Deutsche Bischöfe und Zentralkomitee lösen Zentralstelle in Mönchengladbach auf

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) gibt momentan Rätsel auf. Weiß es nicht mehr, warum und wie es entstanden ist? Kennt es nicht mehr das „Herz“ des Laienapostolates? Diese Fragen stellen sich, nachdem das ZdK verkündet hat, die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach nach über 60 Jahren aufzulösen. Martin Grünewald ist diesen Fragen nachgegangen.

Die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach wird nach über 60 Jahren zum 31.12.2024 aufgelöst. Ihre Homepage wurde bereits von den bisherigen Inhalten entleert.

Die Schließung dieser Arbeitsstelle hat nicht nur eine Bedeutung für die beiden Träger, die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Sie betrifft das gesamte Laienapostolat der Katholiken in Deutschland und damit nahezu alle Gläubigen. Kurz: Sie ist von historischer Bedeutung! Und sie markiert einen Traditionsbruch!

Öffentlich diskutiert wurde dieser Akt von großer Tragweite nicht. Obwohl das ZdK oft und gerne Transparenz und demokratisch legitimierte Entscheidungen fordert, zeigte es in diesem Fall Prinzipienlosigkeit. Es wurden Fakten geschaffen – hinter verschlossenen Türen. Die Öffentlichkeit wurde erst informiert, als alles feststand.

Die Mitteilungen zur Schließung und Auflösung der Einrichtung waren bei DBK und ZdK wortgleich. Offizieller „Hauptgrund“ ist „die veränderte gesellschaftliche Situation“ … „Hinzu kommt der Rückgang finanzieller Ressourcen.“ Also nicht nur dem Vernehmen nach ging es um finanzielle Einsparungen. Fast gleichzeitig haben zehn deutsche Bistümer kürzlich (Teilzeit-)Planstellen eingerichtet, um Beauftragte für die sogenannte Queer-Pastoral einzustellen, weitere zwölf Diözesen stellen auf ihren Homepages Ansprechpartner für die Queer-Pastoral vor. Soweit zur Frage, wofür Geld locker gemacht wird und wofür nicht.

Ausgangsort Mönchengladbach

Die „Soziale Marktwirtschaft“, die zum geistigen deutschen Exportartikel der Nachkriegszeit geworden ist, war in wesentlichen Teilen in der Katholischen Soziallehre vorgedacht worden, die ihren wichtigsten Ausgangsort in Mönchengladbach hatte. An diesem Standort hatte bereits der Volksverein für das katholische Deutschland von 1890 bis 1933 seinen Sitz. Die „Die Tagespost“ – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur schrieb: „(Der KSZ) gelang in Kursen die Theorie so herunterzubrechen, dass die Katholiken an der Basis die Inhalte der Soziallehre nicht nur verstanden, sondern auch praktisch umgesetzt haben. Die Soziallehre wurde für sie zum praktischen Rüstzeug für ihr Engagement in den christlichen Gewerkschaften, in den katholischen Arbeitervereinen oder auch der Zentrumspartei.“

Rückblick zeigt Tragweite

Um die Tragweite dieser Entscheidung auch nur annähernd einschätzen zu können, ist ein geschichtlicher Rückblick notwendig: Seit 1890 wurde von diesem Standort aus das deutsche Laienapostolat, darunter bedeutende Politiker wie Franz Hitze bis hin zu Norbert Blüm, maßgeblich geprägt.

Wie ist es dazu gekommen? 1803 erlaubte der Reichsdeputationshauptschluss auf Betreiben von Napoleon den deutschen Fürsten, sich Land, Vermögen und Rechte der katholischen Kirche anzueignen. Der gesamte Besitz aller kirchlichen Stifte, Klöster und Abteien wird eingezogen. Bei der Beschlagnahme wird kein Unterschied gemacht: Alles wird der Kirche genommen – ganz gleich, ob der Besitz durch klösterliche Urbarmachung zuvor unbewohnbaren Landes, durch fromme Schenkungen zum Unterhalt von Klerus und Gotteshäusern oder zur treuhänderischen Verwaltung durch den König übertragen worden war. Die Kirche liegt daraufhin am Boden.

Nach der Säkularisation verschlechterte sich das Verhältnis von Kirche und Staat, besonders in Preußen. 1836 geht das „Kölner Ereignis“ in die Geschichte ein: Berlin forderte den Kölner Erzbischof auf, seine Amtsgeschäfte niederzulegen und das Erzbistum zu verlassen. Nachdem Droste sich weigerte, dem „Befehl“ zu entsprechen, wurde sein Dienstsitz von Soldaten umstellt, der Erzbischof festgenommen, auf die Festung Minden verbracht und zwei Jahre lang festgehalten.

Schaut das Kirchenvolk tatenlos zu?

Der Staat bemächtigt sich der katholischen Kirche – sieht das Kirchenvolk dabei tatenlos zu? Es dauert einige Zeit, aber dann organisieren sich die Laien zu einer Gegenbewegung. In Mainz gründete sich im März 1848 ein „Verein für religiöse Freiheit“, der sich bald in „Piusverein“ umbenannte und sich mit dem römischen Papst solidarisierte. Bereits im Oktober 1848 schlossen sich die vielerorts entstehenden Gruppen in Mainz beim ersten deutschen Katholikentag zum „Katholischen Verein Deutschlands“ zusammen. Die Gründungswelle erstreckte sich über das ganze katholische Deutschland.

Der „Kulturkampf“ wurde angeheizt durch den so genannten „Kanzelparagraph“: Geistliche, die in der Ausübung ihres Amtes staatliche Angelegenheiten kommentierten, konnten demnach mit einer Haftstrafe belegt werden. Das Klostergesetz verbot alle Orden in Preußen, die nicht ausschließlich mit der Krankenpflege betraut waren. Außerdem wurde das katholische Vereins- und Pressewesen überwacht. Innerhalb der ersten vier Monate des Jahres 1875 wurden allein 136 katholische Zeitschriftenredakteure zu Geldstrafen verurteilt oder inhaftiert. Gleichzeitig wurden 20 katholische Zeitungen konfisziert, 74 katholische Gebäude durchsucht, 103 katholische Aktivisten ausgewiesen oder interniert. 55 katholische Organisationen und Vereine wurden geschlossen. Über die Hälfte der katholischen Bischöfe Preußens befand sich 1878 entweder im Exil oder im Gefängnis. In einem Viertel aller preußischen Pfarreien gab es keinen Priester. Am Ende des „Kulturkampfes“ waren mehr als 1.800 Priester inhaftiert oder des Landes verwiesen.

Aus Verlierern werden Gewinner

Aber: Im Reichstag bildete sich das „Zentrum“ als katholische Partei. Bei den Reichstagswahlen 1874 konnte es sein Ergebnis auf 27,9 Prozent steigern. Bald regierte es mit und nahm entscheidenden Einfluss auf die Formulierung der Weimarer Reichsverfassung und die darin enthaltene Religionsfreiheit sowie das Staatskirchenrecht. Beide Regelungen wurden 1949 ins heute gültige Grundgesetz übernommen.

Auf den Kulturkampf folgte eine rund hundertjährigen Epoche, in der Katholiken in Parlamenten und Regierungen prägenden Einfluss nahmen und als katholische Laien die Welt mitgestalteten. Die Zentrale dieser Laienbewegung hatte ihren Sitz in Mönchengladbach, wo bis heute die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) ihr Büro hat.

Pionierleistung am Anfang

Und das kam so: Elf Jahre, bevor Karl Marx in London das Kommunistische Manifest veröffentlichte, hielt mit dem engagierten Katholiken Franz Joseph Buß der jüngste Abgeordnete des Badischen Landtages die erste sozialpolitische Ansprache in einem deutschen Parlament. In einer einzigartigen Pionierleistung formulierte Franz Joseph Buß einen sozialen Forderungskatalog, der noch im Jahr 1904 von dem Sozialisten August Bebel als Grundstein parlamentarischer Arbeiterpolitik zitiert wurde.

Der Unternehmersohn Franz Brandts gründete 1872 in Mönchengladbach eine eigene Firma und initiierte dort einen Arbeiterausschuss, Vorläufer heutiger Betriebsräte. Die 1885 erlassene interne Fabrikordnung garantierte den Arbeitern in betrieblichen Dingen Mitverwaltung. Franz Brandts führte zahlreiche freiwillige Sozialleistungen ein, wie eine eigene Krankenversicherung, Darlehnskasse, Bücherei, Betriebsküche, Kindergarten und Nähschule. Brandts baute Wohnungen, die seine Arbeiter günstig erwerben konnten. Für die damalige Zeit war dieses soziale Engagement wegweisend. Brandts entwickelte den Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, woraus sich der Volksverein für das katholische Deutschland bildete, den Franz Brandts gemeinsam mit Franz Hitze und Ludwig Windthorst gründete und dessen Vorsitzender er wurde. Franz Brands wurde auch Ehrenpräsident des 59. Katholikentages in Aachen.

Der von Franz Brandts gegründete Volksverein für das katholische Deutschland bestand von 1890 bis 1933 und hatte seinen Sitz in Mönchengladbach. Zeitweise waren 13,6 Prozent aller katholischen Männer über 21 Jahre als Vereinsmitglieder eingeschrieben. Die von Windthorst entworfenen Statuten bestimmten als Vereinszweck „die Bekämpfung der Irrthümer und der Umsturz-Bestrebungen auf socialem Gebiete“ sowie „die Vertheidigung der christlichen Ordnung in der Gesellschaft“. Faktisch entwickelte sich das organisierte Laienapostolat zur gemäßigten Gegenbewegung zu Sozialismus und Kommunismus.

Weiterbildung in Sozialpolitik

Mit seiner praxisorientierten Bildungsarbeit leistete der Volksverein einen entscheidenden Beitrag für eine wegweisende Neuorientierung sozialen Denkens und Handelns im deutschen Katholizismus.

Nicht mehr der systemverändernde Umbau der Gesellschaft war das Ziel sozialen Engagements, sondern die an der katholischen Gesellschaftslehre orientierte systemkorrigierende „Sozialpolitik“ zur Überwindung des „Klassenkampfes“. Orientierungspunkt des realpolitischen Engagements war die Enzyklika Papst Leos XIII. „Rerum novarum“ vom 15.5.1891.

Seit 1892 führte die Mönchengladbacher Zentralstelle einwöchige „praktisch-soziale Kurse“ durch, die jeweils mehrere hundert Teilnehmer zählten. Diese kurzen Einführungen wurden von 1901 an – schon fünf Jahre vor der Einrichtung der sozialdemokratischen Parteischule in Berlin – durch zehnwöchige „volkswirtschaftliche“ Intensivkurse ersetzt. Sie wurden von der Zentralstelle veranstaltet, um den Teilnehmern jene theoretischen und praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, „welche dieselben befähigen, in der christlichen Arbeiterbewegung und zwar in Arbeiter- und Gewerkvereinen erfolgreich tätig zu sein als Vorstandsmitglieder, Schriftführer, Vortragsredner, Diskussionsredner, als Mitarbeiter an der Arbeiterpresse, als Leiter von Zahlstellen, Genossenschaften, Kranken- und Sterbekassen, als Beisitzer von Gewerbegerichten, evtl. auch als freigestellte Arbeiter- und Gewerkschaftssekretäre“.

Abwehrfront gegen Extremisten von rechts und links

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges erreichte der Volksverein schließlich mit 805.909 Mitgliedern – einschließlich 60.000 ehrenamtlichen Vertrauensmännern – den Höchststand seiner Entwicklung. Mittelpunkt der Vereinsorganisation und „brain trust“ für den deutschen Verbandskatholizismus wurde die Zentralstelle in der niederrheinischen Textilindustriestadt Mönchengladbach. Wenngleich Einfluss und Reichweite des Volksvereins später durch die Zeitumstände litten: Der Volksverein, der den Rassenhass der Nationalsozialisten ebenso entschieden ablehnte wie den Klassenkampf der Kommunisten, reihte sich in die Abwehrfront des deutschen Katholizismus gegen den seit 1930 in bedrohlich anwachsenden Nationalsozialismus ein.

Nach der NS-Machtübernahme schloss das Regime am 1.7.1933 in einer zentral gesteuerten Polizeiaktion die Geschäftsstellen des Volksvereins, beschlagnahmte sein Vermögen und inhaftierte vorübergehend den Generaldirektor und einige Mitarbeiter in der Mönchengladbacher Zentralstelle und in den weiteren Sekretariaten. Die Stadtbibliothek Mönchengladbach übernahm die fast 100.000 Bände zählende Bibliothek des „Volksvereins“ und bewahrte sie so vor der Vernichtung.

Zentralstelle als „Think Tank“

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kam es zu keiner Neugründung des Volksvereins, dafür aber 1963 zur Gründung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Der von Bischöfen und ZdK gewählte Standort hatte also eine hohe symbolische Bedeutung. Ziel des Institutes war die Unterstützung der christlichen Weltverantwortung. Im Mittelpunkt der Tätigkeit der KSZ stand die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen auf der Grundlage der Katholischen Soziallehre und der Christlichen Sozialethik.

Anders als zuvor beim Volksverein für das katholische Deutschland erreichte die Zentralstelle nicht mehr die breiten Massen unter den Katholiken, sondern wirkte jetzt eher wie ein „Think Tank“. Hier blieb das Know How gebündelt, das seit dem Ende des Kulturkampfes mühsam in der Praxis der Politik, über Jahrzehnte in der Regierungsverantwortung und nach Kriegsende im Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft erarbeitet und gesammelt worden war. Dies strahlte aus – sowohl in die Wissenschaft als auch in die Politik durch Gesetzesinitiativen. Diese Bündelung und dieses Erfahrungswissen gehen nun verloren.

Dass DBK und ZdK die zentral organisierte Fortführung dieses Auftrages entweder nicht mehr für nötig oder leistbar halten, spricht für sich. Ein Zitat: „Den deutschen Bischöfen und dem ZdK ist bewusst, dass die geplante Schließung der KSZ ein Einschnitt ist. Dieser Schritt ist Ausdruck dafür, die Sozialethik als Thema konsequenterweise aufzugeben.“

Einhellig, wenngleich eher vereinzelt vorgetragen war die Kritik an der Schließung: Das wichtigste Signal ging von der „Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik“ aus, ein Zusammenschluss von Professorinnen und Professoren für Sozialethik an den deutschsprachigen Hochschulen. Sie bedauerte die Auflösung der KSZ.

Fazit

In Mönchengladbach schlug seit 1890 das Herz des Laienapostolates. Es hört jetzt auf, zu schlagen. Die deutschen Bischöfe und das primär für das Laienapostolat zuständige ZdK waren nicht in der Lage, das – vor allem sozialpolitische – Erbe fortzusetzen. Die jahrzehntelange prägende Einwirkung auf die deutschen Sozialgesetze sowie nach dem Krieg die Gründung der CDU/CSU und die Formung des Erfolgsmodells „Soziale Marktwirtschaft“ – angefangen bei der dynamischen Rente bis zur Einführung der Pflegeversicherung – gehören zu diesem Erbe, das jetzt einen wesentlichen Traditionsabbruch erlebt. Das ZdK muss sich die Frage gefallen lassen, warum es eine derartige Schwächung des Laienapostolates hingenommen hat.

Dies kann natürlich mit der seit Jahren absehbaren Tendenz zusammenhängen, sich schrittweise aus dem klassischen Laienapostolat zurückzuziehen und an Stelle dessen eine neue, innerkirchliche Machtverteilung anzustreben. Die Themen und Beschlüsse des deutschen sogenannten „Synodalen Weges“ weisen genau in diese Richtung.


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de


Quelle Beitragsbild: Archiv (bearbeitet)

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