…heißt es im Lukasevangelium. Die Ereignisse von Magdeburg zeigen, dass wir weiterhin aus einer verkehrten Welt von Hass und Gewalt der Rettung bedürfen. Könnte uns – in der Metaphorik des 21. Jahrhunderts ein Mikrochip der Liebe, unter die Haut der Welt eingepflanzt – retten, fragt sich Helmut Müller, mit allen Folgen und Missverständnissen, die diese moderne Metaphorik mit sich bringt. Feiern wir nicht an Weihnachten, die Implantation des Ordo amoris – die Ordnung des Liebens – in das Fleisch der Welt? Aber auch dieser ordo amoris folgt Regeln.
Einbruch des Göttlichen versus Ausbruch aus Menschlichem
Es soll von einem Ereignis die Rede sein, das jeden gegenwärtigen Transhumanismus, der ebenfalls Menschsein in bessere Gefilde retten will, in den Schatten stellt. Denn alles bloß Transhumane ist eine Aufrechnung vermeintlich wünschenswerter Eigenschaften vom Humanen her gedacht, ein Ausbruch des Menschlichen aus einer schlechten realen Welt in eine bessere oder optimierte digitale. Einer ihrer Protagonisten, Ray Kurzweil, glaubt, weil er Smartphone und KI vorher gesagt hat, sogar den Tod besiegen zu können, indem er prophezeit, in einer digitalen Cloud weiterleben zu können. Ein Programm gegen Hass und Gewalt hat er nicht im Angebot. Was an Weihnachten aber gefeiert wird, ist ein Einbruch des Göttlichen, eine Überw(e)ltigung schlechthin, ein Programm, das den Ausbruch aus einer verkehrten Welt von Hass und Gewalt lehrt und in seinem Protagonisten, dessen Geburt wir in Bethlehem feiern, auch gelebt wurde.
Lebensgefahr da, wo wir alle einmal waren
Aber zunächst haben wir Probleme mit der Bewältigung – oder um in der Diktion zu bleiben der Bew(e)ltigung der Not, die uns umgibt: Die Ereignisse in Magdeburg haben uns wieder vor Augen geführt, wie nah uns Hass und unbegreifliche Gewalt sein können. An die Ferne kriegerischer Gewalt im Nahen Osten, der Ukraine und in so vielen anderen Teilen der Welt, haben wir uns fast schon gewöhnt. Den Skandal einer anderen Gewalt nehmen wir erst gar nicht wahr bzw. befördern wir sogar. Denn bei uns im gewärmten Kulturstall Europas, so Arnold Gehlen werden immer drängender Forderungen nach einem Menschenrecht auf Kindstötung im Mutterleib laut; natürlich nicht mit diesem Wording. Denn eine Sache, die immer mit dem Tod eines Kindes endet, muss umetikettiert werden: Sie wird dann der Öffentlichkeit als Freiheitsrecht von Frauen verkauft. Man meint eine Tragik mit einer vermeintlich geringeren Tragik bew(e)ltigen zu können. Ich habe noch das entgeisterte Gesicht meiner kleinen Tochter vor Augen, als sie von dieser Unmenschlichkeit zum ersten Mal erfuhr: „Da war ich doch auch“. Ja, da waren wir ausnahmslos alle einmal.
Unsere Wörter und das eine Wort
Genau daran sollten wir – neben all den anderen Ungeheuerlichkeiten – denken, wenn wir jetzt die Geburt dieses Kindes feiern. Vielleicht darf ich eine weitere, nicht dogmenfeste Metaphorik des Geschehens wagen: Ein Gotteschip wurde in den Stoff der Welt implantiert. Und jetzt etwas dogmenverträglicher und auch schriftgemäßer:
Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (Joh 1,14).
Nicht irgendeines unserer Wörter, das vielleicht als Wort des Jahres Karriere gemacht hat, sondern eben von dem Wort bzw. dem Sprechakt ist die Rede, welches überhaupt den Anfang der Welt bewirkt hat: „Gott sprach“ (Gen 1, 3, 6, 9 u. ö.). In gleicher Weise bewirkt es jetzt das Heil der durch Hass und Gewalt unheil gewordenen Welt, wenn wir uns darauf einlassen: „Kehret um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1, 15) und andere Urworte des Evangeliums: Also: Ganz großes Theater! Wir sollten uns nicht über die Schmierenkomödien aufregen, die in Zusammenhang mit Weihnachten aufgeführt werden. Ich versuche damit entspannt umzugehen, wenn damit bloß heimatliche und familiäre Gefühle verbunden werden, Stille und Entspannung gewünscht wird, auch wenn schon Wochen zuvor damit große Geschäfte gemacht werden. Ich sag mir immer, solch wohlige Gefühle hat das Christentum der ganzen Welt geschenkt und bin stolz darauf. Übrigens auch auf die Weihnachtsmärkte, gerade dann, wenn sie zu Wintermärkten umbenannt werden. In Magdeburg wurde wieder einmal mehr versucht, allen diese Freude zu verderben. Ich höre aber nicht auf – wo sich die Gelegenheit bietet –, auf den Grund hinzuweisen, weshalb dieses Ereignis von Weihnachten bis in säkulare Räume hinein gefeiert wird. Ein Geschenk, das das Christentum der Welt gemacht hat, ein Programm der Umkehr, auch wenn das göttliche Geschenk Fleisch gewordener Liebe, als Liebe in allen möglichen Ableitungen „säkular aus den Fugen“ (Norbert Bolz) geraten ist.
Liebe sollte nicht blind machen
Dabei war die Ankunft dieser Liebe in der Welt von ebensolchem Hass und Grausamkeit begleitet wie heute die Obdachlosigkeit der jungen Familie in Bethlehem, die Flucht nach Ägypten und der Kindermord am Geburtsort. Und als das so in die Welt gekommene Kind erwachsen wurde, gab es bei einflussreichen religiösen Strömungen, etwa den Essenern, Gebote, die nicht bloß ausgrenzten, sondern sogar zum Hass aufforderten: du sollst deine Feinde hassen. Gemeint war mit du sollst hassen: Komme nur ja nicht in Versuchung . . .
- auf andere Art und Weise Götter zu verehren,
- Beziehungen zu knüpfen,
- dein Leben zu organisieren und
- dich mit den falschen Leuten abzugeben.
Brandmauern wurden aufgezogen. Gewalt wird nicht bloß als Gegengewalt legitimiert. Auch die gegenteilige Aufforderung zu lieben muss bedacht werden, wenn Augustinus etwa sagt: Liebe und tue dann was du willst. Das heißt, es muss darauf geachtet werden, dass der ordo amoris – der Begriff stammt auch von Augustinus – in unserer von Unheil kontaminierten Welt nicht etwa Beziehungen in ihrer Heillosigkeit festigt und noch tiefer in verwirrende Bindungen führt. Zum ordo amoris ist jeder Christ aufgerufen, sein Bestes zu geben. D. h. die Näherstehenden werden natürlicherweise mehr geliebt als die Fernerstehenden, ohne dieselben aus den Augen zu verlieren. Mit ordo ist also ein abgestuftes Handeln gemeint. Aber es gibt auch einen ordo caritatis. Während der ordo amoris eher ein individualethischer Aufruf ist und für jeden gilt, ist mit ordo caritatis ein sozialethischer Aufruf gemeint. Damit ist das Handeln von Menschen in Institutionen gemeint, staatlichen, kirchlichen und NGO’s und da muss manchmal unter Knappheitsbedingungen entschieden und eine Einigung gefunden werden. Sachgerechtigkeit sollte vorherrschen. Forderungen von Lobbygruppen sollten als solche erkannt und sachgemäß behandelt werden. Opfern – auch solchen, die diesen Status regelrecht suchen und proklamieren – sollte man mit Liebe und Augenmaß begegnen und Liebe nicht aus den Fugen geraten lassen, wie das in der Wokeness-Kultur geschieht.
Denn dann wären wir wieder bei den Essenern, die genau vorschreiben, wen es zu hassen und zu lieben gilt. Jesus hat das damals schon durchschaut und nicht zwischen vermeintlichen Opfern und Tätern unterschieden. Er hat aufgefordert, jeden zu lieben, der menschliches Angesicht trägt. Liebe sollte sehend machen, wie schwer das manchmal auch sein mag.
Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag
Beitragsbild: Zvonimir Atletić / Alamy Stock Foto, Weihnachtskrippe in der Basilika des Heiligsten Herzens in Zagreb