten bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau. Dann kehrt sich das Ergebnis der grundrechtlichen Güterabwägung um und der Schwangerschaftsabbruch ist rechtmäßig.
- Mittlere Phase der Schwangerschaft: Zwischen dem Ende der frühen Schwangerschaftswochen und der Lebensfähigkeit des Fetus ex utero steht dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu, wie er den grundrechtlichen Güterkonflikt auflöst und bis zu welchem Zeitpunkt er den Schwangerschaftsabbruch als rechtmäßig ansieht.
- Ebenso wie in der Spätphase der Schwangerschaft muss der Gesetzgeber in der mittleren Phase der Schwangerschaft den Abbruch in jedem Fall erlauben, wenn der Frau eine Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar ist. Dies ist neben der medizinischen Indikation auch bei einer kriminologischen Indikation der Fall.
- Beratungspflicht: Soweit der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase oder danach rechtmäßig stellt, darf er eine Beratungspflicht für die Frau mit oder ohne eine Wartezeit vorsehen, muss es aber nicht (Gestaltungsspielraum).
- Strafbarkeit: Soweit der Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig ist, scheidet eine Strafbewehrung aus. Soweit der Schwangerschaftsabbruch dagegen rechtswidrig ist, liegt es grundsätzlich in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, dies kriminalstrafrechtlich abzusichern.
- Wegen des verfassungsrechtlichen Konsistenzgebots sollte der Gesetzgeber die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit folgerichtig auch in anderen Rechtsbereichen wie insbesondere der Gesetzlichen Krankenversicherung umsetzen.“
Ohne Begründung oder Widerlegung der Richter
Soweit die wichtigsten Aussagen aus dem insgesamt 72 Seiten langen Bericht. Frauke Brosius-Gersdorf verzichtet nicht nur auf Argumente; ihre Ansichten stehen weitgehend bis vollständig im Widerspruch zu den Urteilen des BVerfG, wie ein Vergleich mit den hier erwähnten Auszügen der beiden Grundsatzurteile deutlich macht.
Ihre Argumentation erscheint immer wieder lückenhaft. So wird behauptet: „In der Frühphase der Schwangerschaft hat das Lebensrecht des Ungeborenen eher geringes Gewicht.“ Warum? Eine Begründung fehlt, ebenso eine Widerlegung der guten Gründe, die das BVerfG gegenteilig anführt.
Schwachstellen zeigen auch andere Aussagen. So verweist die Richteramtskandidatin auf eine vermeintliche Besserstellung von „geborenen Menschen“, da bei ihnen keine vergleichbare existenzielle Angewiesenheit wie beim Ungeborenen bestehe (vgl. s. o.). Eine ähnliche existenzielle Angewiesenheit gibt es aber in vielen Lebensphasen. Ein Patient, der an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist, befindet sich in einer vergleichbaren Abhängigkeit zum Klinikpersonal wie ein ungeborenes Kind zur Mutter, die es mit Nahrung und Sauerstoff versorgt. Auch nach der Geburt ist ein Neugeborenes, das jetzt eigenständig atmen kann, im Übrigen weiterhin auf Versorgung angewiesen. Verliert ein abhängiger Mensch deshalb seine Menschenwürde?
Als Lösung wird die Menschenwürde aberkannt
Auch das „verfassungsrechtliche Dilemma“ zur „Nichtabwägungsfähigkeit der Menschenwürde mit Grundrechten Dritter“, das sie in ihrer Pressemitteilung hervorhebt, erscheint konstruiert. Mit den Ausnahmeregelungen zum Schutz von Schwangeren in Konfliktsituationen sind entsprechende Regelungen vorhanden. Das BVerfG hatte sie bereits in seinen Urteilen vorgesehen. Deshalb ist ihre Argumentation nicht zutreffend:
„Die Lösung kann verfassungsrechtlich nur sein, dass entweder die Menschenwürde doch abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt.“
Nein:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 GG)
Menschenrechte sind unverletzlich und unveräußerlich. So leicht – mit einem konstruierten Dilemma – lässt sich die Menschenwürde nicht aushebeln!
Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de Martin Grünewald ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.
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