In der deutschen Moraltheologie wird seit langem  auf die „Theologie des Leibes“ Jagd gemacht. Die gleiche deutsche Theologie zeichnet sich durch komplette existentielle Irrelevanz aus. In diesem vor einigen Jahren erschienenen Text zeigt dies Martin Brüske von Paulus her. Dabei scheint die riesige Bedeutung des Entwurfs des polnischen Papstes auf.

Vorbemerkung: Der folgende Text, der 2020 erstmals in der „Tagespost“ erschien, führt die Phänomenologie des menschlichen Geschlechtsleibs, so wie er sich in der Erfahrung des Begehrens zur Darstellung bringt, mit der abgründig tiefen Anthropologie zusammen, die Paulus im siebten Kapitel des Briefs an die Römer entfaltet. Diese absoluten Spitzenaussagen über die widersprüchliche, zerrissene, in sich ausweglose Situation des unerlösten Menschen bilden einen Lackmustest für jede Ethik, aber auch besonders für jede Sexualmoral. Eine Sexualmoral, die diese Prüfung nicht besteht, ist dadurch gewogen und für zu leicht befunden. Denn jede in der bloßen Diskussion des Erlaubten und Verbotenen feststeckenden Moral kommt, auch wenn sie ihre Grenzen in die eine oder andere Richtung verschiebt, gegenüber der Ursprünglichkeit des begehrenden Fleischs immer schon zu spät.  Dies gilt insgesamt für jenen Teil der deutschen Moraltheologie, der sich als „neue Sexualmoral“ versteht und der dieses Wort eigentlich nicht mehr mag und durch „Beziehungsethik“ ersetzen will. Er zeichnet sich durch eine solche „normativistische Fixierung“, eben durch das Abstecken von Claims des Erlaubten  und Verbotenen aus, die ihn am Ende des Tages existentiell völlig irrelevant macht. Angesichts des Begehrens schwankt er zwischen dem Liebeskitsch abgesunkener Romantik und prosaischem Spießertum. Zum guten Leben und zur Kultivierung der Urkraft menschlicher Sexualität hat er – außer Ratgeberrhetorik – nichts beizutragen. Man lese in diesem Licht den primitiven Angriff, den Stephan Goertz im jüngsten Heft der Herder-Korrespondenz wieder einmal gegen die Theologie des Leibes gestartet hat. Goertz schreibt über Johannes Paul II., obwohl man immer wieder den Eindruck hat, dass er im Zitierkartell deutscher Moraltheologie in Wahrheit lediglich abschreibt. Denn er kann sie nicht selbst studiert haben, so wenig hat sein Text mit der „Theologie des Leibes“ zu tun. Andernfalls müsste ich Stephan Goertz für dumm halten. Beide Möglichkeiten indes sind ziemlich unschön. Im Licht einer solchen Phänomenologie des begehrenden Fleisches tritt aber auch das Grundanliegen der „Theologie des Leibes“ konturiert ins Licht – und seine überragende Bedeutung.

Fleisch – Ort menschlicher Vitalität

Fleisch. Medium des Begehrens. Warm, durchblutet, fühlend im Getast der Haut – die Sinne sitzen im Fleisch -, zum Schmerz fähig, verletzbar: Im Fühlen des Fleisches fühlt sich das Leben. Manche, die sich nicht mehr als lebendig spüren, weil sie im Fleisch so verletzt wurden, dass sie sich retten konnten nur durch den inneren Rückzug aus dem Fleisch, ritzen sich, damit sie wissen: Ich bin noch da!  Fleisch. Leben, das leben will. Ursprünglicher Ort menschlicher Vitalität also. Leben, das in seiner Bedürftigkeit begehrt. Bedürftiges Leben, nicht fähig, sich aus sich selbst zu erhalten. „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“. Bedürftiges Begehren: Das zeigt ja auch Hinfälligkeit, Endlichkeit, Vergänglichkeit an. Immer bedarf es der Zufuhr von außen, so lange es lebt – nicht nur von Energie, sondern des rastlosen Rhythmus von Stillung und Spannung, in dem sich das Fleisch als lebendig erfährt.

Zu spät für Normen von außen

Gegenüber dem ursprünglichen Begehren des Fleisches, dem Drang des fleischlichen Lebens nach Leben, kommt alle von außen auftreffende Normativität immer schon zu spät. Sie bleibt entweder blass und wirkungslos – in den Figuren der Doppelmoral und der Heuchelei – oder sie unterbricht, wenn sie stark ist, das Drängen des Lebens und stellt es still. Mit anderen Worten: Das Gesetz, der Nomos tötet. Wir schaudern zurück vor den Abgründen, in die die – aus sich unbegrenzte – Steigerungslogik des seine Lebendigkeit suchenden Begehrens im Fleisch geraten kann. Denn es sucht nur sich. Es kennt nichts Anderes. Und doch gilt ihm zugleich angesichts der tödlichen Gewalt des Nomos, dem gegenüber seine Schwäche sichtbar wird, auch unsere beinahe zärtliche Solidarität. Sie zielt auf die Lebendigkeit des Lebens, die sich darin inkarniert, Lebendigkeit in seiner Grazie und seiner Gefährdung. Wir suchen in dieser Solidarität die Rettung der Lebendigkeit des Lebens jenseits des Abgrunds. Doch wie? Der Nomos, sofern er von außen treffende Normativität ist, vermag die Aporie des Begehrens also nicht zu lösen. Das heißt aber – und ist schon hier grundsätzlich festzuhalten: Eine Sexualmoral, die sich auf das Abstecken oder nachträgliche Bereinigen normativer Claims beschränkt, wie wir sie in den Diskussionen des synodalen Weges und seiner theologischen Helfershelfer beobachten können, ist völlig unzureichend. Sie setzt darin nur fort, was in vielen Gestalten katholischer Sexualmoral der Neuzeit unzulänglich war. Dabei ist es völlig egal, ob sie eng oder weit ist. Sie verfehlt immer die Ursprünglichkeit des Begehrens des Fleisches.

Eine paulinische Perspektive 

Wir treiben hier, wie langsam deutlich wird, also ein Stück von Paulus (besonders Röm 7) inspirierter phänomenologischer Anthropologie, um das Problem des Begehrens in seiner ursprünglichen Wucht in den Blick zu bekommen. Es ist weiter als der Bereich der Sexualität. Schon in sich, nicht erst im Verhältnis zum Gesetz, ist bei Paulus die Dynamik des „Fleisches“ aporetisch, denn – freudianisch gesprochen – umschließt sie nicht allein die „Es“-Sphäre des Begehrens, Fleisch ist für Paulus ebenso die „Ich“-Sphäre wuchernder, um sich selbst kreisender, auf sich fixierter Selbsterhaltung. So zeigt sich hier Menschsein in mehrfacher Weise als mit sich selbst zerfallen. Die sich transzendierende Freude des inneren Menschen am Gesetz, die seine immer noch vorhandene, durch die Macht der Sünde nicht zerstörte Fähigkeit zur ethischen Sachlichkeit anzeigt, kollidiert mit dem gewucherten, auf sich fixierten Drang zur Selbsterhaltung, der wiederum mit dem unermüdlichen Lustsucher zusammenstößt, der aber gerade darin seine Lebendigkeit wahrnimmt. 

Ich halte diese, hier nur in Grundzügen dargestellte, Anthropologie für sehr realistisch. Ich teile auch ihre in einer Theologie der Sünde ruhenden Voraussetzungen. Um ihren Realismus zu erkennen, muss man das jedoch nicht zwingend. Man muss nur bereit sein, die Strukturen des Begehrens, wie sie sich in unserer kulturellen Lebenswelt zeigen, ernsthaft, nüchtern und unideologisch anzuschauen. Allerdings genügen dazu keine vagen Verweise auf die „Lebenswirklichkeit des heutigen Menschen“. Jedenfalls: Heute und zu allen Zeiten ist die Integration des eigenen Menschseins zur Freundschaft mit sich selbst, wie es die Alten nannten, eine große Aufgabe und keine Selbstverständlichkeit. Die Frage verstärkt sich zur Ratlosigkeit, wenn wir tatsächlich vor der Aporie stehen, die Paulus hier konstatiert:

„Ich elender Mensch!  Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?“

Kein Beitrag zu menschlichem Glück

Dazu hat ein auf Normen fixierter, zudem theologisch und biblisch abstinenter Typus von Sexualmoral schlicht nichts zu sagen. Das heißt aber: An der entscheidenden Stelle trägt er nichts bei zum Glücken des Lebens. Noch einmal schärfer und konkreter wird so die Unzulänglichkeit einer nur normativen Sexualmoral deutlich. Sie erzeugt ein Schwanken zwischen der Stillstellung des vitalen Begehrens im Spießertum und dem Gegenbild vitaler, aber zuletzt katastrophisch-romantischer Lebensentwürfe, vor denen sie aber zugleich immer neu zurückschreckt. Bestenfalls schafft sie es, etwas Heuchelei zu beseitigen – zugunsten nunmehr „erlaubter“ Erweiterungen der „Lüstchen für den Tag … und für die Nacht“ (Nietzsche). Am Ende ist die Moral dann immer noch spießig. Denn die romantische Katastrophe will sie schließlich, vermeintlich lebensklug kalkulierend, vermeiden… Am Ende stehen hier Überdruss und Langeweile. Relative Einhegung und relative Freigabe lösen das Problem des Begehrens nicht. Beide kennen weder die große Hingabe noch die große Freude.

Deshalb ist sie für so viele junge Menschen weltweit, die nach einem kohärenten, das Leben insgesamt formenden religiösen Lebensentwurf von Jüngerschaft Jesu suchen, so vollkommen uninteressant. Sie ist eine Quantité négligeable. Und genau deshalb ist die „Theologie des Leibes“ Johannes Pauls II. bei genau diesen Jugendlichen, entgegen anderslautender Gerüchte, so ungeheuer attraktiv. 

Die Frage nach der Integration der komplexen Vielstimmigkeit des Begehrens in die Einheit der Person, das hat den noch jungen Philosophen Karol Wojtyla in den 50er Jahren beschäftigt und er hat es niedergelegt in seinem ersten philosophischen Meisterwerk „Liebe und Verantwortung“. Tatsächlich liegt darin die Grundfrage einer Sexualmoral, die letztlich in die Freundschaft mit sich selbst führen will. Es geht um Würde, Freiheit, Selbstbestimmung. Seine personalistische Grundnorm ist dabei ganz explizit von Kants Fassung des kategorischen Imperativs in Gestalt von Selbstzweckforderung und Instrumentalisierungsverbot bestimmt. Von dort werden die Gestalten der Liebe und des Begehrens durchbuchstabiert. Aber anders als eine Moral, die ihre Leibfreundlichkeit lediglich behauptet, weil sie in Tat und Wahrheit in einem transzendentalen Formalismus der Freiheit steckenbleibt, ganz konsequent von den unbewältigten cartesischen Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie her, führt Wojtyla die Dialektik von Geschlechtsleib (in der Dynamik des Begehrens) und Person wirklich durch. So zeigen sich hier dann auch die tugendethisch-pädagogischen Möglichkeiten eines Weges zum gelingenden Leben, die ebenfalls zur Attraktivität der Theologie des Leibes für junge Menschen beitragen. Sie kreisen um die integrierende Gestalt der bräutlichen Liebe, die in die große Freude und die große Hingabe führen – letztlich sind das die Kriterien, an denen Sexualmoral zu messen ist, ob sie eben das ermöglicht: der personalistischen Norm zu genügen, in Freude und Hingabe zu leben und zugleich den Schöpfungs- und Heilssinn menschlicher Sexualität zu spiegeln.

Das Maß einer künftigen Sexualmoral

Den letzten Punkt hat Johannes Paul II. in seinen berühmten Katechesen zur Theologie des Leibes noch viel breiter durchgeführt. Der Ertrag von „Liebe und Verantwortung“ bleibt. Aber der Entwurf der Katechesen ist beinahe noch kühner: Sie buchstabieren die gesamte große Ökonomie des Heiles von einer biblisch inspirierten Phänomenologie der Leiblichkeit her durch. Grotesk übrigens, was man dazu bis in jüngste Veröffentlichungen hinein bei deutschsprachigen Moraltheologen findet. Man hat nicht wirklich gelesen – oder will nicht verstehen. Diese Theologie hat mehr Zukunft vor als Vergangenheit hinter sich. Eine künftige Sexualmoral hat hier ihr Maß. Es gibt von dort aus sicher noch viel weiterzudenken, dahinter zurückbleiben geht jedenfalls nicht. Deutlich wird hier auch: Für die moraltheologische Reflexion müssen – gerade wenn sie anthropologisch relevant sein soll – Bibel, Theologie und Spiritualität unverzichtbare Quellen sein. Die deutsche Moraltheologie steckt hier in einer Sackgasse, aus der sie endlich wieder heraus muss.

Denn in der Tat ist es so: Wer das Fleisch und sein Begehren retten will, der muss über den Heiligen Geist reden, der die Forderung des Nomos in das Herz senkt und lebbar macht. Das Fleisch wird dann ein Instrument zur Kommunikation des Heils. Mit Tertullian gilt:

Caro cardo salutis – das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils,

oder mit dem alten Schwabenvater Oetinger:

„Der Leib ist das Ende aller Wege Gottes.“ 


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


Bildquelle: Alamy / Gustav Klimt

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