„Was ist Himmel?“, fragt sich Helmut Müller und gibt persönliche und theologische Antworten nach Konfrontationen mit Situationen, die einen Himmel überhaupt fraglich machen.

Nein, nicht der weißblaue über Bayern

Klar, ich meine nicht den weißblauen über Bayern oder sonst wo. Ich meine den, nach dessen Architekturprinzip die gläubige Christenheit ihre Sehnsüchte in Kirchen verbaut hat. Vor den und an den Portalen von Kirchen finden sich oft Dämonen, die das Böse – eigentlich sich selbst – abschrecken sollen, den Raum des Heiligen zu betreten. Ich meine Kirche als Raum, in dem jeder getaufte Christ erstmals und danach hoffentlich noch öfter, dem sakramentalen Heiland begegnet ist und noch begegnen kann. Diese Begegnung erhoffen wir uns endgültig im Himmel, den wir jetzt schon auf Erden mit Irdischem bebildern.

Vielleicht der Dorfhimmel der Kindheit?

Da hofft man die verstorbenen Eltern, die Tanten, den Bruder, die Schwägerin, die lieben Nachbarn, die schon verstorbenen Klassenkameraden und Fußballfreunde zu finden, auch Originale aus dem Dorf, die manchmal richtig peinlich waren und meinten als Grabredner bei jeder Beerdigung auftreten zu müssen, so dass man sie schon vor dem Friedhof abfangen musste. Jetzt sind sie selber tot. Also ganz persönliche Bilder, mein Himmel, der – je älter ich werde –immer größer und erweitert wird über den ursprünglichen Dorfhimmel hinaus. Als Theologe habe ich ihn verchristlicht, ihn philosophisch ein Beziehungsglück genannt und von einem Schlaraffenlandhimmel unterschieden.

Kommt mein Kaninchen in den Himmel?

Im Laufe der beruflichen Tätigkeit ist man immer wieder mit Grenzsituationen konfrontiert worden, etwa derart in der Grundschule mit der traurigen Frage: Kommt mein Kaninchen in den Himmel? Da kann man nicht spöttisch antworten: „Das hat ja nicht einmal gewusst, dass es auf der Erde war.“ Kinder sind so unberechenbar, dass man immer wieder gezwungen wird, aus der Hüfte zu schießen, etwa: „Im Himmel wird schon Platz für dein Kaninchen sein“. Gott sei Dank, dass das in der Regel kein Kollege hört.

Der Beziehungsglückshimmel

Aber gerade im vergangenen Semester bin ich wirklich an meine Grenzen des Beziehungsglückshimmels gestoßen. Das war kein gutes Gefühl, wenn man in einer Veranstaltung, die man vollmundig als Orientierung in der Orientierungskrise genannt hat, als selbsternannter „Orientierer“ ratlos aus der Wäsche schaut. Was war passiert? Ich hatte also angeregt, den Beziehungshimmel privat und persönlich zu bebildern, da sprengte am Abend zuvor eine Aktenzeichen XY Sendung mein Konzept. Vorgestellt wurde unter anderem folgender Fall: Eine Prostituierte mittleren Alters fuhr mit dem letzten Groschen – genau 2,99 Euro nach Köln, um dort lukrativer auf den Strich gehen zu können, wie sie meinte. Für das Geld hatte sie noch eine Leckerei gekauft und wollte mit der „Arbeit“ beginnen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Dazu kam es nicht. Sie wurde von Jugendlichen zusammengeschlagen und landete bewusstlos im Krankenhaus mit schweren Verletzungen. Als sie dort aufwachte, fragte eine Krankenschwester sie, wen sie benachrichtigen sollte. Die Antwort verschlug mir die Sprache: „Ich habe niemand“.

„Ich habe niemand!“ Was ist da Himmel?

Wie soll man nach dieser Antwort einen persönlichen Beziehungshimmel bebildern? Aber meine Überlegungen reichten weiter. Es gibt eine Epidemie der Einsamkeit, die Corona nur aufgedeckt, nicht ausgelöst hat. Der Heidelberger Psychopathologe Thomas Fuchs hat jüngst noch darauf hingewiesen, dass Einsamkeit sich geradezu epidemisch in der westlichen Welt ausbreitet. Eigentlich kein Wunder, wenn Sexualität, die ja eigentlich wesentlich auf Erden Beziehung und Zukunft stiften soll, zunehmend als Vergnügen zu zweit oder neuerdings auch als Egoismus mit mehreren inszeniert wird, auch Freundschaft plus, wobei das plus alles andere als ein Kind meint, ja geradezu ausschließt.  Sollte das alles noch in der Jugend funktionieren, droht mit zunehmendem Alter und nachlassender Attraktivität Vereinsamung. Nicht von ungefähr wird derzeit auf sozialen Medien von islamistischer Seite ein ehemals auch christliches Ideal kolportiert, allerdings islamistisch verballhornt: Sexualität mit Einschluss von Fruchtbarkeit, nicht wie es in unseren Breiten vermehrt üblich ist, nur noch in penibel sterilisierten Körpern. Junge attraktive Frauen mit Schleier bewerben Sexualität mit Kind und der hämischen Bemerkung, dass das Christentum am Ende sei und keine oder zu wenig Kinder auf die Welt brächte. Das sollte eigentlich nachdenklich machen. Wenn man Sexualität um ihr wesentliches Moment beraubt – über sich selbst hinaus Beziehung stiftend und begründend –  muss man sich nicht wundern, wenn sich der Himmel mit Beziehungen nicht mehr bebildern lässt. Also zurück zur Werkseinstellung von Sexualität: Beziehung ursprünglich leiblich stiften. Das sollte jede Benutzereinstellung berücksichtigen. Vgl. dazu das Tandem von personaler Liebe und Fruchtbarkeit.

Wie dem auch sei, und wie dieses „Ich habe niemand“ zustande gekommen ist, Christsein ist darüber hinaus diakonisch gefordert. So lange ein Mensch lebt, steckt ihm Beziehung in den Knochen. Mutter Teresa hat das in Extremfällen praktiziert, indem sie sogar schon Sterbenden manchmal für die letzten Minuten ihres Lebens eine Beziehung angeboten hat. Diakonie ist also fundamentales Christsein.

Der Christ als Beziehungsknüpfer

Im vergangenen Sommersemester ist mir bewusst geworden, dass ich als „Orientierer“ in diesen Fällen nur „Sekundär-Christ“ bin, während Krankenpfleger, Polizisten, Altenpfleger, Seelsorger, Hebammen u. a. in primär christlichem Feld Tätigkeiten ausüben. Als in dieser Weise beruflich nur sekundär geforderter Christ, konnte ich nur sagen, dass „Ich habe niemand“ einen Christen nicht ratlos unterm Himmel stehen lassen kann, sondern so lange derjenige, der niemand hat noch lebt, aufgerufen ist, für diesen Einsamen auf Erden Beziehungsknüpfer zu sein. Mutter Teresa war dann häufig noch auf Erden für manchen Sterbenden ein Bild für das Beziehungsglück, das den Himmel auszeichnet. Im Himmel begegnet dann endgültig Christus, der nach Hans Urs von Balthasar für den Himmel steht und zwar für

  • den Himmel als Gewonnenen – als Beziehungsglück – das erlebt werden darf,
  • das Fegefeuer als Reinigendes – die vorhandenen Beziehungen Läuterndes und so erfahren wird,
  • das Weltgericht als Prüfendes – die vorhandenen Beziehungen schließlich Klärendes erwartet werden darf.
  • Und dann Hölle, die endgültige Verlorenheit ist, die man niemandem wünscht und für jeden ein Mysterium bleiben sollte und niemals Realität sein möge.

Ist doch noch Platz für einen Dorfhimmel im Himmel?

Himmel ist also, von allen Privatisierungen und Personalisierungen abgesehen nach dem Hl. Paulus (1 Kor. 2, 9) etwas »was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, [nämlich das] was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.« Bis das so weit ist, säen wir auch nach dem hl. Apostel Paulus (vgl. 1 Kor 15,42) in Vergänglichkeit und hoffen auf eine Auferweckung in Herrlichkeit, wie immer die aussehen mag. Wir sollten aber weiterhin ohne Unterlass diakonisch tätig sein und Beziehungsmöglichkeiten „säen“, dass niemand mehr in unserem Einflussbereich sagen muss – ich habe niemand. Dann dürfen wir uns auch an unseren privaten Bildern aus einer glücklichen Kindheit, die leider nicht jeder hat, freuen und danach unser himmlisches Beziehungsglück bebildern. Vielleicht spielt dann selbst das tote Kaninchen im Beziehungshimmel des Grundschulkindes noch eine Rolle.

Wenn ich ehrlich bin, wäre ich glücklich, wenn ich die Hündin meiner Kindheit, Hertha, „da oben“ auch noch mal treffen könnte, mit der ich mal als Dreijähriger durchgebrannt bin und meinen Eltern das Leben einen halben Tag lang zur Hölle gemacht hatte. Aber wir wurden beide wiedergefunden. So ist dann sogar aus dem Bild der Hölle der Verlorenheit, das Gefundensein des Himmels geworden, für meine Eltern und auch für alle meine Tanten.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor, i. R. am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches https://www.amazon.de/Menschsein-zwischen-Himmel-Erde-Theologischen/dp/3897104903 bei Bonifatius vergriffen, beim Autor erhältlich.


Beitragsfoto: Adobe Stock

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