Homilie von Kurt Kardinal Koch in der Eucharistiefeier bei der Wallfahrt der Initiative Neuer Anfang in der Kirche Santa Prassede in Rom am 5. Januar 2022.
„Der Mensch hat auf Erden keine Heimstatt, aber Flügel zum Himmel.“ In diesem Sprichwort aus Russland ist der innerste Kern christlicher Anthropologie verdichtet. Denn erkennen, wer der Mensch auf Erden ist, kann nur wer Gott im Himmel kennen lernt. Und das irdische Leben erhält seinen tiefsten Sinn nur im Blick auf das ewige Leben bei Gott, das das eigentliche und wahre Leben ist. Darin besteht die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens, der unser irdisches Leben dadurch orientiert, dass er unseren Blick weitet auf die Zukunft unserer endgültigen Vollendung bei Gott: Dank der Erlösung in Christus haben wir bereits jetzt auf dieser Erde unsere wahre Heimat „im Himmel“, von woher wir Christus als „Herrn und Retter“ erwarten (Phil 3, 20). Wir haben in dieser Welt „keine Stadt, die bestehen bleibt“, sondern wir „suchen die künftige“ (Hebr 13, 14). Christsein bedeutet, das Zelt im Himmel aufgeschlagen zu haben. Christen bekennen deshalb, „dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind“ (Hebr 11, 13), die unterwegs sind auf der irdischen Wanderschaft zur kommenden Heimat.
Wallfahrten des Glaubens
Diese Aussicht auf das ewige Leben haben die biblischen und frühchristlichen Menschen so konsequent gelebt, dass sich aus ihrem glaubenden Selbstverständnis heraus auch die Bezeichnung für ihre Gemeinschaftsform entwickelt hat, nämlich Paroikia. Ob uns heutigen Christen wohl noch bewusst ist, dass sich genau davon unser deutsches Wort „Pfarrei“ herleitet? Wenn wir diese Bezeichnung ernst nehmen, dann ist eine Pfarrei die Gemeinschaft von Menschen, die sich in dieser Welt nie zuhause fühlen können, die vielmehr auf der irdischen Wanderschaft sind – unterwegs zu ihrer wahren Heimat im Himmel. Diese Sicht hat das Zweite Vatikanische Konzil aufgenommen, wenn es die Kirche als Volk Gottes bezeichnet, das auf der Erde pilgert und sich auf der irdischen Wanderschaft aufhält.
Diese kleine Symphonie des christlichen Glaubensbewusstseins bringen wir zum Ausdruck mit dem alten und zugleich ewig-jungen Brauch einer Wallfahrt. Denn eine Wallfahrt ist nicht einfach ein Sonntagsspaziergang und schon gar nicht eine Fahrt ins Blaue. Sie hat vielmehr ein konkretes Ziel vor Augen. Dieses Ziel ist zunächst das Heiligtum, zu dem wir unterwegs sind, um bei den Gräbern der Apostel zu beten und Gott zu loben. In dieser glaubenden Grundhaltung wird der Besuch eines Heiligtums aber auch zu einer Vorerfahrung jenes endgültigen Heiligtums, das wir im christlichen Glauben als „Himmel“ bezeichnen. Eine Wallfahrt macht uns neu bewusst, dass wir auf dieser Erde Pilger sind und dass das Ziel unserer irdischen Pilgerschaft die ewige Heimat im Himmel ist, nach der wir uns sehnen und auf die wir ausgespannt sind wie eine Sehne.
Die Priorität Gottes
Von solchen Wallfahrtsbewegungen hören wir vor allem in der Weihnachtszeit. Denken wir zurück an die Hirten in der Heiligen Nacht, die sich aufmachen und nach Bethlehem gehen, um das „Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden liess“ (Lk 2, 15b). Von den Hirten wird uns im Weihnachtsevangelium berichtet, dass sie nach Bethlehem „geeilt“ sind. Was ihnen von den Engeln verkündet worden ist, erscheint ihnen so wichtig, dass sie sich sogleich auf den Weg machen. Damit bezeugen sie, dass in ihrem Leben Gott die höchste Priorität hat, die deshalb keinen Aufschub verträgt, sondern Eile verdient. Diese Priorität Gottes wollen die Hirten im Weihnachtsevangelium auch uns Christen heute lehren, die wir oft genug von anderen Prioritäten in unserem alltäglichen Leben bedrängt werden und dabei Gott entweder auf die Seite, gleichsam auf die Ersatzbank, legen oder ihn an die letzte Stelle setzen. Demgegenüber erinnern uns die Hirten daran, dass es in unserem Leben nichts Wichtigeres geben kann als Gott, der uns im Kind in der Krippe sein wahres Gesicht gezeigt hat.
Was in der Heiligen Nacht die Hirten getan haben, das werden morgen am Hochfest der Epiphanie die Sterndeuter aus dem Osten vollziehen. Auch sie machen sich auf den Weg aus dem Morgenland nach Bethlehem. Auch sie suchen dabei nicht ihren eigenen Stern und folgen nicht ihm, sondern dem Stern des „neugeborenen Königs der Juden“. Ihn finden sie in der Krippe und beten ihn an, um anschliessend „auf einem anderen Weg heim in ihr Land“ (Mt 2, 12) zu ziehen. Denn wer im Kind in der Krippe die Wahrheit und den Sinn seines Lebens gefunden hat, der wird zur Umkehr geführt und der geht deshalb anders von dannen, als er gekommen ist. So werden die Sterndeuter aus dem Morgenland selbst zu lebendigen Sternen, die auch uns Christen heute den Weg zum Geheimnis der Weihnacht weisen.
Synodalität als geistliches Geschehen
Es ist wichtig, die Hirten und die Sterndeuter stets vor unseren inneren Augen zu behalten. Denn sie zeigen uns, was im christlichen Sinn eine Synode ist. Dieses Wort ist zusammengesetzt aus den griechischen Begriffen „hodos“ (= Weg) und „syn“ (= mit) und bringt damit zum Ausdruck, dass Menschen einen Weg gemeinsam mit anderen Menschen zurücklegen. Im christlichen Glauben bezeichnet das Wort Synode den gemeinsamen Weg der Menschen, die an Jesus Christus glauben, der sich selbst als „Weg“ offenbart und genannt hat, genauer als „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6). Der christliche Glaube wurde deshalb ursprünglich als „Weg“ und die Christen, die Christus als „Weg“ nachfolgen, wurden als „Anhänger des Weges“ (Apg 9, 2) bezeichnet.
Der bedeutende Kirchenvater Johannes Chrysostomus konnte von daher sagen, Kirche sei ein Name, „der für einen gemeinsamen Weg steht“, und Kirche und Synode seien folglich „Synonyme“. Denn Kirche ist zutiefst eine Weggemeinschaft des Glaubens. Von daher können wir auch verstehen, dass sich die werdende Kirche den Namen „ekklesia“ gegeben hat. In der profan-griechischen Sprache bezeichnete dieses Wort die Volksversammlung einer politischen Gemeinschaft, in der Sprache des Glaubens aber die versammelte Gemeinschaft der Glaubenden. Diese unterscheidet sich von der ersteren vor allem dadurch, dass in der griechischen Polis die Männer zusammengekommen sind, um wichtige Beschlüsse zu fassen, während die Glaubensgemeinschaft zusammenkommt, nicht um selbst zu beschliessen, sondern um intensiv zu hören und zu vernehmen, was Gott beschlossen hat, und dazu seine Zustimmung zu geben und es ins alltägliche Leben zu übersetzen.
In diesem Verständnis ist es auch begründet, dass das Wort für Kirche auf die zur Eucharistie zusammengerufene Versammlung der Glaubenden hindeutet. Denn das tiefste Wesen der Kirche als Synode ist die heilige Eucharistie. Kirche als Synode lebt vor allem dort, wo sich Christen zur Feier der Eucharistie versammeln, und sie ist deshalb ein elementar geistliches Geschehen. Von daher verstehen wir, weshalb Papst Franziskus beinahe refrainartig wiederholt, dass eine Synode etwas ganz anderes als ein Parlament ist. Und von daher wird ebenso einsichtig, dass nur ein solches synodales Geschehen einer wahren und gewiss notwendigen Erneuerung der Kirche dient. Wie Erneuerung aus dem Glauben heraus geschehen kann, dazu finden wir im heutigen Evangelium einige wichtige Wegweisungen in den beiden Gestalten, von denen berichtet wird.
Erneuerung der Kirche im Licht des Glaubens
Ein erster Hinweis wird uns in der Gestalt des Philippus gegeben, der wie die beiden Brüder Petrus und Andreas aus Betsaida stammte und der uns in den Evangelien bei wichtigen Begebenheiten immer wieder begegnet, beispielsweise bei der wunderbaren Speisung der Volksmenge am See von Tiberias, wo Jesus ihm die Frage stellt, wo man Brot kaufen könne, um die Menschen zu sättigen (Joh 6, 5), oder beim Letzten Abendmahl, wo Philippus Jesus bittet: „Zeig uns den Vater“ und von Jesus die schöne Antwort erhält: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14, 8-9). Philippus gehörte offenbar zum engeren Kreis Jesu. Von seiner Berufung hören wir im heutigen Evangelium: Als Jesus nach Galiläa aufbrechen wollte, begegnete er Philippus und ging auf ihn zu mit der klaren Aufforderung: „Folge mir nach!“
Damit wird auch uns allen ins Stammbuch geschrieben, dass jede Berufung in der Kirche von Jesus Christus ausgeht und die Initiative bei ihm liegt. Alles Entscheidende in der Kirche geschieht von ihm her. Denn es ist seine Kirche, und nur wenn wir dies erkennen und anerkennen, wird sie auch unsere Kirche. Wir dürfen sie nicht nach unseren eigenen Ideen reformieren. Wahre Erneuerung der Kirche geschieht nur im Hören auf den Willen des Herrn, wie es der Seher Johannes in seinen Sendschreiben an die sieben Gemeinden in Kleinasien jeweils ausspricht: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2, 11).
Mit Jesus leben
Weiter ist zu bedenken, wozu die Apostel berufen werden. Der Evangelist Markus sagt es sehr einfach und präzis: „Er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden sollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben“ (3, 14-15). Die erste und grundlegende Berufung zielt nicht auf die Sendung, sondern auf das Zusammenleben mit Jesus. Er beruft Apostel, weil er sie „bei sich haben“ wollte, damit sie das Leben mit ihm teilen und im Leben mit ihm erkennen, wer er wirklich ist. Das apostolische Leben mit Jesus geht der apostolischen Sendung voraus – auch heute. Denn eine Sendung in der Kirche glaubwürdig wahrnehmen kann nur, wer selbst in persönlicher Freundschaft mit Christus lebt. Und eine wahre Reform der Kirche steht und fällt damit, ob sie dazu beiträgt, den Glauben an Christus zu erneuern und die Freundschaft mit ihm zu vertiefen.
Mission ist Konsequenz des Glaubens
Von daher ergibt sich auch die zweite Wegweisung im heutigen Evangelium. Kaum hat Jesus Philippus in die Nachfolge gerufen, geht der Apostel auf Natanael zu und bekennt, was er erkannt hat: „Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs.“ In dieser Weise auf andere Menschen zugehen und sie ebenfalls in die Nachfolge Jesu einladen vermag nur, wer selbst im Glauben lebt und ihn immer wieder erneuert. Auch dieses missionarische Zugehen auf andere Menschen gehört zum christlichen Reformprogramm der Kirche. Denn die Mission ist in erster Linie nicht eine moralische Pflicht, sondern die elementare Konsequenz des Glaubens: Wer Jesus als den Christus Gottes erkannt hat und diesen Glauben als ein kostbares Geschenk erfährt, der kann dieses Geschenk nicht selbstzufrieden für sich behalten, sondern wird es an andere Menschen weitergeben und sie zum Glauben einladen. Solche Evangelisierung ist ein wesentliches Element bei der Erneuerung der Kirche, wie es Papst Franziskus in seinem „Schreiben an das pilgernde Volk in Deutschland“ hervorgehoben hat.
Die Begegnung zwischen Philippus und Natanael führt uns dabei auch vor Augen, dass man bei der evangelisatorischen Tätigkeit nicht einfach mit Erfolg rechnen kann. Denn Natanael begegnet dem Glaubenszeugnis des Philippus mit einem schwerwiegenden Vorurteil: „Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?“ Diese schroffe Weise der Ablehnung dürfte auch in unserer Erfahrung nicht fremd sein. Doch Philippus antwortet sehr kurz und prägnant „Komm und sieh“. Es ist übrigens dieselbe Antwort, die Jesus zwei Jüngern des Johannes des Täufers gegeben hat, die gekommen sind, um ihn zu fragen, wo er wohne (Joh 1, 38-39).
«Komm und sieh»
Mit der Antwort „kommt und seht“ wird zum Ausdruck gebracht, dass Menschen auch heute nur aufgrund einer lebendigen persönlichen Erfahrung Jesu Christi wirklich zum Glauben kommen können. Im Glauben sind wir gewiss auf das Zeugnis von anderen Glaubenden angewiesen, insofern der Glaube durch menschliche Zeugen auf uns zukommt. Dann jedoch müssen wir es selbst sein, die sich persönlich in eine tiefe Beziehung mit Jesus Christus hineinnehmen lassen. Und je mehr Christen dies tun, desto mehr wird die Kirche erneuert. Ihre Reform beginnt mit der Umkehr jedes einzelnen Glaubenden zu Jesus Christus als unserem „Weg“.
Kirchenkrise als Schwund von Glaubenswissen
Damit stossen wir auf den innersten Kern der heute notwendigen Reform der Kirche. Die heute viel besprochene Kirchenkrise ist im Tiefsten eine Glaubenskrise, die sich auch in einem rapiden voranschreitenden Schwund an Glaubenswissen anzeigt. Ihre Überwindung kann deshalb nur darin liegen, dass wir uns in die Wahrheit unseres Glaubens und damit auch in die Schönheit der christlichen Anthropologie vertiefen, sie leben und so verkünden, dass sie auch anderen Menschen ins Herz geht. Dazu müssen wir uns selbst auf den Weg machen, wie Sie es mit Ihrer Wallfahrt zu den Apostelgräbern tun.
Bitten wir den Herrn, dass er Ihnen hier in Rom neue Freude am Glauben und den Mut schenkt, auf die Menschen zuzugehen mit der frohen Zumutung: „Komm und sieh!“ Nur so können wir die Menschen einladen, sich in die grosse Prozession des Glaubens einzureihen, die die Hirten und die Sterndeuter aus dem Morgenland in Bethlehem begonnen haben und die fortdauern wird bis wir alle ins Heiligtum des ewigen Lebens eintreten werden. Amen.
Von Kurt Kardinal Koch, 5. Januar 2022, Predigt Kirche Santa Passede, Rom
Lesung: 1 Joh 3, 11-21
Evangelium: Joh 1, 43-51
1. J. Chrysostomos, Explicatio in Ps 149, in: PG 55, 493.