„Wir sind apostolische Fundamentalisten, marianische Feministen und christliche Logiker“ sagt Bernhard Meuser und antwortet differenziert auf den Fundamentalismus-Vorwurf, der von Regina Nagel erhoben wurde. Nehmen Sie sich einen Kaffee – es dauert etwas länger.
Wir fröhlichen Fundamentalisten
Ein Beitrag zur Unterscheidung der Geister
Das Problematische ist, dass es sie wirklich gibt – in eher schwachen Dosierungen, aber immerhin auffindbar: die „Dunkelkatholiken“, die noch immer von einer Allianz von Thron und Altar träumen, die „Erzkonservativen“, die das Rad der Kirchengeschichte hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurückdrehen möchten, die „Katholiban“, die gnadenlos die „Sünder“ brandmarken, aber den Balken im eigenen Auge nicht sehen, die „Protestantenfresser“ und Besitzer (nicht Diener an) der Wahrheit, die „Vertuscher“ im Amt, die den Missbrauch herunterreden und lieber einen Synodalen Umweg um die Geschichte herumbauen, als die eigenen Verstrickungen in die Geschichte zu bekennen. Aber zu behaupten, der Katholik schlechthin sei ein einziger, reformunwilliger, struktureller Fundamentalist, das erscheint nun doch begründungspflichtig. Sehen wir zu!
Christen in der Moderne: Fremdeln im Mainstream
Bislang kamen solche Einschätzungen in der Regel von außen, was nicht weiter verwunderlich ist: Wenn Euthanasie Standard autonomer Identität, und „Pro Choice“ integraler Bestandteil modernen Sexualverhaltens ist, dann müssen Christen, zu deren DNA das Fünfte Gebot und also der Lebensschutz von der Zeugung bis zum natürlichen Tod gehört, als Fundamentalisten erscheinen. Das Gleiche gilt für das Sakrament der Ehe: Wenn die Ehe von Mann und Frau in biblischer Perspektive der Masterplan Gottes ist, dann kann man von Christen nicht unbedingt verlangen, dass sie die von Gender betriebene pansexuelle Kampagne und die Auflösung jeder Form von geschlechtlicher Identität gut finden. Und wenn Kirche Mission „ist“, wie es das Zweite Vaticanum lehrt und zuletzt wieder Papst Franziskus betont, dann basiert das auf einem Selbstverständnis, das in Christus der Welt etwas an Heil und Erkenntnis geschenkt ist, das in keiner anderen Religion zu finden ist. Der Exklusivitätsanspruch des Christlichen ist die Fortsetzung der Kon-Zentration Jesu auf sich selbst („Wer an mich glaubt …“ Joh, 11,25). Die Kirche müsste schon Jesus aufgeben, um sich von Mission zu befreien.
Aufregend ist nun, dass die Fundamentalismus-Debatte den Herzbereich der Kirche erreicht hat. Katholiken beschuldigen andere Katholiken, Fundamentalisten zu sein. Irme Stetter Karp, die umstrittene ZdK-Chefin, fällt ins Inquisitorische zurück, wenn sie konservative Christen in die Nähe völkischer, nationalistischer und antidemokratischer Bestrebungen rückt[1] und den „rechten Rand“ vom kirchlichen Dienst ausschließen möchte. Nicht ausschließen möchte sie den linken Rand, etwa derer, die Abtreibung tolerieren; sie müsste sich ja selber ausschließen. Thomas Sternberg, der ehemalige ZdK-Chef, packt gleich die gesamte römische Kirchenzentrale mit dem Papst an der Spitze in die Fundamentalismus-Kiste: „So wie ich den Vatikan und seine unglaublichen Beharrungskräfte und Borniertheiten einschätze, kommt man nur weiter, indem man vollendete Tatsachen schafft.“[2] Rebellion der Aufgeklärten? Sturm auf die Kolonnaden?
Ist Neuevangelisierung Fundamentalismus?
Rund um den Weltjugendtag 2023, der mit etwa 1,5 Millionen Teilnehmern zu einem geradezu triumphalen Erfolg für Papst Franziskus wurde, ging nun die innerkirchliche Fundamentalismus-Debatte in eine neue Runde. Der Papst hatte den Weltjugendtag unter das Zeichen der Neuevangelisierung gestellt und von den jungen Teilnehmern schon im Vorfeld nicht weniger als einen missionarischen Aufbruch erwartet. Sehr zum Erstaunen der säkularen Presse, die sonst nur Nachrichten von einer Kirche in stehender Auflösung zu berichten weiß, sah man plötzlich fröhliche Jugendliche aus aller Welt, die beteten, sangen, die Sakramente empfingen, Katechese hörten. Das Internet wurde geradezu überschwemmt von positiven Nachrichten der Teilnehmer, die von persönlichen Lebenswenden sprachen. Regina Nagel, der deutschen Vorsitzenden der Gemeindereferent/innen fiel zu Lissabon nicht viel mehr ein, als „auf Gefahren durch fundamentalistische Gemeinschaften und Medien beim WJT“[3] hinzuweisen. Unter dieses Gefährdungspotential rechnete sie auch den Jugendkatechismus der Katholischen Kirche. Regina Nagel: „Wir sind auch noch da – nicht nur die, die auf der Neuevangelisierungwelle schwimmen!“
Offenkundig kollidierten zwei Kirchenbegriffe. Ist das, was der Papst da in Lissabon in Szene setzen ließ, die Kirche von gestern? Ist Neuevangelisierung Fundamentalismus? Und ist das versprengte deutsche Häuflein derer, die nicht „auf der Neuevangelisierungwelle schwimmen“ vielleicht die Kirche der Zukunft? Das ist die Frage – hopp oder topp. Wir haben einen Fundamentalismus-Streit und Regina Nagel gebührt das Verdienst ihn vom Zaun gebrochen zu haben, wiewohl sie selbst nicht in der Lage zu sein scheint, ihn argumentativ auch zu bewältigen. Unter Bedrängnis geraten, verwies sie auf die Quelle ihrer Grundannahmen, einen Aufsatz von Hermann Häring: „Versuchung Fundamentalismus – Gemeinsames Weltethos als Ausweg.“ (2013)[4]
Der Griff ins falsche Regal
Nun könnte man das als Missgriff abtun. Hermann Häring war der engste Weggefährte von Hans Küng und folgte ihm nach dessen Entzug der Lehrerlaubnis (und seiner eigenen Emeritierung) in das „Projekt Weltethos“, wo beide mit wachsender Distanz zur kirchlichen Herkunft einer postchristlichen, religionsübergreifenden, radikal humanistischen Position das Wort redeten – Stichwort „Moralagentur“.[5] Nun hat sich ein Großteil des liberalen Kirchenestablishments niemals wirklich von Küng losgesagt; die Annahme ist nicht einmal von der Hand zu weisen, dass dessen Unterminierung der real existierenden Kirche, schon gar eines verbindlich lehrenden römischen Lehramtes, bis heute sententia communis dieser Gruppe ist. Der Aufsatz von Häring ist deshalb einer intensiven Betrachtung wert. Er ist nämlich von bestürzender Klarheit und reich an Offenbarungen – über Hermann Häring, Regina Nagel, Irme Stetter Karp, Thomas Sternberg, zuletzt alle diejenigen (beispielsweise auf dem deutschen Synodalen Weg), die auf Basis dieser Tübinger Grundannahmen denken und jenseits ihrer Blase ungefähr alles unter Fundamentalismusverdacht stellen, was ihrer eigenen „Kirche als Wille und Vorstellung“ widerspricht. Ich werde den Aufsatz von Häring in markanten, manchmal wie Thesen daherkommenden Zitaten vorstellen und kommentieren.
Hermann Häring liefert in seinem Aufsatz und seinem gleichnamigen Buch[6] zunächst ein Lehrstück zur theologischen Erkenntnislehre. Der Unterschied zwischen Theologie und Religionswissenschaft besteht nämlich darin, dass Theologie in einer vernünftigen Auseinandersetzung mit ergangener Offenbarung besteht und unter der Glaubensvoraussetzung operiert, die schon Jesus seinen geschockten Jüngern („Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?“) in Joh 6,67 abverlangte: „Wollt auch Ihr gehen?“ Auch die Ich-bin-Worte Jesu sind semantisch klare Provokationen, an denen kein Leser des Evangeliums vorübergehen kann, ohne Jesus als den gekommenen Messias zu bekennen oder ihn für einen aufgeblasenen Hochstapler zu halten. Die Religionswissenschaft hingegen versteht sich als „bekenntnisunabhängige Gesellschafts- und Kulturwissenschaft.“[7] Weder Kirche noch Theologie generieren einen eigenen Absolutheitsanspruch, sie vertreten vielmehr den Absolutheitsanspruch Jesu. Jenseits der Bekenntnisgemeinschaft, aus der sich Häring mindestens methodisch herausnimmt, müssen Absolutheitsansprüche als rational nicht herstellbare Ansprüche erscheinen. Es gibt keinen Grund, sie deshalb für irrelevant zu halten.
„Fundamentalismus“, sagt Häring, „beginnt dort, wo jemand die eigene Position (gleich ob alt oder neu) als einen undiskutablen Standpunkt formuliert, sodass er über allen Diskurs erhaben und erhoben ist.“[8]
Damit setzt Häring zu einem gewaltigen Sprung an über die gesamte Dogmengeschichte; ja, er ignoriert von vorneherein, dass es so etwas wie ein „Dogma“ geben könnte, nämlich eine von Gott vor dem Tod des letzten Apostels geoffenbarte Wahrheit, die vom Lehramt der Kirche dem einzelnen Gläubigen unwiderruflich und universalkirchlich als verpflichtend zu glauben vorgelegt wird. Häring kennt nur das Jesuanische und die Gegenwart. Dass der Heilige Geist in der Kirche gewirkt haben könnte („Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.“ Joh 16,13) kommt nicht vor, ebenso wenig, dass es legitime Entwicklung in der Glaubenserkenntnis der Kirche gegeben haben könnte, „wenn“, wie John Henry Newman sagt, „die Idee ein und denselben Typus behält, die selben Prinzipien, dieselbe Organisation; wenn ihre Anfänge ihre nachfolgenden Phasen vorwegnehmen, und ihre späteren Erscheinungsformen ihre früheren schützen und fördern; wenn sie die Fähigkeit zur Assimilation und zum Wiederaufleben hat und eine kraftvolle Aktivität am Anfang bis zu Ende.“[9] Wie könne man denn überhaupt mit dem Islam in ein Gespräch kommen, meint Häring, solange das Lehramt, sprich„der katholische Fundamentalismus den christlichen Christusglauben mit dessen Dogmatisierung von Nikaia (325) und Chalkedon (450) identifiziert.“[10]
Von den gleich guten und gleich schlechten Religionen
Häring ist sichtlich bemüht einen religionsübergreifenden Ausgangspunkt zu finden, wobei er von der Annahme ausgeht, Religionen dürfe man nicht bewerten, in allen sei eine ethische Kraft enthalten, die man nur aus der Umklammerung fundamentalistischer Absolutheitsansprüche befreien müsse, um ihr eigentliches Potential für den Weltfrieden freizusetzen. Häring:
„Christliche Kirchen fühlen sich dem Islam oder Hinduismus immer noch überlegen. Der Koran wird immer noch verächtlich zum Buch einer unaufgeklärten Religion degradiert.“[11] Christen würden den Islam pervertieren, „wenn das Beiwort ‚islamistisch‘ hinzugefügt wird, so als sei der Islamismus prinzipiell gewalttätig.“[12] Der Islam müsse „sorgsam darauf achten …, dass er eine Religion der Barmherzigkeit und Gewaltlosigkeit bleibt.“[13]
Härings bemühte Irenik scheint die Ergebnisse der Forschungen zur Früh- und Wirkungsgeschichte des Islam, etwa die Standardwerke des Göttinger Islamwissenschaftlers Tilman Nagel[14], nicht zu kennen, in denen untersucht wird, woher der kriegerische und antijudaistische Charakter der Urschriften, wie der praktischen Eroberungsfeldzüge nicht nur der ersten Jahrhunderte kommt. Die Welt der Religionen ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass sich „die Religionen Indiens (Hinduismus genannt), die Weisheitsströme Chinas, die große fernöstliche Reformreligion des Buddhismus und die drei monotheistischen oder ´prophetischen´ Religionen des Nahen Ostens (Judentum, Christentum und Islam)“[15] in einer Art Äquidistanz befinden. Weltweit werden – so der sorgfältig dokumentierte 30. Weltverfolgungs-Index[16] des Hilfswerkes Open Doors – 360 Millionen Christen in mehr als 70 Ländern verfolgt, durch Gewalt bedroht oder diskriminiert. Während man in Nachrichtensendungen immer wieder von „interreligiösen Konflikten“ hört, als würde die Aggression auf Gegenseitigkeit beruhen, so werden hier die Dinge genauer analysiert.
Ein Kamm für alle Religionen?
Faktisch geht (anders als in manchen Phasen der Christentumsgeschichte) nirgendwo in der Welt Aggression von Christen aus. Christen verfolgen weder anders- oder nichtgläubige Minderheiten; sie unterdrücken weder Hindus, noch Muslime, noch gehen sie gewaltsam gegen atheistische Ideologien vor. Drei Hauptströme der Aggression sind der weltweit auf dem Vormarsch befindliche Islamismus, der sich immer extremistischer gebärdende Hinduismus und die Brutalität, mit der Christen in kommunistischen Ländern wie Nord-Korea oder China verfolgt werden. Christen halten derzeit so vorbildlich wie noch nie „die andere Wange“ (Mt 5,39) hin. Vermutlich passen sie nicht in das diskursoffene Konzept von Häring und Küng – die 21 Christen, die mit dem Wort „Jesus“ auf den Lippen an der Lybischen Küste hingerichtet wurden, weil sie um den Preis ihres Lebens am Absolutheitsanspruch ihres Herrn festhielten. „Ein christlicher Märtyrer“, heißt es im Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, „ist ein Mensch, der bereit ist, für Christus, der die Wahrheit ist, oder für eine aus dem Glauben entstandene Gewissensentscheidung Gewalt zu erleiden, ja sich sogar töten zu lassen. Dies ist genau das Gegenteil von islamistischen Selbstmordattentätern. Sie tun sich und anderen aus irregeleiteten Glaubensüberzeugungen Gewalt an und werden deshalb von Islamisten als ´Märtyrer, verehrt.“[17]
Indem Häring alle Religionen über einen Kamm schert, gerät auch der christliche Kirchenführer in ein schiefes Licht, der sich (wie es Tit 1,9 fordert) „an das zuverlässige Wort hält, das der Lehre entspricht, damit er in der Lage ist, in der gesunden Lehre zu unterweisen und die Widersprechenden zu überführen.“ Häring: „Wortführer einer Glaubens-, Volks- oder Interessengemeinschaft verschaffen sich Gewissheit, indem sie versuchen, gegenläufige Überzeugungen als Unglauben, Dummheit oder bösen Willen auszuschalten.“[18] Natürlich befindet sich im „Unglauben“, wer Mt 16,16 nicht mitspricht: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Der Unglaube des Ungläubigen muss nicht extra von anmaßenden Kirchenführern ausgeschaltet werden. Der Ungläubige selbst nimmt sich aus dem Spiel.
Angestaubter Modernebegriff
Zu fragen ist nun nach dem eigenen Angelpunkt, von dem aus Häring die Welt der Kirche als strukturellen Fundamentalismus diskreditiert. Wieso sollte auch der Katholizismus jenen „fundamentalistischen Zwängen“ unterliegen, „die inzwischen zur Weltseuche geworden sind … der gegebenenfalls in offene Gewalt umschlägt?“[19] Häring verstärkt die Fragestellung sogar noch einmal:
„Wirken die urchristlichen Tugenden wie Bekenntnistreue, Glaubensmut, Missionseifer, Gewissheit, Entscheidungs- und Gestaltungswille nicht wie Brandverstärker in einer Seuche, die um sich greift?“[20]
Der Tübinger Hermann Häring geht von einem geradezu mythisch aufgeladenen Begriff von Moderne aus, in dem die Tonlage des Deutschen Idealismus durchklingt, als ob das humane Level der Gegenwart die Spitze der Aufklärung und der zivilisatorische Gipfel sich ereignender Vernunft überhaupt wäre, wobei es neben dem Weltgeist keines Heiligen Geistes mehr bedarf, und neben der Profangeschichte keine Heilsgeschichte. “Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben,” befand Hegel 1837 in der Einleitung zur “Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte“[21] Häring – wie nach ihm die theoretischen Protagonisten auf dem Synodalen Weg, allen voran Eberhard Schockenhoff[22] – sieht in der Kirche eine prärationale und vormoderne Institution, die ihre Zuflucht noch nicht „zu einem vorbehaltlosen Vernunftgebrauch“ genommen hat, „zu dem uns die Säkularisierung neue Zugänge eröffnet hat.“[23] Gäbe es freilich eine Rationalität des Glaubens nur unter der Bedingungen der Säkularisierung, verstanden als Leugnung von Transzendenz und Ausgrenzung der Möglichkeit des Sakralen – also des Einbruchs des Heiligen in die geschlossene Welt der Vernunft – wäre Theologie eine Tautologie. Das selbstverständlich Rationale braucht keine zusätzliche Erleuchtung von oben. Längst haben Theologen und Philosophen (Robert Spaemann, Jean-Luc Marion etwa) zu einer Religionskritik der Vernunft gefunden. Häring noch nicht.
Das vorbehaltlose Lob der Moderne, dass sich quer durch den deutschen „Synodalen Weg“ zieht, findet sich nun doch reichlich ungeschützt bei Hermann Häring.
„Moderne findet dort statt, wo Menschen damit beginnen, die Welt ausdrücklich als machbar zu begreifen und deshalb über die Bedingungen ihrer Existenz, ihrer Lebens- und Denkformen nachdenken. Warum leben wir so, wie wir leben und können wir das ändern? Wie können wir die Natur und ihre Regeln zur Überwindung der Natur einsetzen? Aus welchen vergangenen Ereignissen und Erinnerungen leben wir, wie können wir Texte aus ihrer Entstehungszeit heraus verstehen und auslegen?“[24]
Härings Aufsatz stammt von 2013 und transportiert einen schon damals aus der Zeit gefallen Fortschrittsoptimismus und Machbarkeitswahn, der heute angesichts von Gentechnologie, Transhumanismus, dem Hype um Geschlechtsumwandlungen und KI Schaudern erregt. Moderner war schon damals der von Häring dauergescholtene Papst Benedikt, der 2011 im Deutschen Bundestag daran erinnerte, dass es eine „Ökologie des Menschen“ gibt, denn „auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann … Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur.“[25]
Rendezvous mit einer Leiche?
Bei Häring begegnet also das moderne Subjekt, das endlich „machen“ kann, nachdem es sich von mythologischen Einsprüchen befreit hat:
„Auch die Glaubensaussagen“, lehrt Häring, „geraten jetzt zum Produkt unserer Erkenntnisaktivität. Wo bleibt Gottes Wort? Benennungen werden zu Symbolen, Darstellungen zur Schöpfung menschlicher Autoren. Das Wort Gottes verschwindet hinter menschlichen Projektionen.“[26]
Häring, der sich immer noch als Theologe geriert, benutzt „den wertvollen Schatz“, den „wir in zerbrechlichen, tönernen Gefäßen“ bewahren (2 Kor 4,79) als Materialsammlung, aus dem man Beliebiges hervorziehen kann, so es sich als bedeutsam für die Existenz heute erweist. Der evangelische Bibelwissenschaftler Rudolf Bultmann hat das schon einmal vorexerziert, als er in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts meinte feststellen zu müssen, von Jesus könne man „eigentlich nichts wissen“, um die Leerstelle mit Existenzialismus zu füllen und ein von Inhalten befreites Christentum „auf der Nadelspitze des Augenblicks“[27] anzusiedeln.
Nicht nur die Kirche wird zur „ehemalige(n) Hülle des Heiligen.“[28] Häring stellt die Verhältnisse auf den Kopf: Nicht mehr das Offenbarwerden Gottes beansprucht den Menschen; der Mensch beansprucht das kirchlich beschlagnahmte mythische Material zur produktiven Verarbeitung im Heute: „Wer sich mit neuer Energie an den Quellen des Heiligen andocken will, wird sie in sich selbst finden, in anderen Menschen und in den dramatischen Erfahrungen gegenseitiger Begegnung, des Beschenkens und Beschenktwerdens.“[29]
Erinnerungen an Stuhlkreise werden wach, wenn Häring ins Schwärmen kommt, wie das eigentlich sein müsste unter vernunftgeleiteten, von Priesterherrschaft befreiten Christenmenschen: „Statt das Heilige im Geschehen der Gemeinde, in guten Beziehungen und Taten der Liebe oder in der aktiv vollzogenen Erinnerung an Jesus Christus zu sehen (etwa im Akt des gemeinsamen Essens und Trinkens) wurde die Sakralität in wachsendem Maße personalisiert bzw. veramtlicht und verdinglicht.“ Nach der Befreiung vom mythologischen Text und einem „fundamentalistischen Kirchenkonzept (Kirche als übernatürliche Heilswirklichkeit)“ wird das Zwischenmenschliche zum Heiligen, und „Erinnerung“ soll – wo von einer realen, sakramentalen Gegenwart Christi nicht mehr die Rede sein kann – den garstigen Graben zwischen heutiger Glaubensrelevanz und einem im ungreifbar Antiken verschwimmenden Text herstellen. Bloß – warum sollte ich mich ausgerechnet an Jesus erinnern? Wozu das Rendezvous mit einer Leiche?
Die Reinigung des fundamentalistischen Tempels
Wie befreit sich Häring nun aus den „fundamentalistischen“ Mustern überkommener Lehre? Scheinbar wirkt noch immer ein Saulus-Paulus-Erlebnis aus dem Studium nach, das ihm offenkundig erlaubte „über die Schwelle der Moderne auch in seinem Glauben“[30] zu gehen. „So erinnere ich mich noch daran, wie mir zum ersten Mal eine Mitstudentin erklärte, das Jesuswort vom Bau der Kirche (Mt 16,18) sei ´nachösterlich´.“[31] Bei dieser Erkenntnis scheint Häring stehengeblieben und an hundert Jahren Forschungsgeschichte vorbeigelebt zu haben. Die isolierte Kategorie ´nachösterlich´, die wohl erstmals der Deist Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) verwendete, um den Apostelbetrug zu erweisen und einen Keil zwischen Jesus und die Kirche zu treiben, gebraucht heute kaum noch ein seriös arbeitender Exeget. Seit langem schon weiß man nicht nur um eine „Implizite Christologie“ (Walter Kasper, 1974), sondern auch um eine „Implizite Ekklesiologie“ (Wolfgang Trilling, 1988). Das komplexe Netz der Bezüge, das Jesus sowohl mit dem Judentum wie mit der frühen Kirche verbindet, ist zu einem schier unerschöpflichen Forschungsfeld geworden.
Häring aber hält noch immer an der Mär von der hellenistischen Überfremdung des eigentlich Jesuanischen fest, um in einer Tour de Force von der paulinischen Urfälschung an die gesamte Theologie- und Kirchengeschichte als Dekadenzerzählung zu gestalten, die mit einem ideal gezeichneten, unanstößigen Jesus beginnt – freilich einem in der Antike versiegelten Weisen, der nur in der produktiven Erinnerung Einiger weiterlebt, in der kollektiven Verarbeitung der Kirche Stufe für Stufe verfremdet wird, um endlich im antimodernistischen Fundamentalismus und nackten Machtanspruch der Ratzingerkirche als Karikatur des wahren Jesus zu kollabieren: „Sakralisiert wurde in der Alten Kirche schon das Amt des Bischofs und verdinglicht wurde das Mahlgeschehen im Mittelalter als Teil der Inkulturation in germanische Kulturen. Im Gefolge der paulinischen Metaphorik verstand sich die Alte Kirche als Leib Christi, seit dem 11. Jahrhundert wird sie zum ´mystischen´ (das meint im damaligen Sprachgebrauch: symbolisch verstandenen) Leib degradiert. Warum? Weil der frühere ´mystische´ Leib Christi jetzt zum ´wahren´ Leib Christi hochgestuft wurde. Jetzt gelten Brot und Wein als real verwandelt. Es wird buchstäblich wie Jesus Christus selbst verehrt. Man löst das Brot vom Mahlgeschehen ab, trägt es in der Monstranz als das ´Allerheiligste´ herum und schätzt dies in den Bräuchen des ´ausgesetzten Allerheiligsten´ und der Fronleichnamsprozession.“[32] Die Geschichte kulminiert in einem Katholisch-Evangelisch-Vergleich: „Wie der protestantische Fundamentalismus keinen Spalt zwischen Bibel und Gottes Wort entstehen lässt, so lässt der römische Katholizismus keinen Spalt zwischen Lehre und Gottes Wahrheit aufbrechen. In dieser Geisteshaltung verstand sich die römisch-katholische Kirche seit dem 19. Jahrhundert als ´fortlebenden Christus´ und diese nachdrücklich betonte Unmittelbarkeit erhält die Überzeugung am Leben, dass der Papst der Stellvertreter Christi sei und dass die Priester an Stelle der Person Christi (in persona Christi) handeln.“[33]
Die Kirche der Gegenwart erweist sich als der nunmehr brechende Granit eines in 2000-Jahren gewachsenen machtgestützten Widerspruchs zur Vernunft selbst: „Mit ihrer (i.e: der Glaubenskongregation) Hilfe hat die offizielle römisch-katholische Kirchenleitung das konsequenteste antimodernistische, sprich: fundamentalistische Kirchensystem entwickelt, das man sich denken kann; denn der Antimodernismus hat sich mit dem Kirchensystem selbst auf dichteste Weise verschmolzen, sodass der Begriff des Fundamentalismus selbst gar nicht in Übung kam.“[34]
Nostalgie …
Unter die infektiösen fundamentalen Haltungen rechnet Häring ad 1 die „Nostalgie“, wobei er im Raum des katholischen Glaubens wohl an ritualisierte Erinnerungsprozesse und wiederkehrende Liturgien denkt, die „zur neuen Standortbestimmung und Selbstsicherung“[35] dienen. Das kann – Häring zufolge -Fundamentalismus sein, wenn es die Macht der Institution stabilisiert, es mag aber auch anders sein:
„Vital wache und zur Auseinandersetzung prädestinierte Menschen schlagen aus der Vergangenheit immer neue Funken zur Bewältigung der Gegenwart.“[36]
Mit diesem Gegensatz unterstellt Häring der sakramental verfassten Kirche, ihr Interesse am Gegenstand Jesus sei antiquarisch, psychologisch oder strategisch motiviert – und leite sich nicht aus dem Glauben an die reale Gegenwart Christi in Wort und Sakrament her. Lob erhält die gnostische Avantgarde der Wachen, die sich auf die vergangene Vergangenheit nur noch in der Hinsicht beziehen, dass sie einen „Funken zur Bewältigung der Gegenwart“ daraus zu schlagen vermögen.
… Satzpositivismus
Ad 2 rechnet Häring mit dem sogenannten „Satzpositivismus“ ab: „Das Schriftwort wird zum magischen Ereignis; es gilt als unberührbar und heilig. … Probleme entstehen, wenn sich die ursprünglichen Kontexte ändern und wenn institutionelle Strukturen bestimmte Deutungen plausibel erscheinen lassen.“[37]
Sprachwissenschaftliche Überlegungen, wonach es eine intentionale Differenz zwischen der Sache und seinem sprachlichen Ausdruck gibt, werden benutzt zur gezielten Verunklärung der Heiligen Schrift. Schriftworte seien nur „kontextuell“ interpretierbar und keineswegs direkte Ansagen Gottes. „Deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mk 2,9) Kann man Jesus nicht verstehen? Ist Mehrdeutigkeit wirklich die Regel des Wortes und nicht die Ausnahme? Und ist das Heilige an der Heiligen Schrift Ausfluss einer angemaßten Deutungshoheit durch die Kirche? Bewahrt die Kirche nicht die Menschen vor ihren notorischen Ausweichbewegungen angesichts deines Wortes „kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark.“ (Hebr 4,12)? In Wahrheit depotenziert Häring das anstößige, herausfordernde, fremde, richtende Wort Gottes, um freie Schussbahn zu haben für eine Theologie der Wunscherfüllungen moderner Subjekte.
… Magie
Ad 3 schließlich attackiert Häring die „Magie“ und propagiert ein purgiertes, garantiert wunderfreies, rationales Christentum, das in vieler Hinsicht an die Jefferson-Bibel erinnert, nämlich den Versuch des Gründervaters der Vereinigten Staaten, eine von allen Wundern, Prophezeiungen, Engeln und überhaupt übernatürlichen Ereignissen bereinigte Bibel zu erstellen.
Und so bleibt vom ganzen Häring am Ende aller Subtraktionen vom Reichtum der Offenbarung ein Aschehäuflein. Hat man den Katholizismus einmal von Jesus getrennt, ihn, von seinen Absolutheitsansprüchen befreit, ihn sauber unter die Religionen einsortiert, zeigt sich seine allgemeine Nützlichkeit im Kontext des Weltfriedens. Die gezähmten Religionen „fungieren (im Negativen wie im Positiven) als die zentralen Moralagenturen der Welt.“[38]
Apostolische Fundamentalisten
Man muss sich dieser epidemisch um sich greifenden Vision nicht anschließen – und zwar aus Glaubens- und Bekenntnisgründen. Wir sind – könnte man etwas pointiert sagen – apostolische Fundamentalisten, marianische Feministen und christliche Logiker! Apostolische Fundamentalisten sind wir, weil die Kirche auf das Zeugnis des Glaubens und das Fundament der Apostel gebaut ist und nicht auf den Flirt mit einem dogmatischen Rationalismus. Marianische Feministen sind wir, weil unser Glaube auf Hingabe beruht – „Mir geschehe nach deinem Wort“ (Lk 1,38) – und nicht auf der Machbarkeitsideologie und dem Machtstreben moderner Autonomisten. Und christliche Logiker sind wir, weil der Logos endgültig erschienen und in der Welt wirksam ist, und weil man die göttliche Logik mit den Augen des Glaubens durchaus erkennen und mitvollziehen kann.
Wir fröhlichen Fundamentalisten!
Anmerkungen (Zur bessreen Lesbarkeit wurden Links in den Fließtext aufgenommen und wo es sinnvoll schien, gegenüber dem Original ergänzt.)
[1] https://www.kirche-und-leben.de/artikel/stetter-karp-afd-mitglieder-duerfen-kein-kirchliches-laien-amt-bekommen
[2] https://www.domradio.de/artikel/theologe-sternberg-plaediert-fuer-weihen-von-viri-probati
[3] https://www.katholisch.de/artikel/46427-wo-blieb-die-kritische-berichterstattung-ueber-den-weltjugendtag
[4] https://www.hjhaering.de/versuchung-fundamentalismus
[5] Ebd., S. 13
[6] Herrmann Häring, Versuchung Fundamentalismus: Glaube und Vernunft in einer säkularen Gesellschaft, Freiburg 2013
[7] https://www.uni-marburg.de/de/fb03/ivk/fachgebiete/religionswissenschaft/religion-am-mittwoch/profil/was-ist-religionswissenschaft
[8] Häring, Aufsatz, aaO. S. 6
[9] John Henry Newman, Über die Entwicklung der Glaubenslehre, S. 153
[10] Häring, Aufsatz, S, 9
[11] Ebd., S. 11
[12] Ebd., S. 2
[13] Ebd., S. 11
[14] Tilmann Nagel, Mohammed – Leben und Legende, 2008; Tilman Nagel, Allahs Liebling: Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, 2008
[15] Häring, Aufsatz, S. 12
[16] https://www.opendoors.de/sites/default/files/copyright_open_doors_2023_wvi_bericht.pdf
[17] YOUCAT, Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, Randspalte zu Frage 454 „Wie stark verpflichtet die Wahrheit des Glaubens?“
[18] Ebd, S. 2
[19] Ebd., S.2
[20] Ebd., S.11
[21] G.F.W. Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, Frankfurt TWA, S. 31
[22] In seinem Referat bei der Lingener Tagung der Bischofskonferenz vom 13. März 2019, „Die Frage nach der Zäsur. Studientag zu übergreifenden Fragen, die sich gegenwärtig stellen, sprach Schockenhoff vom „unüberbrückbaren Abstand zum Lebensgefühl der Moderne.“
[23] Ebd., S. 2
[24] Ebd., S. 5
[25]Ansprache an den Deutschen Bundestag in Berlin (22. September 2011): L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 41, Nr. 39 (30. September 2011),
[26] Ebd., S. 5
[27] Josef Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, Regensburg 1977, S. 53
[28] Häring, Aufsatz, S. 4
[29] Ebd., S. 4
[30] Ebd., S. 6
[31] Ebd., S. 6
[32] Ebd., S.3
[33] Ebd, S. 8
[34] Ebd., S. 8
[35] Ebd., S. 2
[36] Ebd., S. 2
[37] Ebd., S. 3
[38] Ebd., S. 13