Unter der Überschrift „Für eine Kultur des Schutzes und aktiver Wachsamkeit“ haben vier christliche Wissenschaftler Empfehlungen für eine „zeitgemäße und forschungsbasierte Prävention sexualisierter Gewalt“ vorgelegt. Sie reagieren damit auf ein Positionspapier, das die Bundeskonferenz der diözesanen Präventionsbeauftragten im März 2024 vorgelegt hat. Eine Rezension von Martin Grünewald

Den Hintergrund bilden die zahlreichen Missbrauchsfälle, die es in Schulen, Vereinen und Heimen gegeben hat. Die Katholische Kirche hat darauf mit zahlreichen Maßnahmen reagiert, darunter mit der Verabschiedung von Präventionskonzepten, Pflichten zur Teilnahme an Präventionsschulungen und mit Präventionsstellen.

Obwohl die Präventionsbeauftragten der Bistümer dem jeweiligen Bischof unterstellt sind, hat deren Bundeskonferenz im vergangenen Jahr ein Positionspapier veröffentlicht, das in seinen Aussagen überrascht. Darin wird kirchliche Sexuallehre als „mittelbare Ursache für die Missbrauchstaten“ benannt. Ihre „lustfeindliche Sichtweise“ bilde einen „Risikofaktor“.

Diese Perspektive führt zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung: „Daher gilt, dass zunächst die Diskussion zur katholischen Sexualmoral zu führen ist.“ Das Positionspapier der Präventionsbeauftragten zitiert Nietzsche und Augustinus, dem vorgeworfen wird, dass mit ihm „der christliche Blick auf Sexualität für lange Zeit verdunkelt war“.

Die Autoren des heute vorgestellten Schutzkonzeptes beteiligen sich nicht an Schuldzuweisungen und beschränken sich auf eine nüchterne Darstellung wissenschaftlich evidenter Fakten. Das Positionspapier der diözesanen Präventionsbeauftragten erwähnen sie lediglich in der Einleitung – in der Begründung, warum sie auf die Schnittstelle von „Prävention und Sexualpädagogik“ eingehen. In diesem Positionspapier sei durchgehend von „Sexueller Bildung“ die Rede.

„Sexueller Bildung“ ist nicht neutral

Der Begriff werde allerdings selten näher definiert. In vielen Fällen verberge sich hinter dem Begriff „Sexuelle Bildung“ ein konkretes sexualpädagogisches Konzept, das mit dem Ansatz und den Arbeiten des Erziehungswissenschaftlers und Sexualpädagogen Uwe Sielert verbunden sei. „Sexuelle Bildung“ werde als sinnlich und lustvoll erfahrbarer Prozess verstanden. Er setze an der Erregungsbereitschaft des menschlichen Organismus an und beziehe vielfältige Formen sexueller Verwirklichung ein.

Bei den Befürwortern „Sexueller Bildung“ werde davon ausgegangen, dass bewusste körperliche Erfahrung und das sinnliche Erproben von Sexualität eine ausreichende Identitätsentwicklung und Reife nicht unbedingt voraussetzen. Ein solches sexualpädagogisches Konzept „Sexuelle Bildung“ sei deshalb nicht neutral und auch mit den Inhalten der katholischen Morallehre keineswegs vereinbar.

Die Autoren des jetzt vorgeschlagenen Präventionskonzeptes verfolgen deshalb andere Ansätze und betonen: „Wenn der Schutz von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Aufgabe kirchlicher Arbeit darstellen soll, ist es erforderlich, sich an präventiven Ansätzen zu orientieren, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist.“

Trennung von Aufklärung und Vorbeugung

Ziel primärpräventiver Maßnahmen sei es, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Kindern und Jugendlichen durch die Förderung von Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit zu stärken. Und dann folgt das entscheidende Plädoyer: „In der kirchlichen Präventionsarbeit ist eine konzeptionelle Trennung von Sexualpädagogik und Prävention einzuhalten.“

Begründung: „Sexualität ist ein positiver und wertvoller Teil menschlichen Lebens und darf nicht vorrangig in Zusammenhang mit strafbarem Verhalten vermittelt werden.“ Kinder sollten ihre Geschlechtsidentität in einem positiv besetzten Kontext entwickeln, „insbesondere innerhalb familiärer Beziehungen, in denen Liebe, Zärtlichkeit und die Weitergabe des Lebens erlebt werden“.  Eine Sexualpädagogik, die der Primärprävention vorausgehe, müsse altersangemessen sein. Bei der Präventionsarbeit müsse die Sexualpädagogik deshalb eine untergeordnete Rolle einnehmen.

Kinder können nicht eigenverantwortlich handeln

Das Konzept der „Sexuellen Bildung“ gehe vom Kind als sexuell entwickeltem Wesen aus, das in der Lage sei, in der Sexualität eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. „Eine solche Annahme steht im Widerspruch zu sexualwissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.“

Prävention müsse sich inhaltlich und sprachlich an der Lebenswelt und dem Entwicklungsstand von Kindern orientieren. Der Präventionsansatz dürfe die Verantwortung für den Schutz vor Missbrauch nicht unverhältnismäßig auf Kinder und Jugendliche selbst verlagern.

Auch die Empfehlungen des Arbeitsstabs des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) betonen – so die Autoren – die bewusste Trennung von präventiven Maßnahmen von sexualpädagogischen Angeboten: Damit könne klargestellt werden, dass es sich bei sexuellem Missbrauch primär um Gewaltphänomene handelt – und nicht um legitime Ausdrucksformen von Sexualität.

Unterstützung von Risikofamilien

Neben diesem entscheidenden Unterschied betonen die Wissenschaftler, die jetzt das neue Präventionskonzept vorgelegt haben, weitere praxisnahe Schwerpunkte. So fordern sie, dass die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit sowie familienbezogene Angebote speziell gefährdeten (vulnerablen) Gruppen besondere Aufmerksamkeit widmen und gezielt unterstützen. Kinder mit unsicherem Bindungsverhalten, eingeschränkter Emotionsregulation oder Erfahrungen emotionaler oder sozialer Vernachlässigung hätten ein erhöhtes Risiko, sexuell missbraucht zu werden. Deshalb: Unterstützung von Risikofamilien.

Mitarbeiter- und Eltern-Fortbildung

Die Wissenschaftler, die jetzt das neue Konzept vorgestellt haben, setzen auf eine systematische Fortbildung, wie sie bisher verbreitet ist. Sie müsse für Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit verpflichtend, qualitativ hochwertig und systematisch aufeinander abgestimmt sein.

Elternfortbildungen zum Thema sexueller Missbrauch tragen nach Ansicht der Autoren erwiesenermaßen zur Verbesserung der familiären Kommunikation über sexuelle Themen bei. Eltern sollten daher nicht nur über potenzielle Gefährdungssituationen informiert, sondern auch zu einer sachlich fundierten und entwicklungsangemessenen Sexualerziehung ermutigt werden.

Sexualität werde häufig tabuisiert oder ausschließlich im moraltheologischen Rahmen thematisiert. Eine wirksame Präventionskultur sei auf Sprachfähigkeit bei sexuellen Themen angewiesen. Nach verbreiteter Ansicht verfolgt der Mensch in seiner Sexualität mehrere Motive, etwa Fruchtbarkeit, Lust, Beziehung und Identität. In seiner Phänomenologie der Liebe verweist z. B. Karol Wojtyła/Johannes Paul II. auf die Notwendigkeit, selbstbezogene Motive – etwa sexuelles Verlangen als Triebbefriedigung – in eine personale Hingabefähigkeit umzuwandeln.

Schutzkonzepte mit hoher Wirksamkeit

Prävention soll helfen, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verhindern. Durch Aufklärung und Wissensvermittlung werden Täterstrategien erkennbar. In der Präventionswissenschaft stehe weiterhin die Förderung konkreter Schutzkompetenzen zur Abwehr von Gefahren im Vordergrund, betonen die Autoren der aktuellen Empfehlungen. Geringes Selbstwertgefühl und reduzierte Fähigkeit zur Selbstbehauptung – etwa in Form von Nein-Sagen – weisen ein erhöhtes Risiko auf, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Schutzkonzepte haben die Aufklärung über das Vorhandensein und über Formen sexuellen Missbrauchs zum Inhalt, sie fördern die Fähigkeit, gefährliche Situationen oder Übergriffe zu erkennen und zu unterbrechen, und ermutigen, erlebte oder bevorstehende Missbrauchssituationen vertrauenswürdigen Personen mitzuteilen. Ihnen werde eine hohe Wirksamkeit zugeschrieben.

Entkriminalisierer der Pädophilie

Zum Ende ihrer Empfehlungen gehen die Wissenschaftler dann doch auf das von ihnen abgelehnte Konzept der „Sexuelle Bildung“ ein. Dieses gehe davon aus, dass ein Kind in sexueller Hinsicht reif genug sei, in der Sexualität eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Wörtlich dazu: „Diese Sicht auf das Kind als ‚sexuelles Wesen von Anfang an’ stellt eine entscheidende Prämisse im sexualpädagogischen Konzept von Helmut Kentler dar, der seinerzeit als der Experte für Sexualaufklärung und Reformpädagogik galt und der gleichzeitig einer der zentralen Aktivisten für die Entkriminalisierung der Pädophilie der 1970er Jahre in Deutschland war.“

Kritiker der Sexualtheorie Kentlers in ihrer Verbindung mit der „Sexuellen Bildung“ würden darauf hinweisen, dass durch eine übermäßige Fokussierung auf kindliche Sexualität die Grenzen zum Erwachsenensexualität verwischt und damit unbeabsichtigt sogar sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern begünstigt werden können. Die Autoren fassen zusammen: „Für eine an einem dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust leidende katholische Kirche handelt es sich daher bei dieser Form der Sexualpädagogik nicht um einen verlässlichen Partner in Prävention und Kinderschutz.“

„Missbrauch propagiert und betrieben”

Damit stehen die Autoren der neuen Empfehlung nicht allein, im Gegenteil. Selbst die feministische Zeitschrift „Emma“ fasste zusammen: „Helmut Kentler war eine zentrale Figur in dem Netzwerk pseudofortschrittlicher Pädagogen und Bildungspolitiker, die den sexuellen Missbrauch von Kindern propagierten oder sogar betrieben.“ Als Experte für Sexualwissenschaften war er bundesweit bekannt und einflussreich. Mehrere Jahre war er außerdem Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung und behauptete, „dass durch pädophile Beziehungen bei den betroffenen Kindern keine Schäden entstehen“.

Die Universität Hannover ließ zur „schonungslosen Transparenz und Offenlegung aller Fakten“ des „Falles Kentler“ ein Gutachten erstellen. In dessen Vorwort distanzierte sich der Präsident der Universität Volker Epping von dem früheren Mitarbeiter, der dort 20 Jahre als Wissenschaftler und Dozent wirkte. Darin schrieb der Uni-Präsident, dass er sich „deutlich … von der stattgefundenen Bagatellisierung von sexueller Gewalt an Kindern unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit distanziert und dieses Unrecht aufs Schärfste verurteilt“.

Autoren der jetzt erschienenen Empfehlungen zur Prävention sind der Moraltheologe Johannes Brantl, die Moraltheologin und Medizinethikerin Katharina Westerhorstmann, der Leiter des Instituts für dialogische und identitätsstiftende Seelsorge, Markus Hoffmann, und der Moraltheologe Andrzej Kucinski.

Die Broschüre (38 Seiten) „Für eine Kultur des Schutzes und aktiver Wachsamkeit“ mit den Empfehlungen zur Prävention kann über den fe-medienverlag (www.fe-medien.de) oder per E-Mail über die Adresse initiative@praevention-und-kinderschutz.de bestellt werden.


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
Dieser Beitrag erschien erstmalig bei CNA Deutsch.  Martin Grünewald ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.


Beitragsbild: Broschüre, MockUp, ©Adobe Stock


Der Beitrag erschien zuerst bei CNA

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