Eine einmal die Welt bewegende Botschaft scheint die berufenen Botschafter selbst nicht mehr vom Hocker zu reißen. Die Not in der Welt ist so groß und der Glaube an die wandelnde Kraft dieser Botschaft scheint so klein geworden zu sein, dass die Botschafter selbst nicht mehr den Weg gehen wollen zum eigentlichen Ziel, kaum noch den Mut aufbringen ihre Wahrheit in Gänze zu verkünden und das ewige Leben in ihr nicht mehr zu finden scheinen. Hin und wieder erinnern aber unscheinbare Ereignisse an die weltbewegende Kraft der Botschaft. Der Autor Helmut Müller ist eines Morgens geradezu davon wachgerüttelt worden.

Weg, Wahrheit und Leben neu erkennen

Heute Morgen kurz nach dem Aufwachen kamen mir die Fürbitten der gestrigen Morgenmesse in den Sinn. Ich wurde schlagartig wach: Fürbitten, nicht wie immer mehr üblich, bloß fromm in Gebetssprache gepackte Nachrichtenmeldungen vom Abend zuvor in ZDF oder ARD; nein, sämtliche Bitten baten um Erleuchtung der anwesenden und nichtanwesenden Christengemeinde vom einfach Getauften und Gefirmten über Priester und Bischöfe bis hinauf zum Papst, ihre ursprüngliche weltbewegende Kraft wieder in jedem spürbar werden zu lassen. Und so ging es weiter: Das Evangelium möge uns den Weg zeigen zum bedürftigen Nächsten, zum Aufbau der Gemeinde, in Erinnerung an die schon Vorausgegangnen und die Bitte, Licht und Zeugnis zu sein für die Welt.  Diese Gedanken lassen sich in der heutigen (!) Morgenmesse weiterspinnen – mit einem anderen Fürbittsprecher und einem anderen Zelebranten: Der indische Priester wies darauf hin, dass wir eigentlich Reisende auf dem Weg in den Himmel sind. Das passte auf den Lesungstext (Apg 8, 26-40): Der Kämmerer der Kandake, der Königin der Äthiopier begegnete dem Apostel Philippus. Dessen Heimreise nach Äthiopien wird ein Weg zum Himmel. Mit diesem Ziel im Herzen freute er sich auch auf den Weg in seine irdische Heimat Äthiopien (Vers 39).

Der Sauerteig der Welt darf nicht immer weiter in der Kirche aufgehen!

Da auch Bischöfe in der mich aufweckenden Fürbitte genannt wurden, kam mir eine andere Reise in den Sinn, nämlich diejenige, der kürzlich nach Rom gereisten Bischöfe. Nach der Rückkehr und wohl auch auf der Heimreise war nichts vom letzten Ziel all unserer Reisen zu spüren. Sie haben nämlich unverdrossen weiter im Sinn, von Rom mehrmals verbotene Gremien weiter zu gründen. Darüber hinaus sollen sogenannte neue Erkenntnisse der Humanwissenschaften auch der ganzen Welt verkündet werden. Damit nicht genug, werden gesetzgeberische Maßnahmen der Ampelregierung und des neuen Selbstbestimmungsgesetzes im eigenen Land von Vertretern des ZDK beklatscht. Gerade zu lau oder gar nicht wird darauf reagiert, dass der Hinweis schon von 2003 durch den Verfassungsrechtler Ernst Wolfgang Böckenförde, dass die nach dem Grundgesetz unantastbare Würde des Menschen jetzt auch gesetzgeberisch am Anfang und am Ende menschlichen Lebens nicht „mehr unantastbar“ sein soll.

Humanwissenschaften dürfen und können nicht das Evangelium ersetzen!

Ich frage mich: Hat man das Evangelium mit den Humanwissenschaften und modernen säkularen Agenden ausgetauscht? Die Freude, das Evangelium zu verkünden – wie Evangelii gaudium lehrt – ist scheinbar einer Ängstlichkeit gewichen, den Weg, den das Evangelium bis zum Ende weist, auch zu gehen.

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hatte wie erwartet niederschmetternde Ergebnisse gebracht. Anstatt den Schluss daraus zu ziehen, den Glauben nun wirksamer zu verkünden, wollen einige Bischöfe und noch mehr ihre Gremien, Abstriche davon machen. Benedikt XVI. verglich einmal, noch als Professor den schleichenden Wertverlust des ursprünglichen Goldklumpens im Märchen von Hans im Glück mit der Erosion des Glaubens der Kirche. Durch Tauschprozesse glaubte der Hans im Glück des Märchens jedes Mal mit nur minimalem Verlust, so gut wie Gleichwertiges einzutauschen. Am Ende ist aber schließlich aus dem anfänglichen Goldklumpen ein unnützer Schleifstein geworden, der nur noch belastet und zu Recht im See versenkt wird. Offenbar aus Angst von der säkularen Umwelt nicht verstanden zu werden oder von den Gläubigen zu viel zu erwarten, lässt man sich auf Tauschprozesse, Verkürzungen und auf einen Verkauf des Evangeliums für ein Linsenmus schneller Sättigung ein. Ich zähle nur wenige dieser Tauschprozesse auf:

Wie aus dem Goldklumpen ein Schleifstein geworden ist

  • Die Stadt auf dem Berge wird evakuiert und im Tal, wo sich schon nicht wenige evangelische Landeskirchen und „fortschrittliche“ Basisgruppen häuslich niedergelassen haben, neu aufgebaut.

Da ist man dann wohlgelitten selbstsäkularisiert und nervt nicht immer mit angeblich ewig gestrigen und vermeintlich unbarmherzigen sittlichen Ansprüchen.

  • Man weigert sich penetrant die Saat der Botschaft vom Reiche Gottes auf fruchtbaren Boden zu säen, lieber auf steinigen.

Das heißt u. a. glaubenstreue Medien werden nicht unterstützt. Lieber hatte man seinerzeit  Millionen in ein zwielichtiges „Weltbild“ gepumpt – als Arbeitgeber ist man schließlich Verpflichtungen eingegangen, die horrende Folgekosten nach sich zogen. Den ehemaligen Rheinischen Merkur glaubte man mit Christ & Welt als Beilage zu Die Zeit gut untergebracht zu haben. Dieselbe war für die Kirche immer schon steiniger Boden und sie ist es geblieben.

  • Das Licht wird vom Leuchter genommen und unter den Scheffel gestellt. Denn nur ja nicht aufdringlich werden, auf gar keinen Fall an die Grenzen der Erde gehen und das Evangelium verkünden.

Auch im eigenen Land sollte man darauf achten, dass man es nicht zu toll treibt, es könnten ja irreligiöse Gefühle, wie damals bei Bert Brecht verletzt werden. Mit der Gefahr von Konversionen müsste man rechnen, was ökumenisch unfreundlich ist und interreligiös aggressiv verstanden werden könnte. Auch will man nicht nerven und naiv erscheinen wie ein Zeuge Jehovas, keinen Kulturkampf entfachen, etwa Gender in Frage stellen.

  • Kein „Duc in altum“ mehr wie bei Johannes Paul: Nicht mehr auf die hohe See des Glaubens hinausfahren, man könnte ja im Sturm der Entrüstung von Spiegel, Stern, Bildzeitung, neuerdings sogar der FAZ kentern, weil man um des „Himmelreiches willen“ „unzeitgemäße“ Forderungen aufrechterhält.

Man will lieber in säkularer Ufernähe Küstenschifffahrt betreiben, den Zölibat in Frage stellen, möglichst viele segnen, die irgendwie behaupten, Verantwortung füreinander zu übernehmen, aber sexuelle von sozialer Treue abkoppeln. Und Fiducia supplicans nur oberflächlich lesen. Über beide Ohren verliebt sein und sich einander ganz hingeben, bevor man reif zur Liebe ist, sei so schlimm nicht, ist zu hören. Treue bis zum Tod, auch wenn die Liebe vorher stirbt? Da lässt sich dann sicher was machen. Vorher was machen, mit Prinzipien Sexualpädagogik etwa oder NER, Wege erwachsenen Glaubens zu gehen, das ist zu wenig Erfolg versprechend. Künstlich verhüten oder natürlich regeln, das sei sophistisch und niemandem beizubringen. Gruppierungen, die dennoch behaupten, es sei zu vermitteln, ignoriert oder marginalisiert man oder werden nicht ernst genommen.

  • Sauerteig sein für die Welt? Kirche und Welt sollen zusammenkommen. Da sind wir uns alle einig. Nur wie? Entweltlichung ist schlecht. Das hat damals in Freiburg in der Konzerthausrede Papst Benedikts angeblich keiner verstanden und in Limburg sowieso nicht. Franziskus überhört man an dieser Stelle geflissentlich.

Verweltlichung scheint offensichtlich gut zu sein. Der Sauerteig der Welt durchsäuert die Kirche zusehends. So ist das Verhältnis der Kirche viel inniger zur Welt. Das ist die Lösung. Das Reich Gottes ist dann wirklich auf Erden in unüberbietbarer Weise angekommen und wirklich geworden. Märchen bleiben dann nicht mehr im Märchenbuch, sondern werden am Ambo als Lesung vorgetragen. Der kleine Prinz hat Chancen das fünfte Evangelium zu werden. Der Priester in Wollkragenpulli am Altar, die Stola in der Farbe des Fußballvereins und woanders ist vielleicht eine Gemeindereferentin in priesterähnlicher Albe anzutreffen. Wer das an ein Ordinariat meldet wird als notorischer Briefschreiber, Denunziant oder humorloser Nörgler abgetan. Er soll doch lockerer werden. Im Übrigen sollte er einmal Gewissenserforschung betreiben, ob er den Wandel nicht begriffen hat oder sich Anzeichen einer Zwangsneurose bei ihm melden. Noch mal zur Sache: Das ist wirklich zeitgemäß, das gefällt den Leuten und da kommen sie, wenn alle die Liturgie gestalten, ohne genau zu wissen, was das ist. Demokratische Strukturen überall, sein Credo selbst schreiben, dann weiß man wenigstens, was man glaubt. Seinen Bischof wählen, dann kann man auch den Weg leichter gehen, den er zeigt.

  • Was ist mit der still wachsenden Saat, die über Nacht wächst? Denn dann könnte man eigentlich am Tag sehen, was da über Nacht gewachsen ist, es in Empfang nehmen und darüber reden. Dann wäre doch das am Tag davor in Gremien diskutierte und in Stuhlkreisen mit viel Zuspruch und Begeisterung Ergrübelte überflüssig gewesen.

Der Hl. Geist war doch mitten unter ihnen. Kommunikative Vernunft, gleich Synodalität, da muss er sich doch wohl fühlen. Da sind immer mehr als zwei oder drei zusammen. Es ist schließlich an der Zeit gewesen, dass man sich von der Jahrhunderte langen steifen Brise von jenseits der Alpen emanzipiert, auch auf den kleinsten Bruder oder die unscheinbarste Schwester von Hintertupfingen hört. Dort kann man doch eher Heiligen Geist vermuten. Schließlich haben mittlerweile auch unzählige Laien Theologie studiert. Man muss ihn nicht mehr durch die burgundische Pforte aus Rom importieren. Der Geist weht ja, bekanntlich wo er will, zumindest hat er lange genug aus Rom geweht. In der Benediktregel wird doch auch der schlichteste Bruder gehört. Wie bekannt ist aber der Glaube der Kirche noch in jedem Stuhlkreis, wenn es nicht wenige gibt, die ihr eigenes Credo geschrieben haben, und welches betet der Pfarrer überhaupt sonntags in der hl. Messe oder singt er bloß ein ausgezehrtes Lied? Der hl. Benedikt konnte noch davon ausgehen, dass der Bruder Stallknecht oder in einem Benediktinerinnenkloster die Küchenschwester das Credo kannte.

  • Dein Wille geschehe? Woher kennt man eigentlich den Willen Gottes? Aus der Hl. Schrift, vielleicht in gerechter Sprache? Oder gut katholisch aus dem Naturrecht? Das ist zu einem schillernden Begriff geworden. Die wahre Bedeutung geht in einem Dutzend falscher unter und ist altes katholisches Sondergut.

Nicht wenige halten es für Sondermüll. An der Schöpfungsordnung orientieren, wenn die Evolution wahre Bocksprünge gemacht hat? Können wir eigentlich sicher sein, dass wir nicht die übrig gebliebenen Nieten einer intergalaktischen Lotterie aus Zufall und Notwendigkeit sind? Nach Nietzsche haben wir nämlich unseren gesunden Tierverstand spätestens beim Affen verloren, vielleicht schon davor, denn auch Schimpansen führen Kriege. Emil Michel Cioran hält sogar all diejenigen, die gar nicht zur Welt gekommen sind für Glückspilze. Viel weniger schlimm erscheint es dann, wenn man doch noch Kant und seinen Epigonen folgen kann, auch wenn ein Schweizer Philosoph es für Wahnsinn hielt, dass Kant für Gott inmitten rationaler Vernünftigkeit noch eine Idee der reinen Vernunft reserviert hat. Kant ist und bleibt damit der hinterlistige Christ Nietzsches: Gott meine natürlich damit, wenn mein Wille geschehe, im tiefsten dass seiner geschieht. In nichts anderes hätten wir sicherere Einsicht als in die eigene Vernunft und den je meinigen Willen. Da hätten wir letztlich wahre Autonomie: Gott will, dass mein Wille geschieht. Dann ist letztlich Gottes Wille und meiner derselbe. Das ist dann das vergröberte Ergebnis, die feinsinnigen Unterschiede bleiben auf der Strecke. Einmal im cartesischen Gefängnis des Cogito ergo sum eingeschlossen, gibt es keinen anderen Ausweg, so sehr wir an den Stäben dieses Gefängnisses rütteln. Einen Ausbruch im Glauben wagen? Nein, dann können wir uns an keiner Universität mehr blicken lassen. Vielleicht einem Bischof folgen? Aber welchem?

Wach werden und wach bleiben, mit dem Goldklumpen Evangelium wuchern

Der Gedanke an das Evangelium hat mich gestern wach gemacht. Habe ich bloß über die in der Nacht still wachsende Saat und über einige Schnitter nachgedacht, was sie ernten und stehen lassen? Oder war das alles nur ein böser Traum eines ängstlichen Konservativen, dass eine nicht kleine Anzahl deutschsprachiger Bischöfe und ihrer Gremien Angst hat, das Evangelium und den Glauben der Kirche in Gänze zu lehren und zu verkündigen? Es reicht schon, dass man in dieser Gesellschaft allmählich Berührungsängste mit sich selbst bekommt, weil man so konservativ ist. Die diskriminierten, unterleibsfixierten LSBTIQ*-Gruppen wollen sicherlich nicht auch noch mein kopflastiges K. Jetzt wird einem schon von Bischöfen Angst eingejagt, wenn man plötzlich bemerkt, dass man bischöflicher als mancher Bischof ist. Das ist kein gutes Gefühl jenseits von Bischöfen zu stehen, als einsames Schaf, wenn die Bischöfe ihrer Aufgabe gemäß hinter 99 anderen herrennen oder rennen einige etwa auch weg? Wer holt mich aus mir raus? Ich bin zwar kein Star, aber ein Erz-ultra-stock-streng oder noch schlimmerer Konservativer möchte ich nicht sein. Und Jeremia möchte ich auch nicht sein, der von der Faust Gottes gepackt einsam unter Fröhlichen sitzen muss (Jer. 6,11).

Zu guter Letzt möchte ich alle Bischöfe, Gremien- und Ordinariatsmitarbeiter und Teilnehmer an Synoden um Entschuldigung bitten, wenn sie den Eindruck hatten, pauschal gemeint zu sein. Natürlich gibt es auch unter ihnen welche, die wach geworden sind, hoffentlich viele, die sich dann so einsam fühlen wie ich und sich fürchten als konservativ enttarnt zu werden.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag

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