Die Kirche wird gerne als rückständig dargestellt, manche Reformer verlangen deren „Inkulturation in die Demokratie“. Andere verweisen auf das Prinzip der Synodalität, das im Alltag weit verbreiteter ist. Martin Grünewald lädt ein zum Nachdenken über das gültige Leitbild des Laienkatholizismus. In der ersten Folge der Serie geht es besonders um Demokratie und Hierarchie.
In der Entwicklung der Menschheit gilt die Herrschaftsform der Demokratie als große Errungenschaft und bestmögliche Lösung für ein gelingendes Miteinander im Staat. Nach den Beschlüssen des „Synodalen Weges“ soll sie auch in der katholischen Kirche Einzug halten und das Prinzip der Hierarchie ergänzen, gar ersetzen. Eine Begründung wird dafür nicht vorgetragen. Sie erscheint den Initiatoren offenbar selbsterklärend und überflüssig. Eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen unterbleibt. In der katholischen Kirche gilt allerdings ein anderes Prinzip: die Hierarchie. Der Begriff leitet sich ab aus dem Griechischen und bedeutet „heiliger Ursprung“. Damit ist gemeint, dass in der Kirche von Christus her alle Macht und Autorität ausgeht.
Wie funktioniert Demokratie?
Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes, Herrschaft der Mehrheit. Ihre Erfinder – freie Männer in der griechischen Antike – versammelten sich auf dem Marktplatz ihres Stadtstaates (Polis) und beschlossen dort unmittelbar selbst über alles, was die Polis anging.
Diese Marktplatzdemokratie ist in den heutigen Staaten nicht mehr möglich. An ihre Stelle ist die repräsentative Demokratie getreten. Vom Volk auf Zeit gewählte Vertreter (Repräsentanten) entscheiden als Treuhänder des Volkes über die laufenden politischen Themen. Nach welchen Kriterien handeln diese Vertrauensleute? Das muss der Wähler unbedingt wissen, denn er verleiht Macht durch Vertrauen. Eine repräsentative Demokratie funktioniert deshalb nicht ohne Parteien. Wer seine Stimme abgibt, gibt einen Vertrauensvorschuss für die Politik der nächsten vier oder mehr Jahre. In diesen Zeitraum haben die Wähler keinen Einfluss mehr. Grundlage für die Wahlentscheidung sind die aktiv handelnden Politiker und Parteien, deren inhaltliche Positionierungen in ihren Programmen dargestellt wird. Ebenso vertraut der Wähler Erfahrungen mit bisherigem politischem Handeln, dazu bestehenden Traditionen und Werthaltungen von Parteien. Dies sind die einzigen Faktoren, die Politik für die Wähler berechenbar machen – zumindest in einem gewissen Umfang.
Auch die Demokratie als Herrschaft der Mehrheit ist nicht automatisch gut. Die Mehrheit kann irren oder verführt werden. Dazu gibt es Beispiele in der Geschichte. Deshalb gibt es in Deutschland Sicherungsinstrumente. Das wichtigste bilden die Grundrechte, die in der Verfassung verankert sind und in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen. Sie bilden Abwehrrechte des einzelnen Bürgers gegenüber einem potenziell übergriffigen Staat. Das Bundesverfassungsgericht übt die Kontrolle über deren Einhaltung aus.
Direkte Demokratie in der Kirche?
Der „Synodale Weg“ beruft sich zwar auf die Einführung des Demokratieprinzips, übersieht dabei aber wesentliche Strukturprobleme, die ausgeklammert werden und deshalb unbeantwortet bleiben. Eine direkte Demokratie streben die Beschlüsse des „Synodalen Weges“ nicht an. Das wäre eigentlich folgerichtig, denn dafür gibt es Ansätze in der Tradition der Kirche. So werden in den Ordensgemeinschaften seit den Anfängen durch Benedikt von Nursia vor rund 1500 Jahren die Oberen eines Konventes direkt gewählt. Das ergibt auch Sinn, denn die Kandidaten und Wahlberechtigten kennen sich persönlich, sie leben und arbeiten täglich seit Jahren gemeinsam am gleichen Ort. Die Kandidaten sind also allen nicht nur bekannt, sondern wirklich vertraut.
Bei einer Bischofswahl, bei der nach den Vorstellungen des „Synodalen Weges“ das Kirchenvolk vorschlagen und entscheiden soll, ist die Situation anders. Welche Wahlberechtigten haben einen Überblick über mögliche Kandidaten innerhalb einer ganzen Diözese? Wie viele Gläubige im manchmal millionenstarken Gottesvolk einer Diözese können die Eignung, Stärken und Schwächen möglicher Bewerber einschätzen? Selbst wenn sich innerkirchlich ähnliche Gruppen wie politische Parteien bilden würden, so würden die Einschätzungen über Bewerber dennoch nicht qualifizierter – trotz möglicher Wahlkämpfe.
Möchten wir wirklich so etwas wie Parteien im kirchlichen Bereich?
Politiker stehen im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie entscheiden über Gesetze, die für alle Bürger gelten, und über Finanzausgaben. Das ist objektivierbar und wird durch Medienberichte öffentlich vermittelt. Es gibt Sachverständigen-Anhörungen und viele Spielregeln des parlamentarischen Verfahrens, mit dem Bundesrat außerdem eine zweite Kammer.
Möchten wir wirklich die komplexe politische Meinungsbildung und Verfahrenskontrolle auf den innerkirchlichen, gar theologischen Bereich übertragen wissen?
Nun sind die Aufgaben, die ein Bischof hat, durchaus nicht mit dem Regierungshandeln in der Politik vergleichbar. Die Kirche ruht auf dem „Fundament der Apostel und Propheten“ (Eph 2,20) und dem Eckstein Christus, in der Berufung der „Zwölf“ (Mk 3,14), ihrer Ausstattung mit „Vollmacht“ zu verkündigen, zu bezeugen, zu lehren, zu heiligen und zu leiten. Der Bischof ist kein Volksvertreter, sondern in erster Linie ein Christusvertreter – bis hin zur Provokation in Lk 10,16:
„Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat.“
Der Bischof ist also kein Gewählter, sondern ein im Heiligen Geist Erwählter.
In der Kirche geht alle Macht von Christus aus
Christus hat das Amt eingesetzt, ihm Vollmacht und Sendung, Ausrichtung und Zielsetzung gegeben. Mit der sakramentalen Natur des kirchlichen Amtes hängt innerlich sein Dienstcharakter zusammen. Weil der Amtsträger ganz von Christus abhängig ist, der Sendung und Vollmacht gibt, ist er notwendig ein demütiger „Knecht Christi“ (Röm 1,1) nach dem Vorbild Christi, der für uns freiwillig „Knechtsgestalt“ angenommen hat (Phil 2,7). Weil das Wort und die Gnade, deren Diener sie sind, nicht von ihnen, sondern von Christus stammen, der sie ihnen für die anderen anvertraut hat, sollen sie sich freiwillig zu Sklaven aller machen (vgl. 1 Kor 9,19). In Klarsicht stellt der Katechismus fest:
„Diese Gegenwart Christi im Amtsträger ist nicht so zu verstehen, dass dieser gegen alle menschlichen Schwächen gefeit wäre: gegen Herrschsucht, Irrtümer, ja gegen Sünde. Die Kraft des Heiligen Geistes bürgt nicht für alle Taten der Amtsträger in gleichem Maße“ (KKK 1550).
Man sieht auch an dieser Stelle, wie tief der Missbrauchsskandal im Widerspruch zum Evangelium steht.
Demokratie versus Hierarchie?
Der grundsätzliche Unterschied tritt klar hervor: In der Hierarchie handeln die Verantwortlichen durch geistliche Erwählung und in freier Selbstbindung an das von Jesus verkündete Evangelium und dessen fortdauernd bezeugte Wahrheit; in der Demokratie handeln die Gewählten strukturell aus einer Motivlage heraus, die auf Zustimmung und Wohlgefallen beim Wahlvolk abzielt. Beide Ansätze unterscheiden sich grundsätzlich in ihrem Wesen: Der eine bindet sich an eine vorgegebene Wahrheit, der andere koppelt sich an eine momentane Stimmungslage.
„Heilige Herrschaft“ ist in der Kirche dann gegeben, wenn deutlich wird, dass es Christus selbst ist, der in ihr handelt. Und wenn geweihte Amtsträger deutlich machen, dass sie durch Gottes Gnade etwas tun und geben, was sie von sich aus nicht tun und geben könnten, d.h., wenn sie an Stelle Christi die Sakramente spenden und in seiner Vollmacht lehren, leiten und heiligen. Das funktioniert natürlich nur, wenn diese von Christus berufenen und gesandten Menschen auch gläubig mit Christus verbunden leben und nach seinem Wort handeln.
Herrschaftshandeln im säkularen Sinn hat Jesus strikt untersagt und seinen Aposteln (und deren Nachfolgern) streng den Dienstcharakter jedes kirchlichen Amtes aufgetragen (Mk 10,42-44). Personalberater hätten Jesus gewiss abgeraten, auf Petrus und alle anderen anfälligen Menschen zu bauen; trotzdem erweist sich Jesu Methode seit 2000 Jahren, in denen sich das Christentum aus kleinsten Anfängen zur größten Weltreligion entwickelt hat, als erfolgreich. Erinnert sei an den Kardinalstaatssekretär Consalvi, der Napoleon Bonaparte in Verhandlungen fast zur Verzweiflung brachte, bis hin zum bezeugten Wortwechsel: „Ist Ihnen klar, Eminenz, dass ich Ihre Kirche jederzeit zerstören kann?“ Die Antwort von Consalvi war: „Ist Ihnen klar, Majestät, dass nicht einmal wir Priester das in achtzehn Jahrhunderten fertiggebracht haben?“
Hierarchie im katholischen Sinn unterscheidet sich somit dem Wesen nach von säkularen, „hierarchischen“ Herrschaftsstrukturen, also Machtausübung aufgrund natürlicher oder gewachsener Autorität, aber auch aufgrund von subtilen Nomenklaturen und heimlichen Strukturen, die mit Macht ausgestattet sind, die um Macht kämpfen, Macht sichern, Sprache regeln und Rivalen um die Macht ausschalten. In modernen Gesellschaften sind solche vordemokratischen oder Demokratie unterlaufenden Herrschaftsweisen weit häufiger verbreitet als demokratische. Überhaupt ist Demokratie nur ein Instrument zur Rechtsfindung, aber nicht zur Umsetzung. Kein Unternehmen – nicht einmal ein Handwerksbetrieb -, auch keine Behörde kommt ohne Übertragung von Verantwortung und geregelte Zuständigkeiten, also Rangstrukturen, aus. Das eigentliche Demokratieprinzip bildet in größeren Einheiten die seltene Ausnahme; es funktioniert in Reinform nur in Landtagen und im Bundestag. Bereits in der kommunalen Selbstverwaltung wächst der Einfluss der (hierarchischen) Verwaltung. Ansonsten sind Unternehmen und Behörden generell nicht demokratisch, sondern in Rangfolgen strukturiert. So entstehen Verantwortungsbereiche, die klar bestimmten Personen zuzuordnen sind.
Generell gilt im Bereich der Machtausübung: Ein Amtsträger schuldet Rechenschaft für die Ausübung der Macht, die ihm anvertraut ist. Er muss für sein Tun und Lassen sowie für deren voraussehbare Folgen einstehen. Erfolg und Misserfolg der verantwortlich handelnden Menschen sind offensichtlich.
Bei demokratischen Abstimmungen liegt die Verantwortung bei einem Kollektiv, dessen Angehörige nur eine viel kleinere, untereinander verteilte individuelle Verantwortung tragen.
Politisierung der Kirche als Heilsweg?
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Demokratie als das einzig zeitgemäße Prinzip dargestellt und faktisch die Politisierung der Kirche als Heilsweg gepredigt wird, ist unangebracht. Geistliche Integrität und Autorität ist nicht durch die Etablierung von Mechanismen politischer Machtkontrolle ersetzbar. Bis zum Bekanntwerden des Missbrauchsskandals rangierte der Beruf des Pfarrers bei Umfragen an zweiter Stelle in der Beliebtheits- und Vertrauensskala, der Beruf des Politikers im untersten Bereich. Auch seitdem ist ein Pfarrer um ein Vielfaches beliebter als ein Politiker. Die Evidenz spricht also keineswegs für das angeblich alternativlos Zeitgemäße.
Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
Dieser Beitrag erschien gestern bei CNA Deutsch.