Weisung und Weisheit. Ein Versuch zur Tora als Grundgestalt biblischer Ethik
Dieser Vortrag wurde am 30. Oktober 2022 im Rahmen des 5. Online-Studientags der Initiative „Neuer Anfang“ unter dem Titel „Der Glanz des Guten – Warum die christliche Moral ihre Zukunft noch vor sich hat“ von Dr. Martin Brüske gehalten. Der Vortrag kann auch als Video auf unserem Youtube-Kanal unter diesem Link angesehen werden.
Weisung und Weisheit sind die Quellen biblischer Ethik. Weisung – das meint Tora. Tora ist mehr als Nomos, Gesetz. Tora als Weisung verweist – jedenfalls zunächst – auf jene Grundgestalt des göttlichen Wortes, die den Menschen aus der Transzendenz Gottes trifft und auf einen Weg ruft. „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“ (Ps 95,7f.)
In komplementärer Gegensätzlichkeit dazu zeigt sich – wiederum zunächst – die Gestalt biblischer Weisheitsrede. In der grundlegenden Form der Spruchweisheit handelt es sich um im Kunstspruch verdichtetes Erfahrungswissen. Beobachtung gewinnt, Reflexion verarbeitet solche Erfahrung. In der Widerfahrnis der gebietenden Stimme Gottes ist der Mensch hörend beim anderen. In Beobachtung und Reflexion ist der Mensch bei sich. Dieser Beitrag möchte zweierlei zeigen: zum einen die biblische Dialektik dieser Grundgestalten, zum anderen ihre Unverzichtbarkeit auch für die ethische Reflexion von Christinnen und Christen. Eigentlich müssten wir dazu sowohl das biblische Phänomen „Tora“ wie das biblische Phänomen „Weisheit“ betrachten, um sie dann in Beziehung zu setzten. Das führt aber hier zu weit. So konzentrieren wir uns auf die theologisch-ethische Deutung der Tora, so wie sie sich im Koordinatensystem einer biblischen Theologie zeigt und erweisen die Dialektik von Weisung und Weisheit als ein ihr inneres Moment.
Dabei ist klar, dass die Tora die Tora Israels ist. Sie gilt nicht in gleicher Weise für Christinnen und Christen aus der Völkerwelt. Dennoch hat sich die Frage nach der Tora damit nicht erledigt. Durch das Christusereignis und die Gabe des Geistes ist die Frage nach der Tora transformiert, aber nicht weniger drängend. Denn in dieser Frage verbirgt sich die Frage nach der Lebensform der Christenheit und daran wiederum entscheidet sich Wahrnehmbarkeit und Plausibilität des Christentums. In diesem Sinne wäre ein torafreies Christentum ein Elend. Tora jedoch, die nicht zuletzt auch Weisheit ist, würde zu einem heteronom-nominalistischen Gebotspositivismus verfallen.
1. Der anthropologische Horizont: Autopoiese, Selbsterhaltung und Gottvergessenheit in Gen 11
Die Erzählung vom Turmbau zu Babel, mit der bekanntlich die biblische Urgeschichte endet, spielt Grundfragen einer biblisch inspirierten Ethik ein, die sich durch die gesamte Bibel und zwar auch und gerade durch die Verkündigung Jesu ziehen. Diese Behauptung mag im ersten Augenblick überraschen, erhärtet sich aber sehr rasch, wenn man bereit ist, die Erzählungen der Urgeschichte als Reflexion auf menschliche Ursituationen zu lesen. Dann zeigen sich diese Erzählungen als anthropologisch abgründig und unauslotbar: Gebot und Geschöpflichkeit, Gewalt, Bosheit und Chaos, um wenigstens einige kursorische Stichworte zu nennen – und eben die Ambivalenz kultureller Leistung, wie sie sich im Städtebau verdichtet.
Denn Städtebau im altorientalischen Kontext bedeutet die Schaffung eines geordneten Zentrums gegenüber einer chaotischen Peripherie. In der Intention der Städtebauer von Gen 11 spiegeln sich dann auch menschliche Urbedürfnisse: „Sich einen Namen machen“ um der Zerstreuung zu wehren, bedeutet das Ringen um Einheit und Identität gegenüber der ständigen Drohung chaotischer Auflösung. Erreicht werden soll dies eben durch die zivilisatorische Urleistung des Städtebaus. Mithin haben wir es hier mit einem Akt der Selbstherstellung zu tun: Autopoiese durch Kultur. Der Raum menschlicher Selbsttranszendenz wird dabei vom Menschen her ausgefüllt. Dies repräsentiert der Turm, der bis zum Himmel reichen soll.
Das Leiden an der Gottvergessenheit
Tatsächlich spiegelt sich in dieser Erzählung also eine anthropologische Urgegebenheit: Der Mensch ist von Natur aus Kulturwesen. Er muss sein Leben kulturell führen – Last und Lust zugleich. Sonst sinkt es ins Chaos des Identitätsverlustes in der „Zerstreuung“ zurück. Aber zugleich wird die theologische Ambivalenz kultureller Leistung aufgedeckt: Das Projekt kultureller Autopoiese durch Städtebau leidet unter fundamentaler Gottvergessenheit. Denn der kommt im Projekt unserer Städtebauer schlicht nicht vor. Selbsterhaltung hypertrophiert und wird zugleich gottlos. Das Eingreifen Gottes ist Strafe und Bewahrung zugleich: Der „erfolgreiche“ Versuch der konsequenten, um sich drehenden, auf sich zentrierten Selbsterhaltung durch kulturelle Leistung ist letztlich tödlich, weil er sich vom letzten Grund des Lebens abschottet.
Gottvergessenheit und damit verbunden die Gefahr einer gänzlich auf sich zentrierten Selbsterhaltung, die sich von ihrem letzten göttlichen Lebensgrund in ihrer Hypertrophie abschneidet, ist aber ein Grundthema biblischer Ethik. Auch in der Verkündigung Jesu ist dies ein schlechterdings zentraler und grundlegender Punkt: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.“ (Lk 9,24 u.ö.) Biblische Ethik dreht sich in einer ganz wesentlichen Linie um die Frage, wie menschliches – und damit kulturelles – Leben so möglich ist, dass die Verbindung mit dem göttlichen Grund des Lebens aufrechterhalten bleibt und nicht in Gottvergessenheit erstickt. Dabei wird die Stadt biblisch ambivalent. Sie umfasst die Gottlosigkeit Babylons ebenso wie die Gottunmittelbarkeit des himmlischen Jerusalems als letztes Bild der Vollendung.
2. Das Ereignis der Offenbarung als Ruf aus der Gottvergessenheit in seine Zukunft
In der lapidaren Feststellung von Gen 12,1: „Und Gott sprach zu Abram“ wird Abram / Abraham aus seiner statischen, altorientalisch-städtischen Existenz in eine lebenslange Bewegung in die Zukunft Gottes hinein gerufen. Denn es ist gewiss kein Zufall, dass Abraham in einer Stadt lebt, aus der er herausgerufen wird. Und die Abrahamserzählung folgt ja – mit einigen überleitenden genealogischen Versen – direkt auf die vom Turmbau zu Babel. Der Ruf Gottes unterbricht den dreifachen Lebenszusammenhang von Land, Verwandtschaft und Vaterhaus seiner bisherigen, eben städtischen Existenz, der ein kultureller Zusammenhang war, der selbstverständlich auch altorientalische Religion einschloss, und macht Abraham von nun an zum umherziehenden Nomaden. Gerade so jedoch ist er auf dem Weg in die Zukunft Gottes – eine Zukunft, die für den Hebräerbrief wiederum die Gestalt einer Stadt hat, einer besseren, künftigen, vollendeten, himmlischen Stadt.
Suchendes Unterwegssein
Aber nachdem ihn der Ruf getroffen hat in unerwarteter Plötzlichkeit, wie aus dem Nichts – und Abraham sich gehorsam rufen lässt, ist er erst unterwegs dorthin. Und genau dieses suchende Unterwegssein macht für den Hebräerbrief den Glauben aus. Denn der rufende Gott konstituiert durch seinen Ruf den Weg, auf dem Abraham geht. Der Ruf erzeugt die Lichtspur, der Abraham folgen kann. „Dein Wort ist meinem Fuss eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade.“ (Ps 119,105).
Dies hat damit zu tun, dass der Grundcharakter dieser Offenbarung zwar wahrhaftig den rufenden Gott deutlich werden lässt, aber dabei nicht den primären Charakter von Lehre hat, sondern von Weisung (der Befehl zum Auszug) und Verheissung (Land, Nachkommenschaft, Segen). Die Einheit von Weisung und Verheissung eröffnet den Weg, die Lichtspur in die Zukunft Gottes. So kann Abraham im Gehen Gottes gedenken. Denn im Gehen bleibt ihm der Ruf Gottes gegenwärtig.
Er geht mit und vor Gott. Obwohl auch er immer wieder – die Erzählungen von der Gefährdung der Erzmutter machen dies deutlich – von der Gottvergessenheit bedroht ist, ist sie im gehenden Gehorsam gegenüber dem Ruf, in der suchenden Verfolgung der Lichtspur des Wortes, grundsätzlich aufgebrochen. Als Einheit von Weisung und Verheissung eröffnet Gottes Wort den Weg in seine Zukunft. Als Einheit von Weisung und Verheissung präfiguriert es das Phänomen der Tora.
3. Die Offenbarung des Namens, die Anrufbarkeit Gottes und die Verheissung seiner Gegenwart
Das Phänomen der Tora ist jedoch nicht situiert im luftleeren Raum. Es hat seinen Ort in einem personalen Beziehungsgefüge, dass die Anrufbarkeit Gottes und die diesem Anruf verheissene Gegenwart (Namensoffenbarung) als Kern und die grundsätzliche, befreiende und erlösende Beziehungswilligkeit Gottes als Kontext (Bund) umschliesst. Beides – Anruf wie Bund – sind wiederum präfiguriert in der Erzelternerzählung. Der Gehalt des Themas „Name“ ist biblisch beinahe unerschöpflich. Für uns jedoch ist vorerst wichtig, dass die durch die Offenbarung des Namens gegebene Anrufbarkeit Gottes, der später seine Gegenwart verheissen wird, gleichsam den personalen Raum der Tora bildet.
Tora wäre ohne diesen Beziehungsraum gänzlich missverstanden. Die Vorstellung der Tora als eine gleichsam „pure“, abstrakte Summation von Geboten und Verboten führt völlig in die Irre. Dieser Beziehungsraum, der durch die Offenbarung des Namens konstituiert wird, zeigt einen völlig souveränen, sich selbst vorbehaltenen, absolut weltüberlegenen Gott, der nicht der Geheimnisgrund der Wirklichkeit ist, ihre „Tiefe“ gleichsam, sondern sich aus seiner Selbstvorbehaltenheit frei – darin allerdings unbedingt verlässlich und treu – zuwendet. Wir werden gleich sehen, wie Tora entscheidend auf diese Eigenart des seinen Namen offenbarenden biblischen Gottes bezogen ist.
4. Die Beziehungswilligkeit Gottes und der Bund
Ebenso wichtig ist, dass alle Beziehungsstiftung, die diese Zuwendung Gottes weiter konkretisiert (Bund), von Gott ausgeht und der Tora vorausliegt. Gegenüber allen, unendlich oft von christlicher Seite wiederholten Missverständnissen ist von grösster Bedeutung, sich diesen Grundzusammenhang wirklich immer wieder klarzumachen. Es ist nicht der Mensch, der durch das Tun der Tora diese Beziehung erst stiftet. Sondern Gottes erlösende und befreiende Beziehungsstiftung im Bund liegt der Tora voraus.
Die Tora hat ihren Sinn und Ort nur in diesem vorgängigen Beziehungsgeschehen. Sie ist nicht etwa der Zugang dazu. Man nennt diese Figur bekanntlich „Bundesnomismus“. Sie ist historisch die einzige sachrichtige Beschreibung – nicht allein, aber wesentlich auch des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter: Jüdische Menschen haben jedenfalls auch in dieser Epoche nicht geglaubt, dass sie durch eigene Werke der Gerechtigkeit Erlösung und Rechtfertigung erlangen. Und – was hier nicht gezeigt und erläutert werden kann – Paulus hat dies, wenn man genau liest, auch nicht unterstellt. Vielmehr haben christliche Theologen über viele Jahrhunderte Fragen einer anderen Epoche in die antiken Texte hineingelesen.
5. Die Tora stiftet die Lebensform des Gottgedenkens als Weg der Befreiten vor Gott
Erst in diesem in den Punkten 1 – 4 skizzierten Koordinatensystem wird deutlich, was Tora ist. Ihr materialer Bestand in Gebot und Verbot beischreibt noch nicht ihr Wesen, so sehr er konstitutive Bedeutung hat und in der Diskussion um ihre Auslegung immer wieder konkret eben darum gerungen werden muss. Oben jedoch wurde es schon angedeutet: Wer sie als blosse Summation von Normen versteht, hat sie verfehlt.
Was aber ist dann ihr Sinn, wenn doch das Gebot dennoch ihr materialer Bestand bleibt? Wir müssen sie nur als Ganzheit verstehen und in den zuvor entwickelten Zusammenhang einfügen. Als Ganzheit ordnet die Tora Leben zur Form: In der Tora stiftet der rufende Gott die Lebensform, die es den Gerufenen ermöglicht vor Gott zu gehen, ohne ihn zu vergessen. Gegenüber dem Hang des Menschen zur Gottvergessenheit ist die Tora die Lebensform des Gottgedenkens. Sie ist die Lebensform, die dem personalen Raum der Anrufung Gottes im Namen entspricht. Ihm entsprechend hält sie die ganze Existenz gedenkend in diesen Raum hinein. Die Tora schützt den Beziehungsraum des Bundes. Sie setzt Gottes befreiendes Handeln voraus. Versklavte vermögen die Tora nur sehr eingeschränkt zu tun.
Tora ist zielgerichtetes Leben
Tora zeichnet den Weg der Befreiten vor: Sie stiftet für den einzelnen und die Gemeinschaft den Weg in die Zukunft Gottes. Denn sie ist unabtrennbar von Gottes Verheissung. Im Tun der Tora vertraue ich mich zugleich Gottes Verheissung an – und damit seinem Segen und seiner Sorge. So wird nicht nur eine Lebensform des Gottgedenkens durch Gottes Ruf geschaffen, sondern die Projekte menschlicher Selbsterhaltung heilsam begrenzt. Weisung und Verheissung bilden so eine Einheit, die Weg eröffnet und in Gottes Zukunft führt. Sie ist also grundlegend dynamisch und nicht statisch.
In der Tora als Lebensform wird sichtbar, was dem fixierten Blick auf die blosse Summe von Geboten und Verboten verhüllt bleibt: Tora formt ein zielgerichtetes Leben, das vor und mit Gott, seiner gedenkend, immer tiefer in den Segensraum seiner Gegenwart hineingehen will. Deshalb ist diese Grundgestalt biblischer Ethik sehr gut kompatibel mit klassischen Ethiken, die nach dem Glücken menschlichen Lebens und nach der stabilen Ausrichtung auf das Gute in der Tugend fragen. Wer diese Grundbedeutung der Tora als Konstitution einer zielgerichteten, die Ganzheit eines Lebens umfassenden Form eben dieses Lebens begriffen hat, findet auch nicht mehr paradox, dass reine Gebots- und Pflichtmoralen entgegen dem Anschein – gern berufen sie sich ja auf das Zehnwort vom Sinai – dem, was Tora als Gestalt von Ethik bedeutet, gerade nicht entsprechen.
Grund-legend – im Sinne eines wirklichen Fundaments – kann dies am praktischen Monotheismus des ersten Gebots gelernt werden. Denn es geht hier nicht primär um ein theoretisches Bekenntnis, auch nicht nur um die alleinige Verehrung des Gottes Israels in einem äusseren Sinn. Sondern vielmehr um die Praxis der tagtäglichen und deshalb lebensformenden Unterscheidung von Gott und Welt und Gott und Götze angesichts des fundamentalen Hangs des menschlichen Herzens zur Produktion von Götzen, d.h. der Aufladung endlicher Wirklichkeiten mit der Energie des Absoluten. Mithin verweist das erste Gebot auf eine Lebensform, in der der Gott Israels in seiner souveränen Transzendenz anerkannt, geehrt und angebetet wird. Dies wird in reinen Gebots- und Pflichtmoralen unsichtbar.
6. Gebots- und Pflichtmoralen als Folgen des Nominalismus
Dass die Tora mit der äusseren Summation von Geboten und Verboten verwechselt werden konnte und gleichzeitig neuzeitliche Gebotsmoralen ihre Grundlage im Zehnwort vom Sinai suchten, hängt mit einer fundamentalen Veränderung philosophischer Hintergrundannahmen zusammen: dem Siegeszug des Nominalismus. Der Versuch seiner Abwehr im Formalismus der Freiheit in der kantischen Ethik, die als Alternative zu heteronomen Gebotsmoralen eine autonome Pflichtmoral formuliert, ist meiner Überzeugung nach letztlich nicht gelungen, sondern hat das Problem – trotz aller hochbedeutsamen Erträge – lediglich verschoben.
Der Nominalismus begründet das Gebot in der reinen Positivität des Willens Gottes. Er isoliert es damit in mehrfacher Hinsicht. Er isoliert es vom Zusammenhang der Einheit von Weisheit und Güte in Gott selbst. Er löst den lebenstiftenden und lebenschützenden Zusammenhang der Gebote untereinander positivistisch auf. Er isoliert schliesslich das Gebot vom sinnhaften Zusammenhang menschlichen Lebens. So wird das Gebot im strengsten Sinne „Nomos“, Gesetz, das als rein äussere Normativität von aussen trifft. Es verliert seinen Charakter als Weisung zum Leben. Es tötet, wenn es kraftvoll genug ist, indem es das menschliche Leben unterbricht und stillstellt.
Aber lag das denn nicht bereits im Grundcharakter dessen, was wir als Tora beschrieben haben, insofern auch wir gesagt haben: Es handelt sich um einen Ruf, ein Wort Gottes, das von aussen trifft? Ist denn hier nicht ein heteronomer Offenbarungspositivismus, ein Positivismus des autoritär verpflichtenden Gebots – trotz aller gegenteiliger Beteuerungen – die unvermeidliche Konsequenz? Die Antwort darauf umfasst das Zusammenspiel dreier biblisch bezeugter Grundwirklichkeiten: Es sind die Weisheit und der Heilige Geist, die im Herzen zusammenwirken, um dort das tötende Gesetz, Nomos wieder in die lebenschützende, -stiftende und -erhaltende Weisung, Tora zu verwandeln.
7. Tora als Weisheit
Zu Anfang unserer Überlegungen bemerkten wir, dass die biblische Grundgestalt der Weisheit zunächst einen komplementären Gegensatz bildet zur Gestalt der Tora. Weisheit beginnt biblisch als Spruchweisheit, als im Kunstspruch verdichtetes Erfahrungswissen. Erfahrung wird reflexiv verarbeitet als Hinweis zum guten, gelingenden Leben. Hier taucht also innerhalb der Bibel ein Horizont auf, der Israel mit den umgebenden Kulturen verbindet. Man hat diese Verbindung ja manchmal in einzelnen Texten irritiert zur Kenntnis genommen.
Zwei Formen von Ethik?
Aber eigentlich ist er angesichts der Grundstruktur von Weisheit als reflektiertes, verdichtetes Erfahrungswissen selbstverständlich. Und es ist doch grossartig: Weisheit repräsentiert innerhalb des biblischen Horizonts einen universalen anthropologischen Horizont, der zur Kontingenz des Erwählungshandelns Gottes an Israel offensichtlich nicht nur nicht in Gegensatz steht, sondern in das biblische Zeugnis, das diese Kontingenz zum Ausdruck bringt, positiv integriert werden kann. Demgegenüber repräsentiert Tora tatsächlich zunächst einmal den Ruf in die Lebensform, die Israel von den Völkern unterscheidet und ihm so den Weg vor Gott im Gottgedenken ermöglicht.
Aber stehen sich dann – bei Licht gesehen – nicht doch zwei Formen von Ethik einfach gegenüber? Und repräsentiert die Tora nicht dann letztlich zwar ein zur Lebensform synthetisiertes Ethos – aber zugleich eine Heteronomie, die diese Lebensform zur Gestalt der Entfremdung macht? Ist also das, was sich in den neuzeitlichen Gebotsmoralen unter dem Siegeszug des Nominalismus entwickelt, nicht doch schon in der Bibel selbst angelegt?
Wer so argumentiert, der ist vermutlich durch den hintergründigen Nominalismus blind geworden gegenüber den vollen biblischen Phänomenen von Tora und Weisheit, weil er ihre innerbiblische Dialektik übersieht. Diese Dialektik aber wird freigesetzt durch ihre – und das meinen wir im strengen Sinn ihrer Bezogenheit auf ihren personalen Urgrund – theologische Dynamik: Weisheit und Tora durchlaufen – ohne dabei ihre Grundgestalt zu verleugnen – einen innerbiblischen Klärungsprozess, der sie von Gott her aufeinander zubewegt. Am Ende dieses Prozesses können in Gott Tora, Weisheit und Wort miteinander identifiziert werden – ohne dass die Unterschiedenheit ihrer Gestalten revidiert wird. So entfalten sie ihre tatsächliche, tiefe Komplementarität, die nun aber nicht nur äusserlich konstatiert werden kann, sondern theologisch verstehbar geworden ist. Sehen wir zu!
Gottesfurcht als Anfang der Weisheit
Wer die biblische Weisheitsliteratur überblickt, der sieht, dass es nicht beim Urphänomen der Spruchweisheit geblieben ist. Wir müssen hier ungeheuer verkürzen, hoffen dabei aber trotzdem präzise zu bleiben: Die Möglichkeit der Spruchweisheit ruht in einer inneren Ordnung der Schöpfung. Sie artikuliert sich in ihrer Spitzengestalt in all den – oft hymnischen – Texten der biblischen Weisheitsliteratur, die der Weisheit entweder eine kontemplative Gegenwärtigkeit beim Schöpfungsakt oder sogar die Vermittlung dieses Aktes zuschreiben.
Aber anders als die kosmische Weisheit Ägyptens (Maat) in ihrer völligen Stabilität bleibt die Schöpfungsweisheit Israels immer in der souveränen und freien Hand des Schöpfers. Diese spezifische Differenz der Bezogenheit der Weisheit auf ihren personalen Grund im freien Gott ist von Anfang an da: „Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit.“ (Ps 111,10 u.ö.). Sie führt aber zunehmend – durch Krisen hindurch (Kohelet, Hiob) – zur Einsicht, dass menschliche Weisheit immer nur relativ und begrenzt ist. Um weise zu sein, braucht es nicht nur Erfahrung und Reflexion, sondern vor allem auch Demut.
Grenzen der menschlichen Weisheit
Weise ist nur der, der zugleich um die Grenzen menschlicher Weisheit weiss. Sonst gerät menschliche Weisheit zur Torheit. Letztlich ist nur Gott wirklich weise und alle Weisheit ist in ihm verborgen und menschlicher Bemühung gegenüber transzendent. Eine solche Sicht ist auch die Voraussetzung für die paulinischen Reflexionen in den ersten Kapiteln des ersten Korintherbriefs. Weisheit durchläuft biblisch also einen ungeheuren Bogen vom Beobachtung und Reflexion universal zugänglichen Erfahrungswissen, in dem der Mensch bei sich ist, zur radikal transzendenten alleinigen Weisheit Gottes, die er nur anbeten und deren Mitteilung allein im Heiligen Geist durch die Selbstoffenbarung Gottes möglich ist. Dabei zerbricht biblische Weisheit nicht, sondern ihre Urgestalt wird radikal relativiert hin auf ihren letzten Grund in Gott selbst. Was sich entfaltet, sind die Implikationen des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf in der Weisheit. Dabei jedoch bewegt sich, wie wir sehen, Weisheit auf den transzendenten Pol zu, der ursprünglich durch die Tora repräsentiert wird.
Ein zweiteiliges Rätsel
Genau umgekehrt – und wiederum vom Verhältnis Schöpfer / Geschöpf her – „verbreitert“ die Tora ihre Basis. Auch hier müssen wir wiederum sehr stark, aber hoffentlich präzise, verkürzen. Auf zwei Texte soll hingewiesen werden. Lange Zeit hielt man Ps 19 für eine Addition aus zwei Psalmen – einem Schöpfungs- und einem Torapsalm. Tatsächlich handelt es sich um einen einzigen Psalm in der Gestalt eines zweiteiligen Rätsels.
In diesem Rätsel werden die Theologie der Tora und die Theologie der Schöpfung aufeinander bezogen. Die unhörbare Stimme in der Wirklichkeit, die die Herrlichkeit Gottes kundtut, zeigt an (und dies ist, was die Lesenden finden sollen), dass die Tora – die ja die Tora des einen Gottes Israels ist, der zugleich auch den Kosmos erschaffen hat – schon in seiner Schöpfung als innere Ordnung und als Zeugnis eben seiner Herrlichkeit gegenwärtig ist.
Tora ordnet also schon Schöpfung. Sie ist keine gegenüber ihr absolut fremde Wirklichkeit, die sie entfremdet. Im Gegenteil: In ihrem Ruf kommt als Lebensform zu sich, was der Schöpfung eingeschrieben ist, aber durch die Sünde verdeckt war. Genau so wird Jesus in der Frage der Ehescheidung argumentieren: Er legt den zwischenzeitlich überdeckten Schöpfungssinn der Tora wieder frei. Das ist der Grund, wieso die Völker die Tora als Bildung und Weisheit wahrnehmen können: Sie entspricht zutiefst dem Menschen. Denn sie kommt aus dem Mund dessen, der im Wort diesen Menschen als sein Bild geschaffen hat. Wir zitieren diesen Text nur noch. Seine Deutung ist jetzt offenbar und damit ein erster Zielpunkt unserer Erörterung erreicht (Deut 4,5-8):
„Siehe, hiermit lehre ich euch, wie es mir der HERR, mein Gott, aufgetragen hat, Gesetze und Rechtsentscheide. Ihr sollt sie innerhalb des Landes halten, in das ihr hineinzieht, um es in Besitz zu nehmen. Ihr sollt sie bewahren und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie der HERR, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsentscheide, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“
Die Tora als Weisheit zeigt sich als zutiefst dem Menschen gemässe Lebensordnung Gottes.
8. Jesus in den halachischen Diskussionen seiner Zeit
Wir wollen mit einem doppelten Ausblick auf Jesus und die Unverzichtbarkeit der Frage nach der Tora enden, indem wir zunächst das fortsetzen, was wir gerade schon im Blick auf Jesu Stellungnahme zur Ehescheidung begonnen haben. Wir fragen: Wie steht Jesus in den halachischen Diskussionen seiner Zeit? Entscheidend zum Verständnis seiner Botschaft ist die Identifizierung des zentralen Kontroverspunktes mit den Pharisäern. Der aber besteht ganz nachdrücklich nicht in der Alternative: Tora – Ja oder Nein? Sondern in der Frage: Wie ist sie so zu tun, dass ihr ursprünglicher Sinn, wie er im Willen Gottes da ist, realisiert werden kann?
Gottesherrschaft muss das Herz erfassen
Das hoch achtenswerte Anliegen der Pharisäer ist der Schutz der Tora als Lebensordnung Israels. Dies suchen sie zu erreichen durch eine immer subtilere Gestaltung ihrer normativen Auslegung z.B. durch die Angleichung aller Torafrommen an die priesterlichen Lebensordnungen. Dies hält Jesus für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt. Jesus dagegen besteht darauf, dass die Frage nach der Tora nicht auf der normativen Ebene entschieden wird – deshalb führt der Begriff „Toraverschärfung“ in die Irre – sondern im Herzen als dem personalen Zentrum des Menschen. Die in ihm andrängende Gottesherrschaft muss das Herz des Menschen erfassen und verwandeln, um ihn torafähig zu machen. Die von dort aus gelebte Tora organisiert den gesamten normativen Bestand von der Gottes- und Nächstenliebe her.
Darin trifft sich Jesus wieder mit Teilen der pharisäischen Bewegung. Jesus schreibt damit eine Linie fort, die von der herzzentrierten Torameditation des Deuteronomiums über Jeremias und Ezechiel, die aus der Katastrophe Israels die Konsequenzen ziehen, die ihnen Gott verheissend erschiesst als Möglichkeit einer ins Herz gesenkten Tora die von der Ruach zur Tat ermächtigt wird, zu ihm selbst führt. In ihm ermöglicht Gott neue Communio mit sich durch die andrängende Gottesherrschaft, in dieser Communio wird der ursprüngliche Sinn der Tora als Einheit von Gottes- und Nächstenliebe in der Reformation der Herzen möglich. Dies aber ist wiederum nicht möglich, ohne dass Gott die Gabe des Geistes schenkt. Genau hier hätte die Frage nach der Dialektik von Fleisch und Gesetz ihren Ort, die Paulus so tief beschäftigt hat. Aber das würde unseren Rahmen endgültig sprengen.
9. Schluss: Die unverzichtbare Frage nach der Tora
Die pneumatische Transformation der Tora hat die Frage nach der Tora nicht überflüssig gemacht. Dabei geht es nicht um die Tora Israels für Christenmenschen aus den Völkern – wie schon gesagt wurde. Die pneumatische Verinnerlichung des Kerns der Tora als Einheit von Gottes- und Nächstenliebe hat die normative Dimension relativiert. Aber auch heute – gerade heute – müssen Christinnen und Christen nach verbindlichen, gemeinschaftlichen Lebensordnungen fragen, nach Lebensordnungen gegen die Gottvergessenheit, nach Lebensordnungen des Gottgedenkens und des Vertrauens, die die Hypertrophie unserer zuletzt tödlichen Versuche der blossen Selbsterhaltung unterbrechen und begrenzen. Denn nur Formen gelingenden Lebens sind plausibel – für uns selbst und für alle, denen wir unser Zeugnis schulden.
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.