In einer Zeit, in der Menschen häufig eher an Engel glauben, als an Gott, kann man sich bei dem Koblenzer Bibelwissenschaftler Rainer Schwindt fundiert über Engel informieren. Das müsste dazu führen, dass sich das Verhältnis des Geglaubten umkehrt. Helmut Müller rezensiert sein Werk „Der Gesang der Engel“.

Himmlisches Federvieh und gasförmiges Wirbeltier?

Engel? Spöttische Zeitgenossen – wie im Darwinjahr 2009 die Junge Welt – werden sie wohl unter himmlischem Federvieh verbuchen, wenn schon Gott als „gasförmiges Wirbeltier“ (Ernst Haeckel) durchgeht. Der Koblenzer Bibelwissenschaftler Rainer Schwindt räumt in seinem Werk Der Gesang der Engel mit solchen Vorurteilen auf. Wortgewaltig und mit großer Gedankenschärfe macht er auf ein weitgehend unbemerktes Artensterben aufmerksam. Genannt seien nur einige vom Aussterben betroffene „Populationen“, die Cherubim, die Seraphim,  Throne,  Mächte  und  Gewalten.  Das Buch ist aus einem liturgischen Impuls heraus geschrieben worden. Wer es aufschlägt und liest, dem eröffnet sich ein wahrer Kosmos im ursprünglichen Sinn, eine Raum- und Zeitentiefe, wie sie selten in einem Buch dargeboten wird, erfüllt von irdischen und himmlischen Klängen. Liturgie hat in der menschlichen Kulturgeschichte als Gotteslob begonnen, Menschen sind bloß Mitfeiernde, nicht die Adressaten der Feier, und Liturgie will durch die Zeiten und Kulturen hindurch auch so verstanden werden.

Himmlischer Hofstaat im Alten Orient

Rainer Schwindt beginnt seine Überlegungen in altorientalischen Kontexten. Er zeigt darin auf, wie das junge Israel sich von und aus den Zeiten und Räumen, in denen es groß geworden ist, inspirieren lässt in seinem Gotteslob. Die polytheistische Umwelt wird nicht gänzlich abgewiesen, sondern in einer Art niederer Transzendenz (J. E. Hafner) aufgehoben in einer reichhaltigen und tief gegliederten Engelwelt, an deren Spitze schließlich der Gott Israels erscheint und thront. Die Menschenwelt wird darin eingegliedert, und zusammen mit diesen Wesen niederer Transzendenz wird Liturgie gefeiert.

Das entleerte Universum der Neuzeit

An vielen Stellen des Neuen Testamentes, von der Geburtsgeschichte bei Lukas angefangen bis in die Johannesapokalpyse hinein ist die alttestamentliche Grundfolie und eine frühjüdische Rezeption noch zu erkennen. Frühchristliche und mittelalterliche Denker haben dann noch griechisches Denken integriert. Schwindt gelingt es, in seiner liturgischem Denken gewidmeten Arbeit zu retten, was C. S. Lewis in anderer Weise schon in den 40er Jahren in einem Vortrag Das leere Universum gegen seinen Oxforder Kollegen Gilbert Ryle als verloren beklagt aber retten wollte: „Zu Beginn erscheint das Universum vollgestopft mit Willen, Intelligenz, Leben […] Jeder Baum ist eine Nymphe und jeder Planet ein Gott“. Jetzt hätten wir die Welt, [das Objekt] entleert – das geht wohl gegen den kontinentalen Rationalismus – und das „Subjekt […] vollgestopft, aufgebläht, auf Kosten des Objekts“. C.S. Lewis schließt seine Überlegungen mit der Grundaussage zu seinem Werk Die Abschaffung des Menschen:

„Als wir Dryaden und Götter hinauswarfen (die natürlich so, wie man sie verstand, ‚nichts bringen würden’), warfen wir offensichtlich das ganze Universum mit hinaus, uns selbst mit eingeschlossen.“

Im Schwindts Buch werden durch die Zeiten hindurch bewährte Formen und Denkkonzepte vorgelegt, miteinander abgewogen, liturgisch, literarisch, theologisch, und philosophisch durchdrungen, um eine reichhaltigere Wirklichkeit bis zu Gott hin begrifflich, künstlerisch, literarisch und musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Philosophisch markiert Schwindt einen Wandel von einer aristotelisch/thomanischen Substanzontologie hin zu einer modernen Ereignisontologie.

Arbeiten an einer neuen Vermessung der Welt

Erstaunlich, wie alles ineinander greift, als hätten sich Menschen über alle Räume, Zeiten und Kulturen hinweg miteinander abgesprochen, das Unaussprechliche, nicht Sinnfällige so originell und vielfältig zum Erscheinen zu bringen. Es geschieht wahrhaftig eine „Vermessung der Welt“ im größten möglichen Maßstab in der alles Vielfältige in einen Kosmos – in Zeiten und Räumen gegliedert wird – in dem Sinnfälliges und Nichtsinnfälliges einander durchdringen und bis zum höchsten Nichtsinnfälligen reichen. Es ist beeindruckend wie mit Sprachgenauigkeit, Begriffsicherheit und systematischer Brillanz möglicher Kritik begegnet wird, die da lauten könnte: „Metaphysisch fühlende Menschen [sollten] ihre theoretischen Neigungen unterdrücken“ (Walter Schulz). Oder: Ist der „Bart der Metaphysik“ (Ockham) immer noch nicht abgeschnitten? Es sei doch „alles nur Oberfläche. Die Welt hat keine Tiefe“ (Otto Neurath). Und die neueste Wortmeldung, die es leider zum Bestseller geschafft hat, stammt von Richard Dawkins, Gott sei eine Wahnidee.

Die Welt neu Dichten und Denken

Schwindt begegnet solcher Kritik, wenn sie denn geäußert wird, auf allen Ebenen seines Werkes vielschichtig, zunächst mit einer historischen Herleitung und Fundierung. Das sich so Herausschälende unterwirft er einem systematischen Anspruch in einem philosophischen Diskurs. An dieser Stelle seien nur Heinrich Rombach und Alfred North Whitehead genannt. Theologisch kommt, wie bei Thomas, eine theologia duplex zum Tragen, ohne dass Schwindt Thomas in dieser Weise explizit verwendet. D. h., zunächst erfolgt eine metaphysisch-philosophisch zu nennende Reflexion in formalen Kategorien. Was Thomas als sacra doctrina bezeichnet, ist die nächste Stufe der Reflexion, die die eigentliche Substanz des Thematisierten in den Blick nimmt. Ihr Thema ist im Kern eine Überwältigung der Sinne, letztlich die christlich begriffene Offenbarung selbst. Die großen protestantischen Theologen Erik Peterson und Karl Barth, aber auch Michael Welker werden in ihren Beiträgen zur Angelologie gewürdigt. Ebenso der katholische Religionswissenschaftler Johann E. Hafner. Selbst Niklas Luhmanns Gedankengänge in seiner Systemtheorie werden herangezogen um das, was sich in der Offenbarung zeigt, in systemtheoretischer Abwägung zu verstehen. Die gediegenen Ausführungen und die große Tiefenschärfe auf allen Ebenen des Thematisierten, seien sie kulturhistorisch, exegetisch, kirchenhistorisch, liturgiegeschichtlich, in beschriebener Theologiehermeneutik abgefasst oder einer philosophischen Analytik unterworfen, zeigen, dass der Leser es hier keinesfalls mit einem „Geisterseher“ zu tun hat. Für eine Theologie, die sich allerdings in den spanischen Stiefeln kantischer Logik bewegt, sind die ganzen Ausführungen redundant und bloß Philosophie- und Theologiegeschichte. Eine Note Humor hätte Chesterton noch in die Debatte gebracht:

Die Engel können fliegen, weil sie sich leicht nehmen. Satan fiel infolge seiner Schwere.

Das unsichtbare Korallenriff der Schöpfung

Dadurch, dass Schwindt auch Dante und Rainer Maria Rilke einbezieht, legt er ästhetisch in Wort und Schrift in der unsichtbaren Schöpfung ein Faszinosum frei, das in der sichtbaren Schöpfung sein Gegenüber in einem Korallenriff haben könnte. Warum sollte die unsichtbare Schöpfung der sichtbaren nicht das Wasser reichen können? Gott ist sicherlich nicht „allein zu Hause“; es sei denn das „Haus“ ist überhaupt leer, wie manche hochkritischen Theologiekonzepte unserer Tage insinuieren und „Gott“ nur noch in Begriffen oder in unserem Bewusstsein ein Nischendasein reserviert wird.

Der Gesang der Engel, übrigens in einer ästhetisch ansprechenden Ausgabe vom Herder Verlag verlegt, mit vielen meist farbigen Illustrationen, erschließt eine ursprüngliche Freude an der Liturgie und macht auf ein seit der Aufklärung geräuschloses „Artensterben“ in der unsichtbaren Schöpfung in großer Tiefenschärfe aufmerksam.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag


Bildquelle: Adobe (Fresco vermutlich 14. Jhdt, Italien


„Der Gesang der Engel“, Rainer Schwindt, Verlag Herder, 1. Auflage 2018, 400 Seiten, ISBN: 978-3-451-38312-0

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