Das Wettrennen mit dem Zeitgeist nimmt immer groteskere Formen an: Jetzt fordert ein Theologe, dass anstelle der klassischen Gemeindepastoral ein Mischmasch an verschiedensten Religiositäten und Konfessionen ohne persönlichen Gott treten müsse. Dies ist kein semper reformanda, das ist komplette Resignation, meint Dorothea Schmidt.

Umdenken im Gottesbild?

Der Theologe und Publizist Ludger Verst plädierte in einem Artikel auf katholisch.de für eine Neustrukturierung von Gemeinden und für ein Umdenken im Gottesbild: Anstelle der klassischen Gemeindepastoral müsse „eine konfessions-, in Metropolen auch religionsübergreifende Kommunikationspastoral“ mit Fokus auf Beteiligung und Vernetzung und ohne personalen Gott treten. Er begründet dies mit der sich stark veränderten religiösen Landschaft; weg von kirchengebundenen Formen des Religiösen „hin zu stark privatisierenden, patchworkartig-fragilen Ausdrucksformen“. Es bräuchte „neue Initiativ- und Kreativräume, auch liturgisch“, findet er.

Patchwork-Religion

Nach Verst gilt es, „Rolle und Relevanz“ von Religion transdisziplinär neu zu bestimmen und nicht allein dem „religiösen Deutungsraum“ zu überlassen. Kirche müsse ein buntes Konglomerat aus allen möglichen Religiositäten und Denkweisen zulassen, die friedlich unter einem Dach vielfältigen „Glauben“ nachgehen — eine Art Patchwork-Religion.

Verst nennt das Erneuerung im Sinne des „Semper reformanda“ der katholischen Kirche. Man fragt sich nur, was hier erneuert werden soll? Der katholische Glaube kann nicht gemeint sein, denn Verst ersetzt das Paradigma der Offenbarungs- und Heilsgeschichte durch das Paradigma der Religion inklusive diffusem Gottesbild. Er kann es offenbar nicht verstehen, dass „auch heute noch an einem ,personalen‘ Transzendenzbezug festgehalten wird“, denn er fragt nach den Beweggründen. Für ihn ist Gott keine substanzhafte Größe. Zwei Drittel der Kirchenmitglieder würden das christliche Gottesbild nicht mehr teilen, sagt er, als wolle er begründen, warum Gott (für ihn) nicht substanziell sei. Dass Christen das christliche Gottesbild nicht mehr teilen, ist ein Faktum — aber doch kein Grund, um die Kirche aus den Angeln zu heben.

Dekonstruktion der katholischen Kirche

Darum kann von Erneuerung nicht die Rede sein. Vielmehr kann Versts Vorschlag als Anleitung für die Selbst-Dekonstruktion der katholischen Kirche verstanden werden. Eine „konfessions- und religionsübergreifende Kommunikationspastoral“ würde einer unendlichen Beliebigkeit Tür und Tor öffnen: Die Kirche und ihre Botschaft würden jede Kontur verlieren und letztlich in einem vagen A- Theismus versanden. Warum?

Das Christentum ist Beziehungsreligion und kennt einen personalen Gott. Verst präferiert bloße Religiosität — wie auch immer geartet, einen Mix aus diversen religiösen Schattierungen ohne personalen Gott. Letztlich ist das ein menschliches Konstrukt.

Ein unpersonaler Gott?

Was soll das überhaupt sein — ein unpersonaler Gott? Eine göttliche Dimension, die sich irgendwie in Ereignissen oder Begegnungen erkennbar macht? Eine Energie? Ein klingender Berg? Vers behauptet, „Gott glauben“ sei „eine unerlässliche und doch nur eine von vielen divergenten Perspektiven auf eine gemeinsame Welt“ und bedient sich eines Zitats von Bonhoefer, um diese These zu untermauern. Das ist ziemlich schräg und impertinent, und auch aus dem Kontext gerissen. Bonhoefer hatte etwas anderes im Sinn als er sagte:

„In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen.“

In einem Aufsatz über Bonhoefer sprach der 2019 verstorbene evangelische Theologe Andreas Pangritz von einer langen Kette an Fragen, die Bonhoefer sich stellte, zitierte einige und kontextualisierte sie. So gehört das „Religionslose Christentum“ in eine Reihe mit der Frage, wie „Christus der Herr auch der Religionslosen werden“ könne. Die Kette an Fragen entpuppt sich jedenfalls als zu komplex, um sie als Argument für solche Pseudo-Erneuerungs-Vorschläge hernehmen zu können.

Gott ist Beziehungs„mensch“

Eine vielfältig-diffuse Religiosität als anthropologische Konstante, wie Verst sie propagiert, hat mit dem biblischen Christentum, dem personalen Glauben und mit Offenbarung, Schrift und Tradition nichts gemeinsam. Christlich gesprochen gibt es eine religiöse Dimension im Menschen, diese ist aber nicht nur kein essentieller Gegenstand des christlichen Glaubens, sondern etwas anderes als christlicher Offenbarungsglaube, für oder gegen den man sich freilich entscheiden kann. Christen glauben, dass sich ein personaler Gott in der Geschichte offenbart und handelt und er mit den Menschen in Beziehung tritt. Dies ist das Entscheidende, hat aber in der Gesellschaft kaum noch Relevanz, wie der Theologe zwar richtig bemerkt, aber die falschen Schlüsse zieht.

Nicht Dekonstruktion ist des Rätsels Lösung, sondern Katechese, Verkündigung, Sakramente, Gebetsschule — alles, was Menschen in die Begegnung mit Christus führt. Nur wurde genau das jahrzehntelang vernachlässigt. Das biblische Gottesbild wurde kaum vermittelt. Verst fragt ganz richtig: „Haben Predigtamt und Religionsunterricht versagt?“ Ja, haben sie. Und dennoch gibt es ein authentisch-biblisches Christentum in der Welt. Das scheint Verst völlig zu übersehen (oder will er es übersehen?) Es gibt lebendige Milieus, verschiedene Bewegungen und Gemeinschaften in der katholischen Kirche, aber auch im evangelikalen Bereich, die zeigen, dass es keine Entkirchlichung braucht, um den Gemeinschafsaspekt zu leben — und zwar ohne Patchwork nach dem Vorschlag von Theologe Verst, sondern mit einem Gott, der jedem Menschen auf ganz persönliche Weise begegnen will.

Religion nur noch Privatsache?

Insofern stimmt auch Versts Reden von der „unsichtbaren Religion“ nicht. Verst rekurriert hier offenbar auf den Soziologen Thomas Luckmann, der sich in seinem Buch „Die unsichtbare Religion“ fragt, ob Religiosität in einer modernen Gesellschaft tatsächlich verschwindet — die Beteiligung am kirchlichen Leben sinkt ja nachweislich. Er beschreibt, wie sich Religion ins Religiöse wandelt und die traditionellen Konfessionen an Bedeutung verlieren. Seiner Auffassung nach verziehen sich religiöse Praktiken ins Private; aus institutionalisierten gemeinschaftlichem Glaubensleben wird private individuelle Religiosität. Alle Praktiken, Glaubensauffassungen und Überzeugungen, die Orientierung geben und Identität stiften und eine sinnstiftende Funktion erfüllen, gelten bei Luckmann als religiös. Diese „unsichtbare Religion“ ersetzt den Glauben an Gott. Warum das so sein soll, erläutert er allerdings nicht en Detail.

Jesus Christus ist lebendige Identität und Realität

Soziologisch ist Luckmanns Sicht so anregend wie umstritten. Seine Sicht auf Glauben und Religion muss dem Christentum nicht per se widersprechen — aber die Botschaft des Christentums ist nicht, dass es einen mit dem Menschsein gegebenen offenen und daher vagen und unbestimmten Bezug auf Transzendenz gibt. Die christliche Botschaft lautet: Es gibt einen ganz konkreten und lebendigen Erlöser, der rettet und befreit: Jesus Christus. Dieser Erlöser ist mit dem Kreuzestod auch nicht für immer hinter den Wolken verschwunden, sondern ist lebendige Identität und Realität, die aus Liebe alles Leben fortwährend ins Sein führt.

Verst opfert diese Identität einer nebulösen Religiosität, von der er sich eine Stabilisierung der Kirche — als was eigentlich? — erhofft: Übrig bliebe wohl eine Agentur zur Verwaltung eines wüsten Mischmaschs spätbürgerlicher Religionsreste. Versts soziologische Analyse vernebelt nur die Sicht auf die kirchliche Krise; dass davon irgendeine Stabilisierungswirkung ausgeht, dürfte angesichts der Oberflächlichkeit der Ausführungen sein persönliches Wunschdenken bleiben.

Kirche braucht Profil, sonst löst sie sich auf

Nicht einmal ökumenische Vorteile kann man sich versprechen, wie Verst meint. Denn das Profil der katholischen Kirche würde sich wie ein Zuckerstückchen in einem lauwarmen Meer von Religiositäten auflösen, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist; als Gegenüber und Alternative zur Welt würde sie nicht mehr taugen, weil sie schlicht und ergreifend verschwunden sein würde.

Wenn nicht mehr Gott, die Beziehung zu Christus und die Ansprüche des katholischen Glaubens im Vordergrund stehen, wenn Offenbarung, Schrift und Tradition über den Haufen gemäht werden, hat das nichts mit dem vom heiligen Geist geleiteten „semper reformanda“ der Kirche zu tun, sondern mit katholischer Selbstaufgabe. Wo der Glaube heute lebt, wie oben beschrieben, zeigt er die starke Kontur des ganz und gar personalen biblischen Gottes, der uns in Jesus Christus unendlich nah gekommen ist und immer nahekommt, wenn wir das zulassen. Gott drängt sich dem Menschen aus Respekt vor dessen gottgeschenkten Freiheit nicht auf. Dies muss den Menschen wieder vermittelt werden. Christus ist wahrhaft lebendig und will uns in den Sakramenten auf ganz besondere Weise begegnen. Persönlich natürlich!


Dorothea Schmidt
arbeitet als Journalistin und regelmäßige Kolumnistin für diverse katholische Medien (Tagespost, kath.net, u.a.). Sie ist Autorin des Buches „Pippi-Langstrumpf-Kirche“ (2021). Sie war Mitglied der Synodalversammlung des Synodalen Weges und verließ gemeinsam mit weiteren Frauen Anfang 2023 das Gremium als Protest gegen die Beschlüsse des Synodalen Weges, die sich immer weiter von der Weltkirche entfernen. Schmidt ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland.

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